Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Einleitung

Kap I.  Einleitung.    (S. 1) 

Was ein diesseitiger Mensch sei, darüber wird auch ohne weitläufige Beschreibung und Zergliederung leidliche Klarheit herrschen. Diesseitig ist der Mensch, dessen Lebenstriebe - seien sie ihm bewußt oder nicht - auf Wachstum und Genuß, auf Erfolg im Schaffen und Erwerb, auf Sieg in jeder Art von Wettstreit innerhalb der Sinnenwelt und ihrer unmittelbaren seelischen Grenzgebiete gerichtet sind.

Er hat seine Geistigkeit; er hat seine Sittlichkeit; er hat auch seine Magie und Religion. Aber diese alle dienen erstlich und letztlich seinem Drang, in der Sinnenwelt unter Seinesgleichen gesund zu gedeihen und zu diesem Zwecke die Welt auch geistig zu beherrschen und selbst geglaubte unsichtbare Mächte sich dienstbar zu machen.

Seine Kunst erhöht, verfeinert, klärt und verklärt sein irdisches Lebensgefühl; sein soziales und politisches Wesen erweitert sein Ich zu wachsenden Kreisen der Gemeinschaft, zuletzt zum Staate des einheitlichen Machtwillens. Aber auch soweit er in diesen Gemeinschaften bis zum Selbstopfer fortschreitet, gerät er nie in Widerspruch mit dem Wesen der Triebe und Ziele, die von Anfang an sein engstes Ich beherrschten.

Ja selbst soweit Vorstellungen einer jenseitigen Welt in ihm mächtig werden und er um jener Welt willen sogar irdische Opfer bringt, bejaht und erstrebt er damit immer nur größere Glut oder längere Dauer erdenhaften Glückes.[1]

Nun denn: der jenseitige Mensch soll uns ein Sammelbegriff für alle Gruppen und Typen von Menschen sein, die von dem eben bezeichneten abweichen. Ich sage: ein Sammelbegriff; denn es ist meine Meinung, daß nicht alle Jenseitigen Einer Art sind; so viele gemeinsame Eigenschaften in ihnen auch zu finden sein mögen, wenn jene erste negative Begriffsbestimmung in eine positive übergeführt wird.

In formaler Hinsicht ist ihnen allen doch wohl gemeinsam, daß das Verhältnis der leidlichen 'Deckung' von Innenleben und äußerer Umgebung und Betätigung, welches den Diesseitigen auszeichnet, bei ihnen durchbrochen ist. Es finden Binnenbildungen des seelischen

[In den Fußnoten bedeuten, soweit nicht anders angegeben, römische Ziffern stets Bände; arabische, denen kein Komma vorangeht, Seiten; WW = Werke; T., p. = Teil; B., 1. = Buch; K., c., ch. = Kapitel; St. = Stück. Ein Verzeichnis der Titelabkürzungen findet man am Ende des Werks.]

[1] Beispiele: Söderblom 25. 35.37; G. Runze, Psychol.d. Unsterblichkeitsgl. (Berl. x894) 137. Umgekehrt: Beklagen d. Bewohner des geglaubten Jens.: Homer, Od. XI 488ff.; iran.: Söderblom xof.; hebr.: W. Baudissin in Theol. Lit.-Ztg. x899 x05; germ.: Edda, Hawamal ZI. 68f.
Mattiesen, Der jenseitige Mensch   1


Kap I.  Einleitung.    (S. 2) 

Lebens statt, deren Betonung die des äußeren Lebens außerordentlich überwiegt; Träume, Sehnsüchte, Tiefenstrebungen erwachen, die von der Welt der Sinne und ihrem in sich selber ruhenden und befriedigenden Sinn hinwegführen.

In zahllosen Fällen entspricht diese Abkehr von der Welt augenscheinlich und eindeutig einer Unterwertigkeit derjenigen Kräfte, auf denen die normale Anpassung ans Leben beruht. Das Leiden an ihm überwiegt so sehr, daß es nicht mehr, als unvermeidliche Beigabe des Lebens - oder gar als Form der Lebenssteigerung - durch den Schwung und Mut der Gesundheit überwunden werden kann.

Dem Druck der Umgebung, unter dem alle Wesen stehen, entsprechen nicht mehr genügende Spannkräfte des Organismus, und die Lage verschlimmert sich durch den inneren Druck, den seine einzelnen Betätigungen gegeneinander ausüben.

Nach allen Richtungen hin ist das einheitliche seelische Kräftespiel herabgemindert oder verschroben: Klarheit, Schärfe, Reichtum, Beweglichkeit des Vorstellens, Erinnerns und Denkens; Lebhaftigkeit, Lebensdienlichkeit, Ausgeglichenheit und überwiegende Freudigkeit des Fühlens; Spannung, Ausdauer, Gleich- maß des Wollens - alle solche Voraussetzungen des gesund anpassungsfähigen Lebens sind nicht mehr in genügendem Maße erfüllt. [1]

Es wäre nun keineswegs im Sinne unseres Sprachgebrauches, jedes Opfer des so entstehenden seelischen Druckes als Jenseitigen zu bezeichnen. Der Kranke, der sich im Verlangen nach Gesundheit, der Mensch des geringen Kalibers, der sich in Sehnsucht nach Kraft und Größe verzehrt; der Schwächling, der die kleine Münze der Weltlichkeit spielend durch die Finger gleiten läßt; der Ästhet, der - außerstande zu leben - doch die bunten Lichter des Lebens liebend betrachtet, - sie alle entscheiden sich eben durch ihr Sehnen und Spielen für das Diesseits, auch wenn sie zeitlebens nur als Schmarotzer oder als Ausgebeutete im Troß des Lebens sich zu erhalten vermögen.

Erst wenn die innerliche Bejahung des verlorenen Diesseits aufhört und die Vorstellung einer andern Welt auf Stimmung, Wunsch und innere Lebenshaltung entsprechend einzuwirken beginnt, können wir eine aus Unterwertigkeit entspringende Jenseitigkeit feststellen. Die allbekannte Kümmerlichkeit, wenn nicht Krankhaftigkeit Zahlloser innerhalb der großen Gefolgschaft der Religionen [2] beweist über allen Zweifel, daß hier ein wirklicher Zusammenhang ins Auge gefaßt wird. Unterwertigkeit - Leiden am Leben - Pessimismus- Religion, in einem Sinn zum mindesten bilden sie eine natürliche Kette.

Man betrachte beispielsweise die großen Fluchtbewegungen, welche in Zeiten verstärkten äußeren Drucks gewaltige Massen von Opfern der Lebensangst

[1] Zur Analyse d. seelischen Unterwertigkeit vgl. zB. Kräpelin, Üb. psych. Schwäche, APN XIII 422ff., lallet, Obs. 264-397; Nietzsche, WW (kl. 8) XV 7Iff.; A. Homeffer, Das klass. Ideal (Leipzig 1906); A. Adler, Stud. üb. Minderwertigkeit d. Organe (Wien 1907).
[2] Von Religiösen selbst betont zB. in Pascals berühmtem Wort (Pensees, ed. Lef... [Par. 1853] 34); von F. W. Robertson, in St. A. Brooke, Lüe and letters of the Rev. F. W. R. I 29: religious people.. are generally - at least, the so-called religious - the weakest of makind.


Kap I.  Einleitung.    (S. 3) 

in den Hafen religiöser Vorstellungen und vollendeter WeItabkehr hineinschwemmten : wie etwa die geradezu als Volkskrankheiten bezeichneten Erscheinungen des Mittelalters im Zeichen der großen Pest und steigenden Satansfurcht. [1] War doch Angst von jeher ein wesentlicher Bestandteil der Religion der Massen, [2] und hat doch unter Druckgeneigten - und schon darum sich 'sündhaft' Fühlenden [3] - die angsterregende und gleichzeitig hoffnungweckende Vorstellung eines nahen WeItendes von jeher größte Volkstümlichkeit besessen.

Dem Ausgleich einer solchen 'religiös' gewendeten Unterwertigkeit dienen mannigfache Mittel, deren Eigenart durchweg die negative Entstehung jenes Wesens bestätigt. Ist doch die Therapie ein Spiegel der Pathologie. Die wichtigsten jener Mittel bestehen in einer Einschränkung und Vereinfachung der Umwelt in jedem Betracht, und der Abgabe des eigenen Willens an irgendweIche anerkannte Mächte.

'Unterwerfung des Denkens unter Autoritäten; Selbstbeschränkung auf geringe Mengen herangelassener Wahrnehmungen oder zugestandener Begriffe, an die zu glauben man sich überdies als Verdienst anrechnet; Selbsteinordnung in eine Umwelt Gleichdenkender, Nichtfragender, aber auch Gleichgestimmter und Wohlwollender, mithin behaglich Angriffsloser; unbedingte Unterwerfung des Willens unter den eines Vorgesetzten oder unter eine Regel, oder unter den Willen eines vorgestellten Gottes, der diesen seinen Willen durch alles zu erkennen gibt, was eben geschieht; [4]

Unterwerfung also selbst unter den unverstandenen Weltlauf; Preisgabe jeder Art von Auflehnung; Preisgabe oder äußerste Einschränkung auch allen Besitzes, mithin der Anspannung in Erwerb und Behauptung; Ablehnung also aller Sorge, Ungewißheit und Gefahr - dies sind die quietistischen Maßnahmen, zu deren Verwirklichung Viele das Kloster oder die Einsiedelei aufsuchen, die aber Zahllose auch in mannigfachen anderen Formen des Winkel- und Schattendaseins durchzuführen wissen. [5]

Diese Maßnahmen werden bedeutsam ergänzt durch gewisse Kunstgriffe vorstellungsmäßiger Illusionierung, welche man allgemein als eine 'Vergoldung des Lebensdrucks' bezeichnen kann: der Unterwertige gibt dem Leiden einen Sinn (erhöht also dessen seelische Ertragbarkeit), indem er es als Gabe Gottes deutet, deren willige Übernahme, selbst ohne jedes Begreifen im Einzelnen, ein Verdienst darstelle; ja geradezu als eine Auszeichnung durch Gott, der sich am willigen und unschuldigen Leiden seiner Kinder

[1] Vgl. ]. F. K. Hecker, Die großen Volkskrankheiten des Mittelalters, her. v. A. Hirsch (Berl. 1865); Stoll 371ff.
[2] Vgl. W. D. Wallis, The element of fear in religion, A]RP V (1912) 257ff.
[3] So Nietzsche, WW XV 92.
[4] Vgl. hierzu Mme de Chantal, bei Barthelemy 11 68; M. du Guet bei Leclerc 1405; Pascal aaO. 107.
[5] Vgl. hierzu Th. Kappstein in ZRP III (1909) 181ff.; Moll, Holländ. Kirchengesch. 11 246ff. 253ff. Glück der Willensabgabe: Upham 157. 223f. 275. 378; bei Losziehen, Däumeln u. dgl.: A. Ritschl, .Gesch. des Pietismus (Bonn 1880-86) III 393; Vergleich der Willensabgabe mit müdem Zubettgehen u. ä,.: H. W. S., The Christians Secret of a happy Life (Lond. 1906,72. Tausend!) 42. Ähnlich a Kempis, De Imit. Chr. I. III c. 15 § 4. Die Belege ließen sich verhundertfachen.


Kap I.  Einleitung.    (S. 4)   

erfreue, - hat er doch selber unschuldig gelitten -; oder aber im Gegenteil als eine Strafe für eigene Sündhaftigkeit, mithin aber auch als Entsündigung, die als solche bessere Aussichten auf ein glückliches Leben im künftigen Jenseits eröffne.

Die Vorstellung dieses glücklichen Jenseits wirft damit nicht nur ihren vergoldenden Schein auf das diesseitige Leid, sondern lenkt auch von der quälenden Beschäftigung mit diesem ab; ja sie ermöglicht Manchem zudem die beglückend ergänzende Vorstellung einer Rache an denen, die ihm hinieden Leid zufügten. [1]

Alle angedeuteten seelischen Vorgänge ließen sich nicht nur ohne Mühe reichlich belegen, sondern auch in zahlreiche Verästelungen und Schattierungen hinein verfolgen. Indessen sollen uns diese Aufgaben für diesmal nicht aufhalten, alle Arten von unzweideutig negativ, d. i. quietistisch begründeter Jenseitigkeit vielmehr in diesem Buche beiseitegelassen werden.

Seine Aufgaben beginnen erst, wo solche Begründung fragwürdig wird. Denn höchst bemerkenswerterweise treten viele Bestandstücke des quietistischen Wesens, also negativer Jenseitigkeit, in gleichlautender Formulierung auch innerhalb der seelischen Ökonomie von Menschen auf, deren Ansprüche auf Höherwertigkeit man wenigstens nicht mit derselben Selbstverständlichkeit als Illusion beiseiteschieben kann, wie die der bisher bezeichneten Gruppen.

Selbst unter den Gewaltigen und Helden des irdischen Erfolges treffen wir solche, denen zB. das Ruhen in einem Jenseitsglauben und die Abgabe (in letzter Instanz) ihrer Willensanstrengung an eine göttliche Vorsehung durchaus Bedingungen seelischen Gleichgewichts gegenüber dem Druck der Welt darstellen. [2]

Anderseits sehen wir starke und anscheinend diesseitsfähige Naturen zuweilen unter dem Einfluß jenseitiger Vorstellungen oder einer gewissen Hypertrophie weltdienlicher Eigenschaften ein Wesen von ausgesprochener Jenseitigkeit entwickeln.

Der erstere Zusammenhang spannt zuweilen gerade die tiefsten Kräfte der Lebensbewährung, gewissermaßen durch eine bloße Umkehrung ihrer Richtung, in den Dienst einer gründlichen Lebensabkehr. So hat zB. der soz. 'äußerliche' Glaube an einen leidenden Erlöser gewisse hochgespannte und ritterliche Naturen von leidenschaftlicher Hingabefähigkeit zu einer Askese getrieben, die, einmal aufgegriffen, sich nie genug tun konnte und jede erreichte Selbstzerfleischung heldenhaft wieder zu überbieten suchte. [3]

[1] Leiden als 'Gabe Gottes', obwohl unbegreiflich: zB. Reitz, I 9ff.; Pascal, Prieres pour les Maladies § Xlllf.; S. Francois de Sales, Traité de l'amour de Dieu 1. IX ch. 2; Barthelemy II 64ff.; als Jenseitsglück verbürgend: a Kempis, Imit.l. III c. 12 § 2; 1. III c. 19 § 3; Bernieres-Louvigni 24; Sabatier I30f.; als Auszeichnung: Molinos 84; Mysteres 32. 43.
[2] Man vergegenwärtige sich zB. Cromwell, Stein, Bismarck, Gladstone, Gen. Gordon.
[3] Beispiele bei Zöckler 237. 240.445. 457f. 473; W. E. H. Lecky, Hist. of European Morals (Lond. 1890) II I08ff.; Kremer 57. 62; Grass 568ff.; Westermarck II 355ff. Vgl. die mittelalterlichen Begriffe der Dei oder Christi militia (zB. S. Bernhard in Migne, P. L. CLXXXII; Vacandard I 233- 253). S. die Zugeständnisse bei Nietzsche, WW XV 149; Gobineau, Histoire d'Ottar Jarl (Par. 1879) 293.


Kap I.  Einleitung.    (S. 5) 

Wichtiger noch ist der zweite der eben bezeichneten Zusammenhänge. In sehr vielen Menschen wächst zB. der  altruistische  Bestandteil des moralischen Charakters zu Ausmaßen an, die jenes Ausgleichsverhältnis von Selbstsucht und Selbstopfer zerstören, welches die Diesseitsfähigkeit des moralischen Wesens erfordert.

Vor allem aber erscheint diese Überbetonung des Liebe-Bestandteils fast immer in engster Verschlingung mit religiösen Vorstellungen und Trieben: der im gesteigerten Sinne selbstlos Moralische (oder der innig so zu sein Begehrende) empfindet sein sittliches Ideal als Auswirkung eines 'Gottes', den er sich wenigstens teilweise eben diesem Ideal entsprechend vorstellt.

Gott ist 'heilig' und fordert auch vom Menschen Heiligkeit; er fordert sie nicht bloß, sondern flößt sie ihm auch ein, soweit der Mensch sich zur Aufnahme dieser Einflüsse bereitet; diese Heiligkeit aber erscheint im Menschen vor allem in der Form einer Abkehr vom 'Selbst' und allen seinen Süchten, als Gegnern der liebenden Hingabe an Gott und den Nächsten.

Diese Selbstsüchte wiederum wurzeln größtenteils in der 'sinnlich- fleischlichen' Natur des Menschen, als. deren stärkster Exponent der Geschlechtstrieb im engeren Sinne erscheint, der daher von dieser Art sittlichreligiöser Instinkte meist als gefährlichster Gegner empfunden und bekämpft wird.

Denn in der Mehrzahl der Menschen, die diesen Instinkten unterworfen sind, bahnt sich damit ein Drang zur Vereinheitlichung des Wesens an, der über kurz oder lang die Formen heftigsten Kampfes gegen die eine Hälfte der eigenen Natur annimmt.

Die recht eigentlich tragischen Ausgleiche des diesseitigen Menschen zwischen Ichsucht und Ichopfer genügen diesen Naturen nicht, werden von ihnen vielmehr als Schuld empfunden. Sie fühlen sich berufen, ihr 'höheres Selbst' gegen ihr 'niederes' nicht nur zu behaupten, sondern bis zur Vernichtung des Genossen durchzusetzen. [1]

Die Geschichte dieses Kampfes füllt die eine Hälfte aller religiösen Lebensbeschreibung und praktisch-erbaulichen Schriftstellerei: sie umgreift den größten Teil dessen, was wir als Auswirkung asketischer I deale beobachten. Die Methodik dieses Kampfes hat jedes Mittel profaner Selbsterziehung aufgegriffen, gesteigert und verfeinert, und zahlreiche andere hinzugefügt.

Abschließung von der Welt und ihren Versuchungen; Ausfüllung mit ablenkender Arbeit einer jeden Stunde, die nicht geistlicher Übung gehört; Niederhaltung des Leibes als Quells der Ichsucht durch schmale Kost, Kälte, dürftigen Schlaf; Ablenkung von und Unterdrückung jeder geschlechtlichen Regung zumal; genaueste Buchführung über jeden geringsten Erfolg oder aber Fehltritt; Schweigsamkeit zur Verhütung jedes Vergehens selbst in Worten; häufige und gründliche Beichte zur Reinigung des Innern; Selbstdemütigung in jeder Form, auch in der einer Unterwerfung unter den Willen Anderer; vor allem natürlich alle Arten geistlicher Übung, d. h. der Idealverstärkung

[1] 'Das ganze Joch des Herrn tragen' macht 'vollkommen' (Apostellehre Kap. 6 § 2). Vgl. Hebr. 12, 4: Widerstand 'bis aufs Blut'.


Kap I.  Einleitung.    (S. 6) 

durch innere Gymnastik der Vorstellungen, Gefühle und Motive: Gebet, Meditation, Übung der 'Gegenwart Gottes', u. dgl. m. [1]

In diesen Übungen erreicht das religiöse Element des Kampfes um Selbstvereinheitlichung - die 'Benutzung Gottes' - vielleicht die schärfste Ausprägung. Der Betende versetzt sich in seines Gottes Gegenwart, trägt seine äußern und innern Schwierigkeiten in die innerste Atmosphäre seines Ideals hinein, um in ihrem Licht eine Lösung zu finden; oder er sucht die idealgewerteten Gefühle oder Vorstellungen aufs stärkste zu erleben und in enger Verschlingung tiefer Wurzel schlagen zu lassen.

Der Meditierende sucht zumeist den religiösen Vorstellungen und Bildern sinnliche Deutlichkeit zu geben, um sie mit der persönlichen Lebendigkeit starker Gefühle und deshalb erhöhter Kraft der Motivierung in seinem innern Kampfe zu erfüllen. [2]

Wo die Ausgestaltung bildlicher theologischer Vorstellungen dürftig ist, wie etwa im ältern und reinem Buddhismus, da vergegenwärtigt sich der Meditierende unmittelbar die menschlichen Verhältnisse, in denen die erstrebte Heiligkeit des Wesens ihre Anwendung findet, und ruft in Verbindung damit die Gefühle auf, die er künftig in solchen Verhältnissen betätigen will.

So gedenkt zB. in der 'Meditatjon der Liebe' (metta-bhävanä) der Mönch aller Wesen und sehnt auf ein jedes Glück herab, nur ihrer guten Taten gedenkend. In der 'Meditation des Mitleids' (karunä-bhävanä) gedenkt er aller Bedrängten, soweit möglich ihr Unglück nachempfindend und so in sich die Gefühle des Mitleids und Schmerzes über die Schmerzen Andrer erweckend; usw. [3]

Und wie das Gebet als ständig wiederholtes Stoßgebet,' so soll sich auch die Meditation in einer Verdünnung oder Verallgemeinerung ihrer wirksamen Elemente über das ganze tätige Leben des Frommen ausbreiten: indem das Bild des göttlichen Richters oder Freundes, des Liebeheischenden, Gehorsamfordernden, an jeden handelnden Augenblick gewohnheitsmäßig herangetragen wird und diese 'Übung der Gegenwart Gottes', wie Fromme sie genannt haben, so zu einer fortlaufenden Beaufsichtigung des Denkens, Redens und HandeIns, in Abwehr oder Ermutigung, gemacht wird; indem man sich, mit andern Worten, 'zu jeder Zeit demütig und liebend mit Gott unterredet,. . . alle Handlungen soz. zu kleinen Unterhaltungen mit ihm werden läßt, . . . indem man einen Augenblick stillhält, um Gott im Grunde des Herzens anzubeten, ihn gleichsam im Vorübergehen zu schmecken'. Und wie dazu schon

[1] Beispiele: Stillschweigen: Zöckler 248 (Einsiedler Rambos); Statuta congreg. Clunia. censis c. 19; S. Benedikt, Reg. monachorum c. 6. Buchführung: Edwards 6 ff. Tägliche Selbstprüfung: S. Ignat. Loyola, Exerc. spir., Abschn. über Examen particulare am Anfang des Werks; Regel des 3. Ordens S. Franciscj, Kap. XII.
[2] In den Exerc. Spir. des Loyola s. zB. I. Woche 5. Exerz.; 2. Woche 5. Kontemplation; 4. Woche, Kontempl. üb. Liebe. Damit vgl. zB. Labis 25ff. Modem anglikanisch: W. B. Trevelyan, Suggestions on the method of meditation I (Lond. 1894). über 'meditierte Lektüre' als Ersatz für Anfänger s. S. Teresa I 26. 57. 66; A. Franckes 'Kurzer Unterricht, wie man die Hlg. Schrilt ... lesen solle' § 5.
[3] Rhys Davids, Buddhism 170f.
[4] S. Augustin, Ep. 130 (über crebrae orationes, b,evissimae, rap tim quodammodo iaculatae) (bei Heiler 239); Zöckler 245 (Abt Isaac, bei Cassian); Lopez 13; Barthelemy 11 68; Grass 225. 227. 265.


Kap I.  Einleitung.    (S. 7) 

eine beträchtliche Überwindung des gemeinen Sorgendrucks und Sinnendienstes gehöre, so soll diese Übung am meisten beitragen, 'die Eigenliebe zu zerstören, den Glauben zu stärken, die Geschöpfe verachten zu lehren und Versuchungen abzuwehren'. [1] 'Wahrlich', sagt ein Meister in dieser Übung, Gregor Lopez, 'ich seufze tausendmal des Tags und rede im Geiste von Gott schier ununterbrochen.'

Ob er stand oder saß oder ging, aß oder sprach, seine ununterbrochene Übung war, Gott und den Nächsten in einen Akt der Liebe zusammenzufassen, bis es ihm schließlich schwer erschien, sie auch nur für einen Augenblick zu vergessen; und um dieser unablässigen Übung willen hatte er alle äußeren Gebete und religiösen Akte aufgegeben.[2] Hier gehen Gebet und Meditation augenscheinlich völlig ineinander über: ihre innere Verwandtschaft springt in die Augen. -

Um diesen ganzen Kampf des Gläubigen um Vereinheitlichung seines moralischen Lebens bis zur Heiligkeit und die damit verknüpfte Abkehr von Ich und Welt nun wenigstens an einem zusammenhängenden Beispiel zu verdeutlichen, bezeichne ich in den wenigsten Strichen die Anfänge John Wesleys, des Vaters des Methodismus: es zeigt - und dies ist sein Vorzug vor andern - die fortgesetzt gesteigerte Schwenkung zu religiös-sittlicher Jenseitigkeit in einem Manne von ursprünglich unbestreitbar hoher weltlicher Leistungsfähigkeit. -

John Wesley stammte von Vorfahren, die seit Generationen dem geistlichen Stande angehört und sich durch ungewöhnliche Gaben des Geistes und Charakters ausgezeichnet hatten. Seine Mutter insbesondere, die 19 Kinder zur Welt brachte, war eine Frau von tiefer Frömmigkeit, außerordentlichem Verstande und größter Festigkeit. des Willens.

John, ihr  zweiter Sohn, war natürlich den Einflüssen des Elternhauses unterworfen, doch hören wir nicht von frühzeitigem Überhandnehmen der Religiosität. Als junger Student in Oxford hatte er sogar die' Imitatio' abgelehnt, als gar zu finster im Lob der Leiden. Aber bald darauf üben Jeremias Taylors 'Regeln für heiliges Leben und Sterben' äußerst starken Einfluß auf ihn.

'Augenblicklich', sagt er, 'entschloß ich mich, mein ganzes Leben Gott zu weihen, alle meine Gedanken, Worte und Handlungen, in der festen Überzeugung, daß es keinen Mittelweg gebe, sondern daß jedes Stück meines Lebens entweder Gott, oder aber mir, d. h. genau genommen dem Teufel geopfert werden müsse.' Die' Imitatio' erscheint nun in anderem Lichte, völlige Demut und Selbstverkleinerung - als unabweisbare Forderung.

Diese Studien und das Zusammentreffen mit einem religiösen Freunde ändern seine Umgangsformen; er kommuniziert jede Woche; er betet um innere Heiligkeit und strebt nach ihr mit äußerster Anspannung. Bald empfindet er die Notwendigkeit zeitweiliger noch größerer Abschließung, um ungestört die gebilligten Gewohnheiten in sich zu befestigen, solange die Bildsamkeit der Jugend dauere.

Die Nützlichkeit, ja die Erlaubtheit ungeistlicher Studien wird ihm überhaupt fraglich. Die Welt tritt mehr und mehr zurück; nur noch der sicherste und kürzeste Weg zur bessern Welt kommt in Betracht. 'Man kann nie genug fürchten, zu sterben, ehe man zu leben gelernt hat'. Er wird absonderlicher; die Schar der Genossen und Bekannten schmilzt zusammen; die Mittel und sein guter Ruf nehmen ab. Er schreibt einen ausdrücklichen Entschluß nieder, gegen jedermann rückhaltlos offen zu sein, nach beständi-

[1] Recueil 393 f. 397 f. 486-90
[2] Lopez 53, 178, 192.


Kap I.  Einleitung.    (S. 8) 

gem Ernst zu streben, nicht die geringste Leichtfertigkeit des Betragens zuzulassen, kein Wort zu reden, kein Vergnügen sich zu erlauben, die nicht zur Ehre Gottes dienten, und beginnt in diesem Sinne die Wirtsleute und Kellner der Gasthäuser und zufällige Reise- und Tischgenossen zu ermahnen. Alle Gesellschaft außer derjenigen ähnlich einseitig Religiöser empfindet er nun schon als Gefahr.

'Gott erlöse mich von halben Christen, sagt er; so oft ich von diesen Heiligen der Welt heimkehre, bin ich ohnmächtig, zerstreut, meiner Kraft beraubt.' Er will in Oxford bleiben, weil ihm dort die zersplitternden und zerstreuenden Sorgen und Geschäfte der Welt nicht nahe kommen. Auch die äußerliche Askese nimmt zu. Fleisch und Wein werden völlig aufgegeben.

Eine auf dem Fußboden verbrachte Nacht (weil sein Bett vom Sturm durchnäßt ist) bringt ihn auf den Gedanken, in Zukunft ohne Bett auszukommen. Die bisherige wechselnde Nahrung wird durch völlig einförmige ersetzt; zuletzt genießt er Brot allein. Der Gipfel der Einheitlichkeit scheint erreicht. -

Es ist nun unstreitig, daß dieses Leben zunehmender Einschränkung nicht restlos, falls überhaupt in irgendwelcher Weise, aus Unterwertigkeit des Wesens erklärt werden kann, daß vielmehr die Springfedern dieses Radikalismus leidlich verborgen in einer Natur von bedeutender Spannfähigkeit eingebettet lagen.

Wesleys geistige Leistungskraft war eine außerordentliche. Sie genügte, ihn in Oxford vom ärmlichen Stipendiaten zum Fellow des Lincoln College zu erheben. Und nachdem er erst mit seinem Innern ins reine gelangt war, setzte ihn seine Natur instand, ein Tagewerk zu leisten, wie es selbst in jenen hartköpfig arbeitsamen Zeiten nicht Viele sich zumuten durften. Einer seiner neuesten Herausgeber, der frühere Staatsminister A. Birrell, nennt Wesley geradezu die rastlos angespannteste Gestalt des 18. Jahrhunderts.

'Achttausend (engI.) Meilen zu Pferde und etwa 500 Predigten waren lange Zeit hindurch Wesleys jährliche Leistung. Und während dieser ganzen Zeit erfuhr er nie, was Niedergeschlagenheit oder Mutlosigkeit bedeute, trotzdem es ihm an reichlichen Prüfungen nicht fehlte.'

Einige der größten Geschichtschreiber Englands haben seine Fähigkeit vorsichtigen Urteils und tatkräftigen Entschlusses gepriesen. Seiner starken und klaren Vernunft entsprach ein festes und bestimmtes Auftreten. Seine Gewalt über sich selbst war eine vollkommene und machte ihn, mit seinem furchtlosen Auge, zum Herrn über manche erregte Volksmenge. [1]

Diese SchiIderungen beziehen sich nun zwar auf eine Lebenszeit WesIeys, da Erfahrungen hinter ihm Iagen, von denen bisher noch nicht die Rede gewesen ist. Aber dieser Riese an geistiger Zähigkeit in der Mission kann auch aIs Anfänger nicht ohne sehr bedeutende menschliche Kräfte gewesen sein. Was also hat ihn in jenen eben skizzierten Kampflos-von-der-Welt getrieben?

Eine hohe moralische Empfindlichkeit in allen Wertungen, eine starke Beeinflussung durch dogmatische Vorstellungen, und im Zusammenhang damit ein Drang zur inneren Vereinheitlichung und Vervollständigung, die Kehrseite einer Unfähigkeit zum Kompromiß - sind dies zureichende Erklärungen solchen mächtigen Heiligkeitstrebens? Oder entgeht uns noch ein Geheimnis, das sich darin verbirgt? Die Frage, was die letzte Wurzel aller solcher Anstrengungen sei, ist augenscheinlich nicht so leicht zu erledigen, wie die nach

[1] R. Southey, Life of John Wesley (abbridged, Land. 1904) ch. 11 u. 111; Davenport J44-g.


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den Wurzeln der anfangs bezeichneten Typen Jenseitiger. Darf man von Quietismus reden, wo unerhörte Willensanstrengungen gegen Triebe gerichtet werden, deren Gewährenlassen das Leichteste von der Welt wäre? Eher schon möchte man, wie gesagt, von Hypertrophien und Perversionen dieser oder jener normalen seelischen Eigenschaften sprechen, wiewohl man auch damit einstweilen nicht viel über Worterklärung hinausgelangt wäre.

Viel psychologischer Scharfsinn ließe sich hier ohne weiteres üben - und ist auch geübt worden. Wenn ich ihn einstweilen noch nicht zu Worte kommen lasse, so geschieht es aus folgender Überlegung heraus: Jede Gattung seelischer Vorgänge und Gebilde läßt sich so in eine Reihe ordnen, daß gewisse Glieder der Reihe die wesentlichsten Elemente der Gattung deutlicher hervortreten lassen, als bei andern Gliedern der Fall ist.

Zergliederung und Deutung halten sich dann mit Vorteil ohne weiteres an die deutlichsten, den Typ am schärfsten ausprägenden Glieder der Reihe. Alles nun, was bisher an religiösjenseitigem Wesen von nicht unzweideutig negativer Begründung bezeichnet wurde, bildet auch nur die Anfangsglieder einer Reihe, deren weitere Entwicklungsstufen sich durch sehr erhöhte Eigenart und Stärke, also wohl auch psychologische Deutlichkeit des Erlebens auszeichnen.

Was auf jenen Anfangsstufen als ein unterirdisch treibender, schwer verständlicher Drang und Instinkt sich bemerkbar macht, das scheint auf den weiteren zu voller erblühtem Leben vorzubrechen. Es liegt also nahe, die Art jener Instinkte aus ihren letzten und reifsten Früchten erkennen zu wollen.

Ein solcher Zusammenhang, wie von Keim und Frucht, ist ja auch den Religiösen selbst von jeher bewußt gewesen. Sie haben die angestrengt-asketische Strecke des inneren Weges stets als eine Vorbereitung bezeichnet, die zwar durch eigene Anstrengung nie ans Ziel gelange, deren Werk aber an einem bestimmten Punkt unter Umständen von der 'Gnade' aufgegriffen und vollendet werden könne.

Der Asket, der angestrengt 'Übende' der Frömmigkeit, hat sich zu allem gezwungen, wozu ihn die ersten Keime seiner inneren Umkehr verpflichten mochten. In diesem Zwang, im Ernstmachen bis zu den letzten Grenzen, liegt seine Genugtuung, seine Größe, aber zugleich - sein Versagen.

Seine Hingabe an das Du hätte ihn letzten Endes dahin führen sollen, daß er von diesem Nichtich ergriffen und ein Widerstandsloses Werkzeug seiner Ziele würde; sie hat ihn einstweilen im Grunde nicht weiter geführt, als bis zur Haltung der Hingabe, die er selbst mit Anstrengung be- wahren muß.

Der alte Rat, zu handeln, als ob eine gewünschte Wesenseigenschaft vorhanden wäre, um sie so zu erzeugen,[1] hat doch nur sehr beschränkten Ertrag geliefert. Das Ich mit seiner Selbstbetonung ist nicht verschwunden, sondern nur unterdrückt. Selbst wer nicht länger Übles tut, empfindet wohl, daß er noch Übles will. Gewohnheiten des Fühlens und Handelns sind gewonnen, aber die ihnen feindlichen Instinkte nicht mit der Wur-

[1] Pascal, aaO. 77.


Kap I.  Einleitung.    (S.  10) 

zel ausgerottet. Das Fleisch ist zermartert, aber die böse Sippschaft nicht tot, die in dem Grunde verborgen liegt.[1] Das Herz ist gebessert, aber nicht der ganze Mensch erneuert. [2] Der Schritt von der Tugendhaftigkeit des Willens zur Heiligkeit des Wesens ist noch ungetan. [3] Und eben weil der Heiligkeitswille noch nicht Ausdruck der ganzen Natur ist, befindet sich das Erreichte stets in Gefahr.

Eitelkeit mischt sich zuweilen dem asketischen Streben bei. [4] Innere Schwankungen oder äußere Ereignisse können die unterdrückte Tiefe jederzeit zum Ausbruch bringen. Versuchungen drohen und ein Erkalten der Seele. Sofern ein religiöser Glaube den neuen Willen ausdrückt, wird die Möglichkeit und Nähe von Zweifeln als schwerer Vorwurf empfunden. Vor bloßer äußerer Beschäftigung verschwindet oft die mühsam festgehaltene innere 'Gegenwart Gottes'.

Niemand hat dies alles klarer erkannt und deutlicher ausgesprochen, als die Jünger der angestrengten Heiligkeit selbst. Ihr abschließendes Urteil über den Wert der Asketik im weitesten Sinne ist ein sehr hartes. Unbefriedigung, Müdigkeit, Entmutigung sind meist das Ergebnis der persönlich-bewußten Willensarbeit am moralischen Ich. Sollte der Weg auch zum Ziele führen: er scheint doch endIos. [5]

Wird von Tag zu Tag ein edles Werk getan,

Sprich, warum noch häuft sich nicht die Scheuer an?

 

klagt der persische Mystiker. [6] Und eine der großen westlichen Heiligen urteilt von der Zeit, da sie noch 'Mittel suchte und Fleiß anwandte,' und noch nicht gelernt hatte, sich gänzlich des Vertrauens auf sich selbst zu entschlagen: 'Ich verlangte nach Leben, denn ich empfand wohl, daß ich nicht lebte, sondern mit einem gewissen Schatten des Todes kämpfte... Meine Seele war.. .müde und erschöpft; gern hätte sie geruht: aber die bösen Gewohnheiten, mit denen sie behaftet war, ließen das nicht zu.' [7]

John Wesley ist uns oben als Muster methodischen Heiligkeitsmühens erschienen. Es ist lehrreich zu sehen, wie rückhaltlos er die Unzulänglichkeit dieser doch leidlich entschlossenen moralischen Jenseitigkeit ausspricht. Während der Rückkehr von seiner Missionsreise nach Amerika schreibt er folgende Selbstbeurteilung nieder:

'Durch den unfehlbarsten aller Beweise - inneres Bewußtsein - halte ich mich für überführt

1. des Unglaubens, indem ich nicht einen Glauben an Christum habe, der mein Herz vor innerer Unruhe bewahren könnte...

2. des Stolzes, indem ich längst geglaubt zu besitzen, was ich doch, wie ich sehe, nicht besitze;

3. argen Mangels an innerer Sammlung, indem ich im Sturm jeden Augenblick zu Gott schreie, in der Stille aber nicht;

4. der Leichtfertigkeit und des Übermuts. .. Ich ging nach Amerika, um die Indianer zu bekehren; aber ach, wer wird mich bekehren? . .. Ich habe gelernt an den Enden der Erde, daß mein ganzes Herz völlig verderbt und unrein ist, und folglich mein ganzes Leben auch. .. Mir mangelt jener Glaube, den niemand haben

[1] Tauler, Pred. 104, bei Preger III 199.
[2] Ein Erfahrener bei Gibson IIIf.
[3] Vgl. Guyon, Opusc. I40f. (Torrens p. Ich. 2 § 14).
[4] Köstliche Beispiele aus mönchischer Praxis bei S. Bemhard, De gradibus humilitatis c. XIV. (Vacandard I 161).
[5] S. Teresa I 184.
[6] Rumi, bei Tholuck 60.
[7] S. Teresa I 69.


Kap I.  Einleitung.    (S.  11) 

kann, ohne zu wissen, daß er ihn hat, .. .denn wer ihn hat, ist von der Sünde frei; der ganze Kern der Sünde ist in ihm zerstört.[1]

Wie man sieht. mangelt es dem angestrengt Heiligungsbeflissenen nicht an der gefühlsmäßigen Gewißheit, daß es einen Weg der mystischen, d. h. inner- lichst religiösen Erfahrung gebe, auf dem er über 'irdisches', 'fleischliches', 'sündiges', gottfernes Wesen endgültig hinaus- und in das Innerste seines Instinkt-Ideals, oder doch sehr viel näher an dieses heran gelangen könne, als mitte1st willkürlicher Askese.

Jener Weg wird betreten unter Erfahrungen. mit denen verglichen die willkürlich erzeugbaren blaß und dürftig sind; Erfahrungen. die sich aber - so scheint es dem Mystiker - keinesfalls erzwingen, für die sich nur der Schauplatz bereiten läßt durch jene allmähliche willkürliche Abtragung des 'niedern' Selbst und seiner 'ungeregelten Begierden'; Erfahrungen, die der Mystiker eben wegen ihres unwillkürlichen Geschenktwerdens als Ergreifungen durch die Gnade Gottes auffaßt.

Sie bilden offenbar die Erschließung jener 'Frucht', deren Keimen sich während der asketischen Periode fühlbar macht. Wir dringen also jedenfalls in den Kern unserer Aufgabe, die höhere religiöse Jenseitigkeit zu deuten, wenn wir uns ohne weitere Umschweife der Betrachtung jener geistlichen oder erwecklichen Gnadenerfahrungen zuwenden.

[1] Southey, aaO. 91 ff. 

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