Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Vorwort    (S. III)

Dieses Buch versucht über den herrschenden Psychologismus und Naturalismus der Religionswissenschaft hinauszuführen durch theoretische Nutzbarmachung jener Tatsachen, die unter dem Namen der para- oder (besser) metapsychischen sich gegenwärtig die Anerkennung unserer akademischen Wissenschaft erkämpfen.

Über ihre Verfehmung und Unterdrückung innerhalb der deutschen Gelehrtenwelt während der letzten Jahrzehnte will ich hier kein Wort verlieren: die Tage dieses wenig rühmlichen Verhaltens sind augenscheinlich gezählt.

Jedenfalls ist die Stellung der Metapsychologie in Deutschland schon heute sehr günstig verändert gegenüber der Zeit, da ich - in der uns hierin fortschrittlich überlegenen Umgebung englischer Forschung - die Arbeit an diesem Buche begann; ja selbst gegenüber der Zeit, da ich seine erste Niederschrift abschloß.

Dies war im Jahre 1914: mit der gegenwärtigen 'mystisch-okkultistischen Welle' in Deutschland steht dieses Buch demnach in keinerlei ursächlichem Zusammenhang.

Ich zweifle nicht, daß auch heute noch diese Nutzbarmachung der metapsychischen Tatsachen für die Deutung religiösen Erlebens nicht nur Bedenken, sondern auch heftigem Widerstande begegnen wird - selbst bei denen, die jene Tatsachen an sich nicht leugnen mögen. Zur ausführlichen Verteidigung meines Unternehmens wird es an der Zeit sein, wenn solcher Widerstand sich im einzelnen äußert.

Bis dahin mag der Versuch für sich selber werben: bedeutet doch entschlossene positive Arbeit jederzeit mehr als abstrakte methodologische Erörterung, die als solche vor Irrtümern weder der Tatsachenfeststellung noch der Schlußfolgerung aus Tatsachen bewahren kann.

Nur so viel sei zur Vermeidung gröblichen Mißverstehens schon hier vorweg gesagt: daß die Einführung der Metapsychik in die Religionspsychologie natürlich nicht ihre Einführung in die Religion bedeuten soll. Mit Recht mag man die Zeiten, in denen 'Zauberei' und jede Art des Geheim- und Geisterwesens überhandgenommen, als Zeiten religiösen Niedergangs betrachten: der Mensch von starkem religiösem Fluge bedarf jener Krücken sicherlich nicht.

Wohl aber mag ihrer das wissenschaftliche Denken bedürfen, um den Kreis der Meinungen zu durchbrechen, die ein Verständnis des religiösen Erlebens behindern. Unsere Wissenschaft vom Menschen befindet sich - davon bin ich überzeugt - trotz aller schon im Winzigsten versandenden Einzelarbeit doch 


Vorwort    (S. IV) 

noch in ihren ersten Anfängen; nichts aber wird ihren Fortschritt binnen kurzem so epochal beeinflussen wie eben die Anerkennung und theoretische Verarbeitung der metapsychischen Tatsachen. In der Inangriffnahme dieser theoretischen Verarbeitung, in ihrer Fortführung über frühere, mich nicht befriedigende Versuche hinaus zu einer Durchlichtung der neuartigen Rätsel vermittels bestimmter Grundbegriffe, unter deren Schein sie in eine gewisse natürliche Ordnung fallen - habe ich eine der wichtigsten Aufgaben meiner Arbeit gesucht.

Die Deutung des räumlichen und zeitlichen Hellsehens durch die Annahme übergreifender psychischer (oder quasi-psychischer) Zusammenhänge; die Theorie der fluktuierenden Ich-Synthesen innerhalb dieses Gesamtpsychischen und ihres Beharrungsvermögens auf der Grundlage von etwas, was die Möglichkeit von 'Phantomen' darbietet; in Verbindung damit die vielgestaltige Darlegung des Tatbestandes der 'Exkursion',

d. i. der Hinausversetzung des Ich, selbst (so seltsam es klingen mag) eines abgespaltenen Teil-Ich - diese Begriffsmittel, die der Leser im Mittelteil des Buches [1] dargestellt finden wird, liefern meines Erachtens nicht nur die Mindestvoraussetzungen für das Verständnis des metapsychologisch Beobachteten, sondern verheißen auch mancherlei Aufklärung für die Probleme der normalen, der pathologischen und der angewandten Psychologie.

Für die voraussetzungslose Religionspsychologie vollends ist mit der Einführung dieser Begriffe eine entscheidende Erweiterung des Gesichtsfeldes verbunden, indem für zahlreiche Erfahrungen des mystischen Lebens, die ohne sie rettungslos rein pathologischen Deutungen verfallen schienen, die Möglichkeit einer Erklärung aus induktiv gewonnenen übersinnlichen Voraussetzungen auftaucht, - wie der Schlußteil des Buches glaubhaft zu machen strebt.

Die jüngste Zeit hat mancherlei Analysen des religiösen Erlebens geliefert, die ohne jede Verwendung metapsychischer Forschung mehr oder minder offen zu transzendenten Ergebnissen heranzuführen suchen. Trotzdem dürfte es keinen in naturalistischer Wissenschaft Verwurzelten geben, der sich nicht zutraute, jene Ergebnisse durch irgendeine psychologistische Deutung zu beseitigen.

Die zahlreichen Leser von W. James' Gifford-Vorlesungen zB. werden sich entsinnen, wie dieser feinfühlige Feuilletonist der Religionspsychologie die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der religiösen Erfahrung immer wieder hinausschiebt, um sie schließlich, im Abschnitt über die mystischen 'Erkenntnis'-Erlebnisse, in einer Form zu erledigen, die neben der durchaus zweideutigen Anerkennung 'unterschwelliger Erweiterungen' des Ich eigentlich nur den A\usdruck persönlicher Glaubensneigungen enthält und somit dem gewißheitlüsternen Leser eine schwere Enttäuschung bereiten muß. James begnügt sich mit einer flüchtigen Erwähnung der metapsychischen Forschung (und zwar

    [1] Kap. XXXVII - LXII und LXXV.


Vorwort    (S. V)  

bloß ihrer Bemühungen um das 'spiritistische' Problem, deren günstige Ergebnisse 'nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben' seien).

Meiner Ansicht nach legt er damit die einzige Tatsachenwaffe aus der Hand, die uns instandsetzen könnte, den Vertreter des Naturalismus schließlich zur Aufgabe seines Standpunktes zu zwingen, und damit auch zur Freigabe des Weges für Überlegungen, die zwar nicht mit der Sicherheit von Erfahrungswissenschaft auftreten können, aber doch auf dem neugewonnenen Standpunkt an Wahrscheinlichkeit und Natürlichkeit gewinnen. -

Soviel einstweilen über die Ziele des Buches. Daß es bei ihrer Verfolgung nur wenig über Anregungen und Grundlinien hinausgelangt; daß es auch soviel nur um den Preis beträchtlicher Schematisierung erreicht; daß es an vielen Stellen mehr Fragen aufregt als löst - das alles glaube ich kaum betonen zu müssen angesichts der heutigen Lage der behandelten Probleme.

Auch die Metapsychologie steht ja in ihren allerersten Anfängen; die Zeit der sicheren Schritte und bestimmten Ausdrücke liegt noch ferne vor uns, und ich habe mir und dem Leser keine größere Gewißheit vorzutäuschen gesucht, als wir in der Tat besitzen.

Hierdurch bestimmt sich nicht nur der vielfach hypothetische Ausdruck der Darstellung, sondern auch die gesamte Anlage des Buches: in Form einer stetig fortlaufenden Kette von Überlegungen, an denen" der zunächst skeptische Leser von 'modern-wissenschaftlicher' Denkart aufgefordert wird, sich zu beteiligen.

Dieser Weg führt, nach einer kurzen Beschreibung der wichtigsten Arten mystisch-religiösen Erlebens, durch ihre möglichen naturalistischen Deutungen hindurch allmählich zu Tatsachen des religiösen Lebens selbst, die jenseits solcher Deutungen liegen; und in Form einer tastenden Theorie dieser Tatsachen werden sodann jene Grundbegriffe erarbeitet, in denen die Überwindung oder richtiger: Ergänzung der naturalistischen Deutungen der herkömmlichen Religionspsychologie versucht werden kann.

Dieser Aufbau des Buches bringt es freilich mit sich, daß es nur bei zusammenhängender Lesung richtig verstanden werden kann, und das Maß von Anspannung und Geduld, das damit dem Leser zugemutet wird, mag kein ganz geringes sein; selbst vom Fachmann, der natürlich vieles Einzelne zu überschlagen berechtigt ist, muß ich mindestens ein fortlaufendes Verfolgen des in sich geschlossenen' Argumentes' fordern.

Aber sind es die schlechtesten Bücher, die auf die wertvollsten Kräfte und Gewohnheiten von Lesern ihre Hoffnung setzen müssen? Jedenfalls habe ich um des Nichtfachmanns willen nicht nur fremde Kunstausdrücke möglichst zu vermeiden gesucht, sondern auch beinahe jeden Denkschritt mit Anführungen von Beobachtungen versehen, die ihm eine möglichst lebendige Anschauung der behandelten Tatsachen sichern sollen.

Dabei habe ich freilich schon aus Rücksicht auf den Raum sehr starke Beschränkung üben müssen; wie denn überhaupt die ständige Beobachtung der gebotenen Kürze, bei der großen Ausdehnung des durchlaufenen Fragengebiets, zu


Vorwort (S. VI)  

den beklemmendsten Schwierigkeiten meiner Arbeit gehört hat. Es ist kaum ein Kapitel in diesem Buche, das sich nicht leicht zu einem Buche hätte erweitern lassen, und ich kann nur hoffen, daß dieser unvermeidliche Ausfall an ausführlicher Genauigkeit durch die Vorteile umfassender Zusammenschau aufgewogen werde.

Daß ich im übrigen auch in wesentlichen Aufstellungen des Buches der Anregung von Vorgängern und der Zeit, in der ich lebe, viel und vielleicht mehr verdanke, als mir bewußt ist, halte ich für eine Selbstverständlichkeit, die auszusprechen mir nicht bloß die herkömmliche Bescheidenheit der Vorreden gebietet.

Soweit mein Bewußtsein hiervon reicht, findet es sich in den, Hinweisen der Fußnoten angedeutet, die über die nötigen Belege hinaus dem ernsthaft Interessierten auch die Wege zu weiterem Eindringen in das Schrifttum zu weisen suchen. Gewisse Lücken in seiner Ausnützung werden dem Fachmanne nicht entgehen j sie sind in Schwierigkeiten begründet, über die der Verfasser, in diesen letzten schweren Zeiten, keine Macht besaß.

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