Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

  zum Inhaltsverzeichnis 


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  11) 

Psychologisches Merkmal der 'Gnade' ist also vor allem, daß das bewußte, persönlich wollende Ich an ihren Erweisungen sich unbeteiligt fühlt und sie eben deshalb einer übermenschlichen Macht zuschreibt.[1] Die persönlichen Bemühungen um Heiligkeit setzen ein gewisses inneres Erfassen dieses Ideals voraus. Es stachelte, wenn es auch nicht herrschte, weil es schon als Neigung zu Wertungen im Menschen lebte.

Er sonderte gefühlsmäßig 'gut' und 'böse', göttlich und sündhaft. Es ist nun ein erstes Merkmal des extrem Religiösen (das meine Beschreibungen eröffnen mag), daß er diese Wertgefühle sehr viel stärker, ja mit überwältigender Wucht erleben kann.

Die gegensätzlichen WerterIebnisse 'Heiligkeit' und 'Schuld', 'Gott' und 'Ich' überfallen ihn gelegentlich mit krampfhafter Gewalt des Schauens, und bahnen damit zugleich den Weg zur volleren Verwirklichung des Höhergewerteten im so Begnadeten. In einer von Glied zu Glied sich steigernden Reihe lege ich dem Leser einige Bekenntnisse vor, welche die Art dieser Erfahrungen verdeutlichen.

'Danach', so erzählt George Fox, der Vater der Quäker, aus der Zeit seiner Anfänge, 'ließ mich der Herr seine Liebe sehen, ohne Ende und ewig und alles Begreifen

[1] Dies ist völlig verkannt in der Kritik der Gnadenlehre bei A. Homeffer, Der Priester... (Jena 1912) I 108.


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  12) 

übersteigend, das Menschen im natürlichen Zustande haben und aus der Geschichte oder aus Büchern erlangen können. Diese Liebe zeigte mich mir selber, wie ich ohne Ihn war; und ich fürchtete alle Gesellschaft, denn ich sah vollkommen die Lage, in der sie sich befanden, durch die Liebe Gottes, die mich mir selber zeigte. ..

Hätte ich eines Königs Unterhalt, Schloß und Bedienung gehabt, es wäre alles ein Nichts gewesen; denn nichts gab mir Genüge, außer der Herr durch seine Kraft. Ich sah, daß Bekenner, Priester und Laien sich wohl und behaglich befanden in jenem Zustande, der mein Elend war, und daß sie das liebten, dessen ich mich gern entledigt hätte. . .'[1]

Es ist kaum zweifelhaft, daß eine solche Erfahrung schon über das Innenmaß jenes Erlebens hinausgeht, das wir am Beginne der meisten asketisch-angestrengten Laufbahnen vermuten dürfen: jenes Erlebens der Unzufriedenheit mit sich selbst und des Aufblicks zu einem Inbegriff erhöhter Heiligkeit, das man ja wohl als 'Erweckung' (aus dem 'Schlaf der Sünde') bezeichnen könnte.

Das folgende Bekenntnis John Fletchers dürfte jene Steigerung über das gewöhnliche Maß noch deutlicher zeigen; man bemerkt darin geradezu schon eine Annäherung an einen ekstatischen Zustand.

'Etwa um die Zeit, da ich das geistliche Amt antrat, wanderte ich eines Abends in ein Gehölz, in Gedanken über die Bedeutsamkeit des Berufes, den ich im Begriff war zu übernehmen. Als ich dann meine Seele im Gebet zu ergießen begann, überfiel mich ein solches Gefühl und Erfassen [2] der Gerechtigkeit Gottes und eine solche Empfindung seines Mißfallens an der Sünde, daß sie alle meine Geisteskräfte ver- schlangen und meine Seele mit einer Verzückung des Gebets für arme verlorene Sünder erfüllten, worin ich bis zum Anbruch des Tages verharrte. [3]

Um aber gleich die ganze Spanne der Stufenleiter zu zeigen, die solche Erfahrungen durchlaufen können, führe ich nun eine ähnliche aus dem Leben einer der bekanntesten Heiligen des katholischen Mittelalters an. Diese Bekehrung (wenn ich so sagen soll) der hl. Katharina von Genua bildete anscheinend den Abschluß eines Zeitabschnittes tiefer Niedergeschlagenheit und des Zerfalls mit sich und der Welt.

Die Angabe eines Datums - 22. Mai, 'der Tag nach S. Benedikt' - und gewisser Einzelheiten des Verlaufes scheinen Treue des Berichts zu verbürgen. Wir erfahren, daß die vornehme Frau - eine Fiesco - an jenem Tage, und zwar ohne innerliche Aufgelegtheit, in die Kirche des Klosters Maria delle Grazie zur Beichte gegangen. Dieser Zug ist bemerkenswert, weil er die Unwillkürlichkeit des Nachfolgenden andeutet.

'Kaum war sie vor dem Beichtvater niedergekniet, als sie ihren Geist so sehr erleuchtet fühlte über ihre Fehler und Armseligkeiten und über die grenzenlose Güte Gottes, daß sie. . .ohnmächtig hätte zur Erde niederstürzen mögen. .. Eine grenzenlose Liebe zu Gott erfüllte ihre Seele. ..

Von innigstem Schmerz ergriffen, einen so liebenswürdigen Gott beleidigt zu haben, rief sie im Innersten ihres Herzens: Keine Welt mehr, keine Sünde mehr!... Unfähig, eine Beichte abzulegen, sagte sie nur: Vater, wenn es Ihnen gefällig wäre, so möchte ich diese Beichte gern auf ein anderes Mal verschieben.' ... Nach Hause zurückgekehrt, scheint sie fortdauernd in heftig-

[1] Fox, Autobiography 7.
[2] feeling sense.
[3] Wesley, Short account 77f.


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  13) 

ster Erregung gewesen zu sein und will 'wunderbare Erleuchtungen und Einsichten über Gebet und Umgang mit Gott' gehabt haben. Nach einigen Tagen hatte sie angeblich ein Gesicht Christi, mit dem Kreuze beladen, der ihr sagte, dies Blut, das von seinen Schultern troff und das ganze Haus zu überschwemmen schien, sei aus Liebe zu ihr für ihre Sünden vergossen.

Dies brachte sie völlig außer sich. 'Sie sah ihre ihm zugefügten Beleidigungen und schrie: 0 Liebe, keine Sünde mehr, keine Welt mehr! Und im Gefühl des Hasses, den sie gegen sich selbst empfand, rief sie aus: O, Liebe, ist es nötig, so bin ich bereit, meine Sünden öffentlich zu beichten.' .

Und hier findet sich der bedeutsame Zusatz, daß sie von da an 'ganz Liebe' gewesen sei, ihre irdischen Neigungen erloschen und ihr Wille in den Willen Gottes umgestaltet. Sie pflegte in der Folge zu sagen: 'Ich meine nichts mehr zu haben, weder Seele, noch Leib, noch Herz, noch Willen, noch Geschmack, noch irgend etwas anderes als nur Liebe.' [1]

Hier noch eine ähnliche Erfahrung, wiederum aus protestantischer Umwelt: 'J. Edwards erzählt, daß er eines Tages i. J. 1737, während eines Rittes im Walde, den er aus Gesundheitsrücksichten unternommen, eine für ihn 'ganz außerordentliche Schauung (view) der Herrlichkeit des Sohnes Gottes, als Mittlers zwischen Gott und Mensch, seiner Gnade, Liebe und Herablassung hatte...

Die Person Christi erschien unaussprechlich vollkommen, ja von einer Vortrefflichkeit, die alles Denken und Begreifen verschlang. Dies dauerte. .. etwa eine Stunde an und erhielt mich die meiste Zeit über in einer Flut von Tränen. .. Gleichzeitig empfand ich ein glühendes Verlangen, entleert und vernichtet zu werden, im Staube zu liegen und nur von Christo erfüllt zu werden; ihn zu lieben, ... auf ihn mein Vertrauen zu setzen; ihm zu dienen und nachzufolgen, und vollkommen geheiligt und rein zu werden, mit einer himmlischen Reinheit.' Solche Schauungen habe er mehrmals gehabt, und die gleichen Wirkungen seien stets aus ihnen geflossen.' [2]

Dieses Erlebnis moralischer Erleuchtung besteht anscheinend in der überwältigenden Empfindung eines Gegensatzes: der Heiligkeit, die Gott zugeschrieben wird, und der Verwerflichkeit, von der man die eigene Persönlichkeit durchtränkt fühlt. Die obigen Beispiele rückten vielleicht das erste Glied dieses Gegensatzes in den Vordergrund; ich will einige andere anführen, in denen der Nachdruck, wenigstens der Beschreibung, auf das zweite verlegt scheint.

Die hl. Angela von Foligno, eine namhafte Franziskanerin des 13. Jahrhunderts, deren Bekenntnisse wir gewissermaßen aus ihrem eigenen Munde haben, schreibt von der sechsten der 18 'Stufen' ihrer geistlichen Entwicklung: '[Hier] [3] erhielt ich eine gewisse Erleuchtung der Gnade, durch welche mir eine tiefe Erkenntnis aller meiner Sünden mitgeteilt wurde, und. . . aus den Tiefen meiner Seele wurden mir alle meine Sünden in die Erinnerung zurückgebracht.. .'; es ward ihr 'gegeben, zu verstehen', daß sie Christum gekreuzigt habe, und 'in der Erkenntnis des Kreuzes, die ich da

[1] Nach Marabottos Leben der Heiligen (in A. S. Boll.) c. 2 bei Lechner 45ff.
[2] Vgl. auch Edwards 29f.
[3] Die in eckige Klammem eingeschlossenen Teile von Zitaten enthalten entweder Ergänzungen, wie sie besonders durch die Kürzungen (...) des Textes nötig werden, und entstammen dann meist dem Wortlaut des Fortgelassenen; oder (seltener) Erläuterungen, durch die ich selbst, auf Grund genauerer Kenntnis der Gedankenzusammenhänge, die richtige Auffassung des Lesers zu fördern suche.


  nach oben 

Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  14) 

hatte, empfing ich ein solches Feuer der Liebe und der Reue, daß ich, an diesem Kreuze stehend, mich im Entschlusse von allem entblößte und Ihm mein ganzes Selbst darbrachte... Endlich, durch die Gnade Gottes, ward mein Herz erleuchtet und mit dieser Erleuchtung kam mir eine solche Festigkeit des Willens, daß ich vermeinte und noch glaube, daß ich ihn in aller Ewigkeit nicht verlieren kann.' [1]

Der folgende verwandte Bericht stammt aus der Feder der Frau Martin, als Religiöse Marie de l'lncarnation, einer namhaften Ursulinerin der Neuen Welt: 'Am Tage vor Mariä Empfängnis', schreibt sie, 'den 24. März 1620, ging ich sehr früh am Morgen meiner Gewohnheit nach an meine Geschäfte. Unterwegs empfahl ich mich Gott durch mein übliches Herzensstoßgebet:

In te Domine speravi, non confundar in aeternum. Ich fühlte an jenem Tage ein größeres Vertrauen als je in den göttlichen Beistand, als ich plötzlich gefesselt wurde [2] von einem Anblick aller Fehler, Sünden und Unvollkommenheiten meines ganzen Lebens - klar, deutlich und gewisser, als menschliche Worte auszudrücken vermöchten.

Gleichzeitig sah ich mich in ein Bad von Blut getaucht und es ward mir offenbart, daß dieses Blut kein anderes sei, als das unsres Herrn, vergossen zur Sühne meiner Sünden. Hätte mir Gott nicht in dieser Lage beigestanden, ich glaube, ich wäre vor Schreck gestorben, so entsetzlich und furchtbar erschienen mir in diesem Augenblick selbst die kleinsten Sünden. . .

Mein Herz wurde in einem Augenblick hingerissen und von einer solchen Liebe zu Gott entflammt, daß es eine Reue empfand, ihn beleidigt zu haben, von der nichts eine Vorstellung zu geben vermöchte. Ich hätte mich ins Feuer stürzen mögen, um dem brennenden verlangen nach Buße zu genügen, das damals mein Herz zu erfüllen begann.'

Sie trat in die erste beste Kirche ein und auf den ersten Priester zu, den sie sah, und überfiel ihn dergestalt mit ihrer schluchzenden Beichte, 'daß er wie betäubt mich gewähren ließ. .. Nach dieser Beichte... fühlte ich mich wie in ein anderes Geschöpf verwandelt, so sehr, daß ich mich selbst nicht wiedererkannte.

All meine frühere Unwissenheit war verflogen und manche Handlungen, die ich bis dahin als an sich gerecht und gut betrachtet hatte, erschienen mir jetzt unzulässig.' Sie erbat sich sogleich die vorschriftsmäßige Erlaubnis zur Anwendung asketischer Mittel, begab sich auf ein Jahr in fast völlige Einsamkeit, und legte bald danach das Gelübde lebenslänglicher Keuschheit ab. [3]

Auch J. Edwards, dessen wiederholte Schauungen der Heiligkeit Gottes soeben erwähnt wurden, berichtet von anderen, gewissermaßen ergänzenden Erlebnissen, die ihm die eigene Sündhaftigkeit nicht minder überwältigend zum Bewußtsein brachten, 'tief ergreifenden Einblicken in meine eigene Sündhaftigkeit und Nichtswürdigkeit; häufig so sehr, daß sie mich in einer Art lauten Weinens erhielten, mitunter beträchtliche Zeit hindurch; so daß ich oft gezwungen gewesen bin, mich einzuschließen. . .

Meine Bosheit ist mir seit langem geradezu unaussprechlich erschienen und alles Denken und Vorstellen übersteigend. .. Ich weiß nicht, wie ich besser ausdrücken soll, wie meine Sünden mir erscheinen, als indem ich Unendlich auf Unendlich türme und Unendlich mit Unendlich multipliziere.' [4]

Erfahrungen dieser Art sind weder seltene Ausnahmen, noch ein Vorrecht der klassischen Helden religiöser Lebensbeschreibung. Die Darstellung des

[1] Thorold 93-95. 99. Der Schluß bezieht sich insonderheit auf völlige 'Armut' im religiösen Sinne.
[2] lorsque taut a coup je fus arrêtee...
[3] Chapot I 66-73.
[4] Edwards 36f.


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  15) 

mystischen Lebens durch Erfahrene scheint sie eher als etwas Typisches dem Gesamtbilde einzuordnen, [1] und die Chronik der großen Erweckungs- und Bekehrungsbewegungen schreibt immer wieder Ähnliches den namenlosen Einzelnen der großen Masse zu - namenlos, auch wenn sie genannt werden. [2]

Ich möchte mit dem endgültigen Urteil über diese Erfahrungen verziehen, bis sie in einen größeren Zusammenhang verwandter Erscheinungen hineingestellt sind. Nur um den ersten Eindruck in möglichst nutzbarer Form festzuhalten, sei folgendes zu vorläufiger Bestimmung gesagt:

Nach ihrem Wert für die Ausbildung der fühlenden und wollenden Persönlichkeit bedeuten diese Augenblicke offenbar die Geburt oder die Vertiefung einer Idealwertung, die alle bisherige Wertung so sehr an Stärke übertrifft, daß sie beinahe als neu bezeichnet werden kann.

Das Ideal der 'Heiligkeit' und 'Reinheit' tritt auf Augenblicke vollends in den Mittelpunkt des Ich, wird gleichsam zum Auge, [3] mit dem es sein bisheriges Sein und Tun schaut - und zwar in einem blendenden Lichte schaut, welches erbarmungslos Abstände offenbart und schafft, die bisher im Nebel halb bestimmter Sehnsucht verborgen geblieben waren.

Sich selbst - oder die ähnlichen Andern [4] - sieht man in ihrer 'natürlichen' Beschaffenheit, und die Instinkte dieser 'Natur' sind unverträglich bis zu Qual und Grauen mit den Instinkten, die für den Augenblick zum eigentlichen Selbst geworden sind, denen gegenüber nun alles andere als Außenwerk und beinahe fremd, wenn auch als Teil der eigenen Persönlichkeit erlebt wird.

Insofern bilden das Erlebnis der 'Heiligkeit' und das der eigenen 'Sündhaftigkeit' zwei Seiten eines und desselben Vorganges, wie etwa ein schlechter Dichter oder Komponist in demselben Augenblicke, da ihn das Glück der Stunde ein hohes Meisterwerk seiner Kunst im tiefsten Innern schauend erleben läßt, auch die Erbärmlichkeit der eigenen Versuche plötzlich bis zur Greifbarkeit vor Augen haben mag.

'Ich ging aus einem Grabe von Finsternis hervor', sagt einer, der die Erfahrung machte, 'und ich lebte, lebte vollkommen. Ich sah tief im Abgrunde das äußerste Elend, aus dem ich gezogen worden.' [5] 'Die Seele,' sagt S. Alphonso Rodriguez, 'die Gott kennt, gelangt dazu, sich selbst zu kennen, wie sie ist. Das Weiße und Schwarze unterscheiden sich besser, wenn sie nebeneinander liegen." [6]

Dabei mag bemerkt werden, daß diese glühend erlebte Höchstwertung des heiligen Gottes und gleichzeitige Abwertung des eigenen Ich sich anscheinend nicht ausschließlich (wenn auch am greifbarsten) auf Einzelverfehlungen oder Einzelfehler bezieht, als Gegensatz zum göttlichen Freisein von solchen Verfehlungen und Fehlern; sondern daß diese faßlicheren Wertungen hinüberklingen in einen allgemeineren, schwerer begreiflichen und eben notwendig zu erlebenden Stimmungs- und Wertungsgegensatz, den man feinsinnig als

[1] Vgl. zB. Jloch Preger I 224f. (S. Bernhard); das. 11 43 (Mönch von Heilbronn); Ruys- broeck gf.; Brief des Schtscheglow bei Grass 167.
[2] S. zB. Finney 52f.; Gibson 3gf.  100. 244; Dyer 152.
[3] Schulausdruck: 'Apperzeptionsmasse'.
[4] David BIf. Vgl. dazu Fichte, WW V 4 0 6 .
[5] Ratisbonne 128.
[6] S. Alphonse Rodriguez 53.


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  16) 

den von Heiligkeit und 'Profanität' überhaupt, von Gott und Geschöpf, von 'numinosem Wert' und 'numinosem Unwert' bezeichnet hat. [1] Soweit die diese Wertung umlagernden Gefühle zu fassen sind, gehören sie augenscheinlich größtenteils zu denen, die das 'Ich' entspannen und hinschmelzen lassen, seine feste Umgürtung, seine harte Vermauerung lockern, wenn nicht auf- lösen.

Die fordernde Ich-, Mir-Haltung schwindet, die darbringende Du-, Dir-Haltung führt sich - oft zum erstenmal- überwältigend ein: der Drang zu geben, zu opfern, hinströmen zu lassen. Man beachte in dieser Hinsicht den sofort einsetzenden Drang zur Entsagung und Askese, zum Bekennen der Schuld (eben alles dessen, was ehedem der Ich- Haltung entsprang), zur Selbsterniedrigung in der Beichte.

Man bemerkt sofort: was bisher Gegenstand der Bemühung war, ist jetzt heißestes Bedürfnis geworden; wo man die Pumpe schwengeln mußte - ein alter mystischer Vergleich -, strömt jetzt die Quelle; während das Ich sich schier leidend verhalten darf.

Die verjenseitigende Wirkung dieser Erfahrungen erscheint selbstverständlich, und sie wird durch die fast immer hinzutretende theologische Ausdeutung noch vertieft:

'Gott' wurde in dieser Schauung des wertenden Gefühls erlebt; die Erfahrung ist ein Eingriff und ein Geschenk seiner Gnade. Wie sie die Grundlagen der Diesseitigkeit weiter unterhöhlt, so verstärkt sie die willkürliche Hinkehr nach einem Jenseits, wo das verirrte Geschöpf in seinem Schöpfer werde untertauchen können.

Diese weltablösenden ;Wirkungen betont zB. ein Seibstbekenntnis Mahans. Dieser, calvinistisch erzogen, war durch die Überzeugung des Nichterwähltseins bis zu einem 'Zustand beinahe gefühlloser Verzweiflung' getrieben worden. In einer Offenbarung von Gottes Heiligkeit und Liebe und der eigenen völligen Sündhaftigkeit erkannte er die schlechthinnige Gottlosigkeit und Verderbtheit seines ganzen sittlichen Lebens, auch der (äußerlich betrachtet) 'guten' Handlungen, und seine ewige Verwerfung erschien ihm nunmehr völlig gerecht.

In einem Gebet übergab er sich der Gnade Gottes und bat, ihn lieben und verehren und seinen heiligen Willen achten zu dürfen. 'Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, so wurde ich. . . dermaßen überschattet von der Empfindung der offenbarten Liebe eines verzeihenden Gottes und Erlösers, daß mir war, als würde mein ganzes geistiges Wesen aufgelöst und von einer unaussprechlichen Ruhe und Zuversicht durchdrungen...

Ich konnte aufblicken und sagen, ohne daß eine Wolke zwischen meine Seele und Gottes Antlitz [sich schob]: Mein Vater und mein Gott.' Die Folge nun dieses Erlebnisses war, daß ihn aller äußere Ehrgeiz verließ, jeder Wunsch nach Reichtum und nach Bildung. Wäre er Katholik gewesen, sagt er, so wäre er Mönch geworden. [2]

Die Verlockung zu theologischer Deutung enthält in noch höherem Grade eine andere Gattung geistlicher Erlebnisse, deren innere Verwandtschaft mit den eben besprochenen übrigens unverkennbar ist. Auch hier das herein- brechende, halbekstatische Gefühl von 'Heiligkeit', das nicht auf das eigene Ich, sondern ein Fremdes, Ideales, Überragendes bezogen wird; nur daß hier

[1] R. Otto, Das Heilige... 3. Auf!. (Breslau 1919) 58.
[
2] Mahan 18.


  nach oben 

Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  17) 

dies Fremde, Überragende sich fester zusammenzuballen scheint zu etwas beinahe-persönlich Anwesendem. Man spürt eine ich-fremde und doch ich-verwandte Macht - 'Gott' - über sich, neben sich, um sich gegenwärtig. Ich bringe einige Beispiele wieder in einer Anordnung, die dieses eigentümliche Erlebnis in steigender Deutlichkeit hervortreten läßt.

Ziemlich verschwommen klingt es an in einer Beschreibung J. Trevors von eigenen Erfahrungen, die sich mehrfach in seinem Leben wiederholt hatten. '[Während eines wundervollen Marsches im Gebirge an einem leuchtenden Sonntagmorgen] fühlte ich mich plötzlich, ohne alle Voranzeichen, im Himmel- in einem innerlichen Zustande des Friedens, der Freude und Gewißheit von unbeschreiblicher Stärke, begleitet von der Empfindung, in einen warmen Lichtglanz eingetaucht zu sein, ... ein Gefühl, als hätte ich den Körper verlassen, wiewohl die umgebende Landschaft heller hervorzutreten und gleichsam mir näher zu sein schien, als zuvor, infolge der Erhellung, in deren Mitte ich mich zu befinden glaubte.

Diese tiefe Erregung hielt an, wenn auch in abnehmender Stärke, bis ich mein Haus erreichte, und verlor sich erst allmählich einige Zeit danach. .. ich fühlte, wie nah und vertraut mir Gott, und wie schlechthin sicher meine Beziehungen zu ihm wären... [Ich hatte] das Bewußtsein, daß Gott und ich am gleichen Orte wären.' Die Wirkungen solcher Erfahrungen waren eine tiefere Einsicht in den sinnvollen und notwendigen Verlauf seiner vergangenen Entwicklung, ein außerordentliches Gefühl der Gehobenheit und Lebensfreude, und die Gewißheit seiner selbst und Gottes.

Diese Erlebnisse, bemerkt der tiefreligiöse Mann, hätten die Richtung seines Lebens zwar nicht verändert, wohl aber bekräftigt, und ihn stets ein gutes Stück Weges fortgeführt. [1]

Religionspsychologen haben neuerdings eine ziemliche Anzahl von Erfahrungen dieser Art veröffentlicht, die zuweilen, in ruhigeren Formen, sich durch beträchtliche Strecken des Lebens hinzuziehen scheinen.

'Ich habe', schreibt eine protestantische Frau, 'die Empfindung einer starken und gleichzeitig beruhigenden Gegenwart, die über mir schwebt. Bisweilen scheint sie mich mit stützenden Armen zu umfangen und einzuhüllen. Gott ist ein persönliches Wesen, das seine Geschöpfe kennt und für sie sorgt'. [2]

Auch J. B. Pratt betont das Ungesuchte und Ungewollte solcher Erfahrungen und findet sie nicht selten in ziemlich früher Kindheit, wenn auch angeblich am häufigsten zu Beginn oder am Ende der Geschlechtsreifung. 'Es ist', sagt eine seiner Mitteilungen, 'soweit ich es auszudrücken vermag, ein Gefühl von heiligem Schauer und Erhebung, und [im äußersten Falle] so heftig, daß ich nur bitten konnte, es möchte mir genommen werden; es war beinahe erdrückend.' -

Nach der Seite der größten Abschwächung zu gehen diese Erfahrungen schon fast in unbestimmte ästhetische oder 'kosmische Emotionen' über, wie sie im Alleinsein vor schönen Naturaussichten, am Meeresstrande, im Walde oder unter den Sternen empfunden werden. Ihre Wirkung aber besteht immer in erhöhter Kraft der Intuition und einer Stärkung des sittlichen Willens. [3]

[1] J. Trevor, My Quest tor God (Lond. 1897) 268-70. 256 (gekürzt). Vgl. auch P. Minault, Discours Religieux, La Solitude 64 (bei Leuba 223).
[2] Starbuck 327.
[3] Pratt 258.


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  18) 

Schärfer umrissen scheint die' Anwesenheit' des Unsichtbaren in folgenden Beschreibungen S. Alphonso Rodriguez' und des Jesuitenpaters Lyonnard nach eigenen Erfahrungen:

Der erstere nennt das Gefühl der Gegenwart Gottes 'eine geistige und in der Erfahrung gegebene Gewißheit, daß Gott in der Seele und an jedem Orte sei. .. Je mehr man im Dienste Gottes fortschreitet, desto deutlicher und andauernder ist diese Gegenwart. ..

[Ich habe] es häufig genug erfahren, daß ohne alles Nachsuchen von meiner Seite, selbst ohne daß ich daran dachte, dieser allmächtige Herr fühlbar vor mich hingetreten ist, wie ein Mensch plötzlich vor einen anderen hintritt, ohne daß sich dieser dessen versehe.'

'Eines Tages im November 1844,' schreibt Lyonnard, 'hatten wir uns eben im Refektorium zum gemeinsamen Mahle gesetzt, als mir plötzlich eine so klare Schau der göttlichen Gegenwart verliehen ward, wie ich es sonst nie ähnlich erlebt habe.

Das geschah plötzlich wie ein Blitz und versetzte mich in eine andere Welt angesichts der Offenbarung eines unendlich großen, unendlich heiligen und anbetungswürdigen Wesens, des Wesens Gottes selber.

Ich war bis ins Mark der Knochen durchdrungen von einem sehr tiefen Gefühl der Ehrfurcht, der Liebe und religiösen Betäubung. .. Der Eindruck dieses hellen und blendenden Lichtes war derartig, daß ich plötzlich den leiblichen Hunger verlor.' [1]

Bei Angela von Foligno läßt sich ein Übergehen nicht unähnlicher Erfahrungen in visionäre Erlebnisse beobachten, ein Zusammenhang, den wir uns ebenfalls merken wollen.

'Wenn der allerhöchste Gott kommt, die Seele heimzusuchen,' schreibt sie, 'so wird dieser zuweilen die Gunst zuteil, ihn zu sehen; sie sieht ihn dann in sich selbst, ohne körperliche Form, deutlicher, als ein sterblicher Mensch einen anderen sieht. Die Augen der Seele nehmen dann eine rein geistige Fülle wahr, von der ich weiter nichts sagen kann, weil die Worte und die Einbildungskraft außerstande sind, es auszudrücken.

In dieser Betrachtung empfindet die Seele einen unaussprechlichen Genuß, sie vermag an nichts anderes zu denken, sie ist auf wunderbare Weise gesättigt.' Wie nahe wir hier einer Vision stehen, erweisen andere Berichte dieser Heiligen, nach denen die Wahrnehmung jener 'Fülle' sie zum Schauen eines Glanzes, zu inneren 'Ansprachen' Gottes, endlich zum Schauen von Scharen von Heiligen un- mittelbar hinführte.[2]

Es ist wichtig zu bemerken, daß die bestimmtesten Ausgestaltungen solcher Erlebnisse häufig mit Zuständen der Gebetsversenkung zusammenfallen. Aus dem verschwimmenden Gefühl eines gewaltigen Umlagert- oder Umschwebtseins wird dann besonders häufig das scharf umrissene Bewußtsein einer persönlichen und deutlich örtlichen Anwesenheit in unmittelbarer Nähe des Andächtigen.

Finney zB. beschreibt eine verwandte Erfahrung in folgenden Worten: 'Eines Tages, in Dr. Lansings Hause, kam mir der Herr so nahe, während ich im Gebete war, daß mein Fleisch buchstäblich an meinen Knochen zitterte. Ich bebte vom Kopf bis zu den Füßen unter der starken Empfindung der Gegenwart Gottes. .. Gleich-

[1] S. Alphonse Rodriguez 56 (§ 40); Lyonnard S. XXVII.
[2] zB. Thorold X32f.


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  19) 

wohl, anstatt fliehen zu wollen, schien ich näher und näher an Gott herangezogen zu werden, schien mich mehr und mehr jener Gegenwart zu nähern, die mich mit solch unaussprechlicher heiliger Scheu und Zittern erfüllte... Gott gab mir die Versicherung, daß er mit mir sei und mich aufrecht erhalten werde. ..

Die Empfindung der Gegenwart Gottes.. .bewirkte vollkommenes Vertrauen, vollkommene Ruhe und ungemischt und vollkommen gütige Gefühle gegenüber allen Brüdern, die sich, irregeleitet, gegen mich gewandt hatten.' [1]

Auch die folgende Erfahrung fiel in ein feierliches, von kurzen Gebeten unterbrochenes Schweigen, wozu sich mehrere Fromme in der Tiefe des Waldes zusammengefunden hatten.

'Endlich kam ein Brausen vom Himmel, wie wenn ein Sturmwind daherfährt, und erfüllte den ganzen Ort... Und doch rührte sich kein Blatt in der Höhe oder Gras am Boden - die ganze Natur war still... Mein ganzes Wesen schien unaussprechlich erfüllt von dem Gotte, an den ich so lange geglaubt hatte. Wahrnehmung durch die Sinne könnte mir nicht ein solches Wissen [von ihm] verschaffen, wie das, welches nun mein war. ..

Kein erschaffenes Ding war jetzt meiner Seele so wirklich, wie der Schöpfer selbst. Es war furchtbarerhaben und doch ohne Schrecken. Ich verlor keinen Teil meiner Sinne, und doch waren sie alle wie versunken in [dieser] erhabenen Offenbarung. Eine Frage, die an mich gestellt wurde, beantwortete ich so kurz wie möglich, daß meine Seele nichts von der himmlischen Gegenwart verlieren möchte, die mein Wesen umfing und erfüllte...

Tage darauf, als ich wieder mit meiner Frau zusammentraf, brach sie in Tränen aus, ... ehe wir ein Wort gesprochen hatten, so groß war die Veränderung in meinem Äußeren... Jeder Augenblick war mit der Gegenwart Gottes erfüllt; auch verließ sie mich nicht' inmitten der anstrengendsten Beschäftigungen. Mein Leben wurde zu einem Psalm des Lobes.' [2]

Ich will eine Deutung solcher Erfahrungen hier noch so wenig versuchen, wie im Falle der zuvor beschriebenen. Zusammenfassend sei einstweilen nur auf die beträchtliche Vielgestaltigkeit des Erlebnisses hingewiesen, namentlich die mannigfachen Grade von Bestimmtheit und von Dauer der empfundenen 'Anwesenheit'; sodann auf die augenscheinlichen Übergänge in Erlebnisse anderer Art:

auf der einen Seite etwa in innere Rauschzustände - selbst in körperliche Erregung hohen Grades (Finney); in ekstatische Verdunkelungen des Ich; nicht minder aber in halluzinatorische Erlebnisse: Gesichte, Lichterscheinungen, Einsprachen, inneres Hören von Reden u.. dgJ. m., oder in bildlose 'Einsichten' und 'Verstehungen'.

Von allen diesen Dingen wird an anderen Stellen zu reden sein, und wir werden mehr und mehr die Bedeutsamkeit dieses Übergehens aller Arten mystischer Erlebnisse ineinander er- kennen. Dagegen sei schon jetzt hervorgehoben, daß die Erfahrungen auch dieser Reihe, wie die der vorigen, den praktischen Wert einer passiv erlebten Ich-Lösung und Entselbstung beanspruchen. Ihr Auftreten vornehmlich in Zuständen selbstvergessener Gebetshingabe ist jedenfalls bedeutsam; wie sie durch solche häufig ausgelöst werden, so fördern sie diese ohne Frage auch

[1] Finney 161.
[2] R. P. S. bei Bucke 2S6f. Vgl. P. Balthasar Alvarez bei Poulain 82 und Louis du Pont das. 99.


  nach oben 

Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  20) 

ihrerseits. Ein Gefühlsklima ist bei den gemeinsam: Scheu, Ehrfurcht, erhabenes Grauen, Aufblick und Versinken. Und so bewegen sich auch ihre Wirkungen augenscheinlich in der Richtung des früheren Heiligkeitsstrebens, dessen' Jenseitigkeit' sie, aus nun schon verständlichen Gründen, bedeutend verstärken: nämlich teils durch die Bürgschaft unsichtbarer Wirklichkeit, die sie zu geben scheinen, teils unmittelbarer durch die 'organische' Ich-Zersetzung infolge des ekstatischen und rauschartigen Bestandteils in ihnen. - Ich will auch .diese Reihe mit einem modernen Beispiel schließen, das diese verjenseitigenden Wirkungen ausdrücklich hervorhebt.

M. C. L., ein bedeutender amerikanischer Prediger und geistig regsamer, tief forschender Kopf, hatte den Aushilfsbesuch eines Amtsbruders gehabt und glaubte in diesem, eines Nachts nach dessen Abreise, eine Verkörperung Christi zu erkennen. Aber kaum traf ihn der Gedanke, als der Freund 'in einem Gesichte Christi vergessen war, das mir nicht von außen, sondern durch die nach innen sich öffnenden Tore gekommen war.

Ich erkannte ihn, war mir seiner bewußt, in meinem eigenen Geist, Seele und Leib. Dann, während sich dieses Bewußtsein entfaltete, vermeinte ich wie von einer zarten Wolke oder Nebel übergossen, in ein Fluidum getaucht zu sein, durchdringender als Wärme oder Äther. .. Die Hingerissenheit, die Geisteserhöhung, die Göttlichkeit dieses Augenblickes übersteigt alles Begreifen.

Dann, geschwinde, kam die heilige Scheu der geheimnisvollen Gegenwart, die mich erfüllte, und ein Bewußtsein der ganzen Schöpfung. .. durchzitterte mich, nicht als Gedanke, Empfindung, Gefühl, sondern als der lebendige Atem Gottes. Dies wuchs an, bis es mir schien, als erhöbe und erweiterte ich mich bis zum Unendlichen, darin ich mich ergoß und verlor, und Geist und Körper schwankten [mir]. Ich fühlte mich fallen und rief aus:

Das Gesicht ist zu groß! Ich kann nicht in Gottes Angesicht schauen und leben! Vater im Himmel, es ist genug!' Er fiel in Schlaf und erwachte nach mehrstündigem Schlummer in unaussprechlicher Freude und erfüllt von Seligkeit.

Und nun die  Folgen dieser Nacht: Der Charakter seiner Predigt änderte sich völlig und wirkte weit ergreifender als je zuvor; erhöhte Geisteskräfte schienen ihm ein klareres Erfassen der Wahrheit zu gewähren; er sah das Kreuz als eine Notwendigkeit seines Lebens vor sich; aber der 'heilige Atem tötete auch Gelüste, Leidenschaft und Haß; er füllte das Herz mit Lachen und die Seele mit Frieden' [1]

Daß der Rausch in der Tat einen wesentlichen Anteil dieser wertung- und haltungbegründenden Erlebnisse ausmache, beweisen die entselbstenden und verjenseitigenden Wirkungen einer andern Gattung von Rauschzuständen der Mystischen, deren Beschreibung sich in unverkennbarer Eintönigkeit durch die Aufzeichnungen religiösen Lebens hinzieht.

Man könnte sie als den Liebesrausch der Mystiker, als die Ekstase der Gottesliebe bezeichnen. Hier wird gewissermaßen die 'Liebe als Zustand' erlebt, eine überquellende Liebesseligkeit, vom glücklichen Hindämmern bis zum erregtesten Rausch, selbst bis zur Auslöschung aller andern Bewußtseinsinhalte. Auch dieser Liebesrausch überfällt .den Mystiker fast immer ohne sein Wollen oder Er-

[1] Bucke 274f.


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  21) 

warten, und verläßt ihn fast nie, ohne etwas von seinem alten 'Selbst' gleichsam weggebrannt und die neue Richtung des Fühlens und HandeIns befestigt zu haben. Gleichwohl knüpft sich sein Einbruch mitunter an ein gewolltes Tun des Mystikers.

Denn diese Rauschzustände gehen zuweilen aus Übungen der Meditation hervor. In dieser sind die Anteile der Vorstellungs- und der gefühlsmäßigen Elemente von Fall zu Fall verschieden, und es ließe sich eine Stufenreihe von Gebets- und Meditationszuständen aufstellen, an deren einem Ende ein Maximum der Anschauung und ein Minimum des Gefühls, an deren anderm ein Maximum des Gefühls und ein Minimum der Vorstellung zusammen beständen.

Das mündliche Gebet, das so viele Kirchen in fester Form vorschreiben, dürfte im allgemeinen dem ersteren Extrem entsprechen. Erst mit seiner wachsenden Ernsthaftigkeit steigert sich die Lebhaftigkeit nicht nur der Bilder, sondern auch des Gefühls: das Gesprochene und Bedachte wird zum Erlebnis; die körperlichen Reaktionen verstärken sich - schwerer Atem, Tränen, Zittern, Herzklopfen; die Wirklichkeit tritt aus dem Bewußtsein zurück.

Darüber hinaus liegen Akte oder Zustände - man schwankt schon, ob man sie so oder so benennen soll -, in denen das mächtige Gefühl, das durch die religiösen Vorstellungen aufgerufen wurde, den weiteren Ablauf der Gedanken mehr hindert als fördert. Es kann sich sozusagen schon an einem dieser Gedanken nicht genugtun.

Der meditierend Betende verliert sich in dem hingerissenen Auskosten einer Vorstellung, etwa 'Gottes Heiligkeit', oder 'Gottes Allmacht', oder 'Gott ward Fleisch um meinetwillen', in einem Zustand anbetender Ehrfurcht, oder hingebender Liebe, Dankbarkeit, Lobpreisung, Demut, Selbstverachtung, Reue u. dgl.

Über diese oraison de coeur oder allective können aber gewisse Naturen noch einen Schritt hinausgehen. Sie machen die Erfahrung, daß die Vorstellung, von der ihre innerliche Betrachtung ausging, sich völlig im Hintergrunde des Bewußtseins verliert, so daß dieses gänzlich von dem Gefühle selbst eingenommen wird, das im Anfang durch die Vorstellung aufgerufen wurde.

Sie entsinken der Welt der Bilder und Begriffe, und ziehen sich in ein Schweigen zurück, in dem nur noch das 'Herz' spricht; in ein bloßes 'Schmecken' der meditierten Vorstellungen, wie Mme Guyon, eine erfahrene Meisterin, es nennt, worin man das Gefühl gelinde und friedlich ruhen und das, was es gekostet und gekaut hat, in einem petit repos amoureux, voll Ehrfurcht und Vertrauen, gewissermaßen hinabschlucken' läßt. [1]

In dieser oraison de repos, de loi, de simplicité [2] haben wir zum erstenmal einen reinen Gefühlszustand und zugleich das äußerste Ziel vor uns, welches die willkürlich betriebene religiöse Praxis nach halbwegs 'normalen', allgemein zugänglichen Grundsätzen noch zu erreichen vermag.

Und doch führen diese Zustände bereits in die Vorhöfe des Ekstatischen und Unwillkürlichen. Denn sie scheinen auf besondere Anlagen bestimmter Personen zu rechnen und der 'Willkür' nur mehr die Rolle der Auslösung zu überlassen. In gesteigerten Formen zumal gehören sie durchaus ins Bereich

[1] Guyon, Opusc. I2ff. IB. I9f. (Moyen Court ch. 11; ch. III § 3; vgl. auch die Anweisung das. ch. IV § 2).
[2] Nach der Guyonschen Terminologie; bei S. Francois de Sales u.a. oraison de simple remise en Dieu, du simple regard, quietude active, silence actif. Vgl. auch Teresa IV 67 (Mor. 4 K. 3).


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  22) 

'passiver' Erlebnisse. Gerade Mme Guyons Erfahrungen verdeutlichen den hier möglichen Übergang in eigenartig schlagender Weise.

Sie hatte sich der verschiedenen Arten der Gebetes beflissen mit dem ganzen Eifer eines religiös angelegten Gemüts, aber mit dem gewöhnlichen halben und unbefriedigenden Erfolge. 'Ich suchte', urteilt sie selbst im Rückblick, '0, 1000CB de tete et de pensees mir eine ununterbrochene [innere] Gegenwart Gottes zu verschaffen, aber trotz aller Mühe kam ich nicht von der Stelle.

Ich wollte durch Anstrengung haben, was ich nur erlangen konnte, indem ich alle Anstrengung aufgab.' Ein Franziskaner, dem sie ihren Mißerfolg klagte, erklärte ihr ihren Irrtum: daß sie im Äußeren suche, was sie im Innern habe.

Sie solle sich gewöhnen, Gott in ihrem Herzen zu suchen; dort werde sie ihn finden. 'In diesem Augenblick', berichtet sie, 'empfand ich eine tiefe Verwundung, voll Wonne und Liebe; eine Wunde so süß, daß ich nie davon zu genesen wünschte.'

Sie meinte von da ab die Gegenwart Gottes in ihrem Innersten zu empfinden. Das affektive' Herzensgebet' war ihr ein unwillkürlich strömender Genuß geworden. Und gleichzeitig trat, jetzt ohne alle Anspannung und wie ein Geschenk des Himmels, jene charakteristische Verschiebung der Instinkte bei ihr ein; ihr selbstischer Wille verlor sich mehr und mehr.

'Ich empfand plötzlich einen Ekel vor allen erschaffenen Dingen; alles, was nicht meine Liebe war, erschien mir unerträglich. Das Kreuz, das ich bis dahin mit Ergebung getragen hatte, war meine Lust und ein Gegenstand des Wohlgefallens:' - also völlig zur Natur gewordene Heiligkeit und Jenseitigkeit. 'Nichts war mir jetzt leichter, als das Herzensgebet zu betreiben; die Stunden verflogen mir wie Augenblicke, ich konnte gar nicht umhin ihm obzuliegen: die Liebe ließ mir keinen Augenblick mehr Ruhe. ..

Von diesem Augenblick an war meine oraison entblößt von allen Formen und Bildern... Es war ein Gebetszustand des Genießens und Besitzens Gottes im Gefühl, ... eine tiefe Sammlung und Versenkung [1] ohne Vorstellungstätigkeit oder Worte [2].. .. Alles war verschlungen in einen süß empfundenen [Akt des] Glaubens...

Ich lebte in einer solchen Absonderung von allen geschaffenen Dingen, daß es mir schien, es gäbe keine Geschöpfe mehr auf Erden. Meine Augen schlossen sich wider Willen und ich verharrte [stundenlang] wie reglos, weil die Liebe mich im Innern wie in einer Feste eingeschlossen hielt.' [3]

Dies ist, was die christlichen Mystiker als 'Gebet der Ruhe' bezeichnet haben, das 'vierte Gelaß der Seele', wie S. Teresa es im Aufbau ihrer Inneren Burg bestimmt, der 'GescIlmack Gottes', wie sie auch sagt, die unvollständige unio mystica neuerer Systematiker.

Aus der Darstellung eines Übergangs der gefühlsmäßigen Meditation in solche reine Gefühlszustände bei Mme Guyon darf indessen nicht geschlossen werden, daß diese Art des innern Liebesgenusses nu bei völliger Ausschaltung der Vorstellungs- und Körpertätigkeit gedeihe. Selbst Mme Guyon  scheint durchaus ähnliches auch während äußerer Inanspruchnahme erfahren zu haben, nachdem diese Art des inneren Glühens sich einmal bei ihr festge-

[1] Recueillement; oraison de jouissance et de possession dans la volonte.
[2] Sang acte ni discours.
[3] Guyon, Vie 11 74; I 75. 78. 80. rio. Vgl. das. I 159; Opusc. 37 (Moyen Court ch. XIII) und die Schilderung der 'Seele' bei Hugo von S. Victor, De arrha animae (bei Migne 11 col. 970).


  nach oben 

Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  23) 

setzt hatte. Sie erzählt zB., daß das innere Feuer sie gelegentlich einer Partie Piquet ergriff, die sie par condescendence mit ihrem Manne spielte. 'Ich konnte kaum die Glut im Zaume halten, die mich verzehrte: und wäre sie weniger ruhig gewesen, hätte ich es nicht ertragen können.

Sie hatte alle Wärme der Liebe, aber nichts von ihrem Ungestüm.' [1] Ja einzelne Mystiker scheinen sich vermittelst dieses innern Glühens (bei erhaltenem Wahrnehmen und Handeln) eine Art Übung der dauernden innern 'Gegenwart Gottes' ausgebildet zu haben. [2] Eine Steigerung des inneren Feuers vermehrt dann freilich wieder die Abziehung von der Außenwelt - die 'Ligatur der Seelenkräfte', wie die Theoretiker der Mystik es nennen.

Mme Guyon mochte wohl eine Arbeit vornehmen, 'um unter einer scheinbaren Beschäftigung die Beschäftigung des Innern zu verbergen', aber dabei konnte sie, nach ihrer eigenen Angabe, schon nicht verstehen, was man zu ihr sprach, und nicht sprechen, wenn man sie zu sprechen nötigte, oder doch nicht wissen, was sie sagte.[3] -

Ganz übereinstimmend sagt auch S. Teresa, daß man in dieser 'innern und äußern Ersterbung' [4] zunächst nur körperliche Bewegung zu vermeiden suche, um nicht jenen süßen Frieden zu verlieren, dessen man genießt; daß das Reden Mühe mache und 'über einem Vaterunser wohl eine Stunde hingehe'; daß man bei erzwungenem Handeln 'ganz ungeschickt und gleichsam betört' [5] sich anstelle.

Aber sie fügt bezeichnenderweise hinzu, Verstand und Gedächtnis seien bei diesem Verschlungensein im Gefühl auch nur 'für das, was zum Dienste Gottes gehört' und zu Werken der 'brüderlichen Liebe' zu gebrauchen, ja darin sogar 'tätiger und mächtiger, als je zuvor'; 'mit Bezug auf die Dinge der Welt aber wie mit Ohnmacht und Vernichtung geschlagen'. [6] Solche Zustände dauerten bei ihr zuweilen einen oder gar zwei Tage hindurch; und diese Neigung zum Fortbestehen scheint allgemein betont zu werden.

Dieser Zustand nun kann sich durch mannigfache Grade steigern, ohne daß, soweit sich von außen urteilen läßt, seine eigentümliche Empfindungs- und Gefühlsbeschaffenheit sich ändert. Das Liebeserlebnis der Mystiker bleibt nicht beim traumhaft-ruhigen Glühen stehen; der glimmende Brand entfacht sich zu Zeiten zur lodernden Flamme, die stille Seligkeit zum hingerissenen Rausch, in welchem Welt und Ich verlöschen.

Anne-Madeleine Remuzat, eine Marseillerin (1696-1730, Religiöse vom Orden der Heimsuchung Mariä), verbringt 'auf den Knien, mit gefalteten Händen, die Augen gesenkt, das Gesicht erglühend', jede freie Stunde vor dem Sakrament; so oft ihr gestattet, auch die Stunden der Nacht.[7] Was in ihr vorgeht, verrät uns wohl eine Äußerung der Angela von Foligno, die über ähnlichem Gebet das Essen vergißt und

[1] Vie I 116 (ch. XII § 11). Sie hatte, sehr jung, eine aristokratische Vernunftehe eingehen müssen.
[2] zB. Br. Lorenz: Recueil 415. (Frere Laurent de la Resurrection, eigentlich Nikolaus Herman, geb. um 1611 in Lothringen, gest. 1691, zuerst Kriegsmann, dann barfüßiger Karmeliter in Paris.)
[3] Vie I 112; vgl. das. 91. 101.
[4] amortecimiento.
[5] torpes y corno embobado.
[6] S. Teresa III I54f. (Camino de la perfeccion c. XXXI); Vii. auch I I38f. (Leben, c. XVII).
[7] Remuzat 133.


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  24 ) 

die Notwendigkeit dazu beklagt: 'In meinem Herzen war ein solches Feuer der Liebe, daß mir weder das Knien, noch irgendeine andere Buße zum Überdruß wurde. Ja später erlangte ich noch größere Inbrunst der Liebe zur göttlichen Liebe. Denn wenn ich irgend jemand von Gott sprechen hörte, so stöhnte ich, und ich hätte mein Seufzen nicht unterdrücken können, hätte auch einer über mir mit einer Axt gestanden, mich zu erschlagen.' [1] -

S. Teresa spricht bereits von einem 'innerlichen Frohlocken', in welchem die Seele im Innersten einen solchen Andrang der Freude empfindet, daß es ihr schwer fällt, darüber zu schweigen; [2] und der bereits erwähnte Lyonnard gebraucht Ausdrücke, die eine noch wesentlich gesteigerte Heftigkeit der Erfahrung andeuten: 'Der Herr hatte mir gesagt, daß die Stimme seiner Liebe in meinem Herzen wie die Stimme des Donners ertönen würde.

In der folgenden Nacht entlud sich denn auch über mir, was ich fast einen Sturm der göttlichen Liebe nennen würde, falls das Wort nicht etwas Unruhiges bezeichnete... Die Seele, auf allen Seiten von dem unendlichen Wesen ihres Gottes überflutet, in welchem sie die Empfindung hat, untergetaucht zu sein, beschwört ihren Gott, Erbarmen mit ihrer Schwachheit zu haben.

Als ich dieses Gebet tat und seine göttliche Majestät anflehte, doch wohl zu bedenken, daß die Heftigkeit seiner Liebe in keinem Verhältnis zur Schwachheit meines armseligen Herzens stände, empfand ich in mir einen neuen Eindruck dieser Liebe; und aus dem Innersten dieser Fluten himmlischer Flammen, die mich von allen Seiten überschwemmten, vernahm ich die Stimme dieses großen Gottes, die mit dem Ausdruck unermeßlicher Liebe sich beklagte, nicht genügend von den Menschen geliebt zu werden.'[3]

Ähnliches beschreibt der friesische Bauer Hemme Hayen, ein Erweckter des 17. Jahrhunderts, der in einer Nacht von eines 'Lichtes Kraft' geweckt wurde, das seine 'Gedanken auf gewisse Sprüche in der Schrift leitete, so daß mir sogleich ihr geistlicher Sinn aufgedeckt ward und ich tiefer in ihr Geheimnis sah, als ich je zuvor gekonnt...

Dabei genoß ich eine übernatürliche, ganz übermenschliche, himmlische Süßigkeit in der Seele, und eine solche Gemeinschaft mit dem allgemeinen Wesen, daß ich im Übermaß solcher Freude mich nicht enthalten konnte, laut aufzuschreien. .. Die Bewegung im Innern war so stark, daß ich drei Tage lang nicht ausgehen konnte.'

Tagelang kam kein Schlummer in seine Augen. 'Ich war innerlich erfüllet und durchglühet, daß ich meinte, ich müßte vergehen vor der Herrlichkeit. Der Leib war zu schwach, diese Last zu ertragen. Daher bat ich: Herr, nicht mehr, oder ich muß vergehen." [4]

So gelangt der mystische Liebesrausch allmählich auf seinen Gipfel. Der Gotterfüllte läuft umher, oder bricht wie trunken zusammen; [5] er stößt einzeIne Worte oder nur Töne aus. :

Die eben erwähnte Schwester Remuzat muß in solchem Zustande 'wie außer sich' in ihre Zelle getragen werden; und kein Wort ist ihr zu entlocken, als 'Jesus, Jesus!' [6] Der Franziskaner Massa kann nichts hervorbringen, als U, U, U, bis er schließlich in 'eine Art von Schlummer, den der Kontemplation, des Ruhegebetes' übergeht.

[1] Thorold I07f. Vgl. Preger I 117 (über Mechthild von Hackebom) und 11 53; Poulain 108 (Niederschrüt der Marg.-Marie Alacoque v. J. 1673 und Außerungen der Ursulinerin Marie de l'lncamation).
[2] S. Teresa IV 152 (Mor. VI c. 6); vgl. die fubtiatio der mittelalterlichen Schrütsteller.
[3] Lyonnard, Notice biogr. § 11.
[4] Sein Leben bei Kanne I 1-26. Die typische Bitte um 'Einhalten' zB. auch bei Preger 11 258 (Jützi Schultheiss), 275 (Adelh. Langmann), Görres 11 6. 8; Bacci I 29; Phillips 160, und sonst vielfach.
[5] Lechner 61
[6] aaO. 88.


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  25) 

Siicut enim, fügt der alte Erzähler [1] hinzu, und ich lasse seinen Worten ihr Latein, sicut enim in ebrietate vinum haustum digeri nequit, ac evomitu" ita spiritualis volup-tas intus concepta et effervescens, cum ei modus addi nequit, a,denter efflatu,. - Ja, dern Bruder Lorenz geschah es, daß er unter dem Kusse der Gottheit 'laut rief, sang und tanzte, als wäre er rasend geworden.' [2]

Daß dies nicht seltene und vereinzelte Vorkommnisse, sondern typische Zustände des mystischen Lebens aller Zeiten sind - und bei Männern vielleicht nicht viel seltener als bei Frauen -, beweist zum Überfluß ihr allgemeines Angeführt- und Eingeordnetwerden durch die theoretischen Schriftsteller vom Fach. [3]

Es ist übrigens bezeichnend, daß das so oft erflehte Nachlassen meist wieder ein Verlangen nach der Wiederholung der Erfahrung, ja eine Gier nach einem Mehr entstehen läßt, die gelegentlich auch die Gipfelerfahrung selber färbt.

Eine peinigende Unbefriedigung treibt den Gottesliebhaber fort; die Empfindung, als halte er vor unaussprechlichen Möglichkeiten der Liebe und der Erkenntnis, die ihm eben nur entschlüpfen; die er vielleicht verliere, weil er nicht völlig genug sich dem Strom überlasse. Der Durst, 'Gott zu kosten', steigert sich zu einem Durste, völlig 'mit ihm vereinigt' zu werden, in ihm unterzugehen.

Man glaubt in den Zeiten des Nachlassens 'die innere Stimme des Geliebten' zu empfinden, 'die uns lockt und ruft; ein sanftes, zartes Flüstern, das aus dem Geheimsten der Seele, wo seine Wohnung ist, hervordringt und sie mächtig ergreift, ja selbst zerschmilzt und auflöst, indem sie sieht, wie nahe sie ihn in sich selber hat und wie fern er ihr doch ist, also daß sie nicht dazu gelangen kann, ihn zu besitzen'.'[4]

Und wenn irgendwie und -wann, so findet dies Verlangen seine Befriedigung, sobald der seelische Zustand, dessen Anwachsen wir bisher verfolgt, seine von Natur gegebene äußerste Grenze erreicht: wenn das Anschwellen des Affektes das Ich zeitweilig scheinbar vernichtet: also in der Ekstase.

So erzählt, um ein Beispiel aus hunderten zu geben, der Biograph der Beatrix von Nazareth, einer häufig 'Verzückten', daß sie etwa nach einem gemeinsamen Mahle, vor vielen Personen, bei Absingung des Lobgesangs des hl. Bernhard, unbeweglich, starr, scheinbar ohne zu atmen, dagesessen, nach einigen Stunden gähnend aufgeseufzt, langsam zu atmen, endlich leise zu reden begonnen habe, in einzelnen Worten:

Geliebtester! Süßester! Trauter! Bräutigam! 'Und war dabei von solchem Jubel bewegt, daß sie, am ganzen Leibe zitternd, die Zeit eines Miserere hindurch mit eingezogenem Atem verharrte, und dann ebenso lange unbeweglich blieb. Es dauerte dieses Aufjubeln und Jauchzen... zweier Messen Dauer hindurch.' [5]

[1] Juan de Jesu-Maria.. bei Rousselot 419 Anm.
[2] Reitz III 112f.; Görxes 11 283 Osanna v. Mantua).
[3] S. zB. Ruysbroeck 62f.: Laufen, Springen, Zappeln, Fuchteln, Klatschen, Schreien; S. Bonaventura, Proc. relig.l. VII c. IS (bei Scaramelli II 47; vgl.53): Jubel, Zittern, Gelächter, Geschrei; Rich. v. St. Victor, De gratia contempl. 1. V c. 5; ); David v. Augsburg, De septem processibus c. 37 (Preger I 279); islamische Parallelen aus Rumi und Ferid ed-d1n bei Eth6, Morgenländ. Studien 122.
[4] Molinos 80. Vgl. Ruysbroeck 108f.; S. Jean 111 296f. (N. 0., 1. I c. XI in.); Tholuck 33 (Rabia).
[5]
Görres II 249f. Nach S. Teresa I 149 wäre dies schon lang; doch irrt sie wohl.      I


  nach oben 

Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  26) 

Verzichten wir wiederum auf gründliches Theoretisieren, bis unsere Kenntnis der Tatsachen sich erweitert hat, so sieht doch auch hier schon der erste zergliedernde Überblick, daß die beschriebenen Erfahrungen nicht nur unter sich, sondern auch mit den früher vorgeführten innerlich eng verwandt sind. [1]

Alle Arten der mystischen Liebeserfahrung bezeichnen Zustände, in denen die festumrissene, starre, wachsam-aggressive Ich-Einstellung im Feuer eines mächtigen Gefühls, eines ungerufen hervorbrechenden Rausches hin- schmilzt, und jene ich-lose, strömende, selighingegebene Haltung erreicht wird, von der wir ohne weiteres herausfühlen, daß sie mit der Gott- und Menschen-Hingegebenheit des jenseitig-heiligen Charakters aus einerlei Stoff sei und darum höchst geeignet, ihn zu begründen oder zu verstärken und festigen; eine Wirkung, die von den Eingeweihten der mystischen Liebe denn auch einstimmig diesen Erlebnissen, und zwar in viel weiterem Maße, als der asketischen Selbsterziehung, zugeschrieben wird.

Auch hier also das Bild der Verinnerlichung und Verjenseitigung, der Abkehr von Sinnenlust, der Zuwendung zur tragischen Lebensauffassung; Wirkungen, in denen sich alle bisher beschriebenen Arten geistlicher Erfahrungen gleichen.

In dieser Beschreibung halte ich nun einstweilen inne. Was an erwecklichen Erlebnissen bisher noch nicht erwähnt ist, wird mit größerem Nutzen an anderer Stelle zur Sprache kommen. Doch will ich, um das Bild schon bei dieser ersten Enthüllung um ein Geringes abzurunden, von jenen später zu besprechenden Arten des Erlebens wenigstens zwei der wichtigsten in Beispielen andeuten: wir können sie kurz als Gesichte und Einsichten bezeichnen.

Sie haben das Gemeinsame, daß sie sich nicht auf Vorgänge des Gefühls beschränken; sie beschäftigen das inhaltliche Aufnahmevermögen des Geistes. Von der ersteren Gattung mag das entscheidende Erlebnis des Obristen Gardiner eine Vorstellung geben. Es ist auch dadurch merkwürdig, daß ihm anscheinend kein Leben bewußter religiöser Bemühung vorausgegangen war.

Gardiner war von früh auf ein Mann der Waffen und des mehr oder weniger wüsten Lebensgenusses gewesen. Liebeshändel, Duelle und Schlachten hatten die Hauptbeschäftigung des hochgewachsenen und starkgebauten Offiziers gebildet.

Die Wendung seines Lebens überraschte ihn, während er eines Nachts sich die Zeit des Wartens auf ein ehebrecherisches Stelldichein mit dem Lesen eines Buches vertrieb, in welchem die Schicksale des Christen in Bildern und Ausdrücken des kriegerischen Berufes geschildert wurden, und von dem er sich eben deshalb überlegene Belustigung versprach.

'Er glaubte', so erzählte er später Dr. Doddridge, mit dem er eng befreundet wurde, 'während er las, zu bemerken, daß ein ungewöhnlicher Lichtglanz auf das Buch fiel, was er anfangs irgendwelchem Fehler der Kerze zuschrieb, aber indem er die Augen aufhob, gewahrte er zu seinem äußersten Erstaunen eine sichtbare Abbildung des Herrn Jesus Christus am Kreuze, die auf allen Seiten von  einem Glorienschein umgeben war, und hatte den Eindruck, als käme eine Stimme

[1] Ein gutes Beispiel des Ineinanderspielens aller bieten die Tagebuchaufzeichnungen der protestant. Mrs H. A. Rogers: Rogers 2o6 ff .


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  27) 

zu ihm, oder etwas wie eine Stimme, dieses Inhalts (denn der genauen Worte war er nicht ganz sicher): 0 Sünder, habe ich dies für dich gelitten, und vergiltst du mir so? Diese erschreckliche Erscheinung erschütterte ihn dermaßen, daß kaum Leben in ihm blieb und er in dem Armstuhl niedersank, in welchem er saß, und - wie lange, wußte er nicht genau zu sagen - halbwegs ohne Bewußtsein verharrte. . .

[Als] er aber die Augen öffnete, sah er nichts Ungewöhnliches mehr'. Ohne seines Stelldicheins weiter zu gedenken, und aufs tiefste erregt, ging Gardiner in seiner Stube auf und nieder. Er 'erschien sich selbst als das verächtlichste Ungeheuer in Gottes Schöpfung, ... und damit verband sich ein solcher Anblick der Erhabenheit und Güte Gottes, daß er sich selbst um so mehr hassen und verabscheuen und in Staub und Asche Buße tun mußte.

Die nächsten Nächte verbrachte er fast schlaflos. Seine ganze Sinnesart aber war von diesem Tage an völlig verändert. .. Eine gewisse Bedrückung, die ihm zunächst noch blieb, wurde ihm einige Wochen nach seiner Bekehrung abgenommen und er faßte Hoffnung auf seinen Erlöser.' Dabei erlebte auch Gardiner jene 'unaussprechliche Freude', von der wir oben so viele Beispiele kennen lernten: sie beraubte ihn drei Nächte lang des Schlafes.

Sein ganzes ferneres Leben war von einer außerordentlichen Frömmigkeit erfüllt, die Gardiner auch bei jeder Gelegenheit seinen wilden Umgangskreisen gegenüber furchtlos vertrat. [1]

Hierran füge ich noch den Bericht über ein etwas verwickelteres Gesicht, durch das eine in der Heiligung bereits Vorgeschrittene anscheinend bedeutende Verstärkung ihrer geistlichen Fähigkeiten erfuhr. S. Katharina von Siena berichtete dem P. Thomas della Fonte das Nachstehende über ihr Erlebnis am Alexistage (18. Juli) des Jahres 1370:

'Als ich... das hl. Sakrament aus eurer Hand erhielt, zog es mich dermaßen in sich hinein, daß alle Dinge außer ihm mir verhaßt wurden. .  Ich flehte zu Gott, daß er ... meinen Willen hinwegnehmen und mir den seinen geben möge, welche Bitte er gewährte mit den Worten: Siehe, liebe Tochter, hiermit gebe ich dir meinen Willen, kraft dessen du so stark sein sollst, daß du . . . immerdar in einem Zustande verharrest.'

Darauf nahm er ihre Seele in seine Arme und legte ihre Lippen auf seine Seitenwunde, 'und meine Seele, sagt die Heilige, war imstande, ihren Wunsch zu stillen und sich in seine heilige Brust zu verbergen und dort himmlische Tröstung zu finden. 0, wüßtet lhr's nur, Ihr würdet erstaunen, daß mein Herz nicht völlig verzehrt ist von Liebe, und daß ich noch lebe, nachdem ich solch brennendes Feuer der Liebe erfahren.'

Am seIben Tage noch nahm ihr Christus in einem zweiten Gesichte das Herz fort und fügte ihr zwei Tage danach ein neues ein, gerade als sie über die Worte meditierte: Schaff in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Über die Folgen aber dieses Erlebnisses tat sie zu dem erwähnten Zeugen folgende bezeichnende Äußerung: 'Vater, ich bin nicht mehr dieselbe. Wahrlich, wenn einmal gewußt werden könnte, [was ich empfunden,] ) gäbe es keinen Stolz, der dem standhielte...

Das Feuer der Liebe, das in meiner Seele brennt, ... wie vermehrt es die Liebe zu unserem Nächsten! Es würde das irdische Glück sein, für eine andere Seele zu sterben.' [2]

Die oben zuletzt erwähnte Art erwecklicher Erfahrungen mag das folgende Beispiel vorläufig verdeutlichen, welches ohne Gesicht im engeren Sinne verläuft aber neben dem Gefühl der 'Gegenwart Gottes' und mystischer Glücks-

[1] Doddridge 23-,.25. 54f. 57f. 117.
[2] Drane I 107-111.


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  28) 

empfindung einen Bestandteil des 'Verstehens', der angeblichen 'Einsicht' in übersinnliche Dinge einschließt.

Der Erzähler war Sohn eines Geistlichen, hatte aber seit dem Abgang von der Universität die Schwelle keiner Kirche mehr überschritten, erwarb sein Geld durch schriftstellerische Arbeiten und vertrank es so gründlich, daß er mitunter eine Woche lang nicht nüchtern war. Trotz gelegentlicher Zwischenzeiten der Enthaltung, bewirkt durch Reue über eine solche Vergeudung seiner reichen Gaben, hatte er doch, wie er schreibt, bis zu seinem 30. Jahre nie ein Verlangen, sich auf religiöser Grundlage zu bessern.

Seine ungewöhnlich starke Natur gestattete ihm immer wieder den vollsten Lebensgenuß, solange er sich des Trunkes enthielt. 'Ich wurde bekehrt', schreibt er, 'in meinem eigenen Schlafzimmer, in meines Vaters Pfarrhaus, Schlag 3 Uhr nachmittags an einem heißen Julitage (13. Juli 1886).

Ich war bei vollkommener Gesundheit, nach fast einem Monat völliger Enthaltung vom Trunk. Ich war in keiner Weise um meine Seele besorgt. Gott war mir an jenem Tage überhaupt nicht in den Sinn gekommen.

Eine junge Dame meiner Bekanntschaft hatte mir Prof. Drummonds 'Naturgesetz in der Geisteswelt' geschickt mit der Bitte, daß ich mich darüber rein unter literarischen Gesichtspunkten äußere. Stolz auf meine kritische Begabung... nahm ich das Buch in mein Schlafzimmer, um es un- gestört und gründlich durchzugehen.

Hier war es, daß mir Gott von Angesicht zu Angesicht begegnete, und diese Begegnung werde ich nie vergessen. 'Wer den Sohn hat, hat das ewige Leben; wer den Sohn nicht hat, hat das Leben nicht.'

Dutzende von Malen zuvor hatte ich die Worte gelesen, aber diesmal waren sie etwas völlig Neues. Ich war jetzt in Gottes Gegenwart; meine Gedanken waren an die Worte wie angeschmiedet und es ließ mich nicht weiterlesen, bis ich die ganze Bedeutung der Worte einigermaßen betrachtet hatte. Erst dann konnte ich fortfahren, und fühlte die ganze Zeit über, daß ein anderes Wesen in meinem Schlafzimmer wäre, obgleich von mir nicht gesehen.

Die Stille war sehr wunderbar und ich fühlte mich im höchsten Grade glücklich. In einem Augenblick wurde es mir bewußt bis zur völligen Zweifellosigkeit, daß ich das Ewige nie berührt hatte, und daß ich, falls ich jetzt stürbe, unentrinnbar verloren wäre. .. Ich wußte es so gut, als ich jetzt weiß, daß ich erlöst bin.

Der Geist Gottes zeigte es mir in unaussprechlicher Liebe; es lag kein Schrecken darin; ich fühlte Gottes Liebe so mächtig über mir, daß nur ein tiefer Schmerz darüber mich beschlich, daß ich alles durch meine eigene Torheit verloren hatte. ..

Dabei war ich die ganze Zeit über im höchsten Maße glücklich; ich fühlte mich wie ein kleines Kind vor seinem Vater Und dann überschlich es mich gelinde, voll Liebe und unmißverständlich, daß es einen Ausweg gebe... 'Euch ist kein anderer Name gegeben, darinnen ihr selig werdet, als der Name des Herrn  Jesus Christus.'

Keine Worte wurden zu mir gesprochen; meine Seele schien meinen Erlöser im Geiste zu sehen, und seit jener Stunde bis auf diesen Tag, nun fast neun Jahre lang, habe ich nie... gezweifelt, daß der Herr Jesus Christus und Gott der  Vater an jenem Juli-Nachmittag auf mich einwirkten, jeder in verschiedener Weise und beide in der vollkommensten Liebe, die sich erdenken läßt, und meine Bekehrung dort und in jenem Augenblick war so erstaunlich, daß das ganze Dorf in weniger als 24 Stunden davon hörte. . .'

Die praktischen Früchte auch dieses Erlebnisses lagen in der Richtung alles dessen, was wir bisher an solchen Wirkungen beobachteten. Neben völliger Befreiung von dem besonderen Laster des Trunkes bezeugt auch dieser Erzähler die Selbsthingabe an Gott 'in dem tiefgewurzelten


Kap II.  Erweckliche Erfahrungen.    (S.  29) 

Glauben, daß meine Eigenpersönlichkeit zerstört werde, daß Er alles von mir nehmen werde, und ich dazu bereit sei. In solcher Übergabe liegt das Geheimnis eines heiligen Lebens... Mit Rücksicht auf jede bekannte Sünde [ging es mir wie mit dem Trunk]: die Befreiung davon in jedem einzelnen Falle war dauernd und vollständig.' [1]

[1] Mitgeteilt von Leuba in Studies in the Psychol. of Rel. Phen., AlP VII (1896); daraus bei James, Varieties 220 ff.

  nach oben                  nächstes Kapitel 


Sie befinden sich auf der Website: 

Hier geht es zur Homepage!