Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 711)

Ehe ich indessen diese Rettungen intellektualer Mystik zum Abschluß bringe, will ich noch einen Typ erkenntnisgebender Erfahrungen erstmalig zur Sprache bringen, [2] dessen Verständnis durch die Ergebnisse vorausgegangener Abschnitte bedeutsam gefördert wird:

ich meine das häufig bei Erweckten (aber nicht nur bei ihnen) anzutreffende subjektive Bewußtsein, daß man das 'ewige Leben' - nicht etwa nach dem Tode erlangen werde, sondern gegenwärtig habe; daß man jetzt 'unsterblich', richtiger vielleicht: der Zeitlichkeit entrückt und mitten in der Ewigkeit sei.

Früher gegebene Beispiele haben diese Einzelheit schon vorübergehend angedeutet, aber keine Vorstellung von ihrer Häufigkeit und Reichhaltigkeit gegeben. Einige weitere Angaben - fast zufällig zusammengelesen - mögen daher zunächst jene Andeutungen ergänzen.

Rufen wir buddhistische Lehre als Vertreterin indischer Mystik auf, so stoßen wir auf die Auffassung des Nirvana-Erlebnisses als Entrückung in die 'unsterbliche (oder todentrückte) Sphäre', was Beckh auch mit 'ganz über aller Zeitlichkeit liegend' umschreibt. [3]

Daß diese Sphäre 'mit dem Körper berührt', d. h. schon im Leibe erlebt werden könne,[4] beweist den erfahrungsmäßigen Ursprung der Lehre. -

Innerhalb griechischer Gedanken- und Erfahrungswelt finden wir das 'Gefühl der Göttlichkeit und Ewigkeit' der Seele im ekstatischen Erlebnis  bakchischer Kulte 'blitzartig' sich offenbarend, [5] und bei Plato den geläufigen Gedanken, die durch Philosophie völlig 'rein' gewordene Seele erreiche ein Ziel 'außer Raum und Zeitverlauf, ohne Vergangenheit und Zukunft, ein ewiges Jetzt'. [6]

Von hier führt ein Schritt, den neuere religionsgeschichtliche Forschung immer kleiner erscheinen läßt, zu allbekannten evangelischen Ausdrücken wie: daß Gott (und seinen Abgesandten) erkennen das ewige Leben sei.[7]

Und die gleiche Sprache hat seitdem die Mystik immer geführt. Gottes Geist sei über der Zeit, sagte die Deutsche Theologie, in der Vereinigung mit ihm finde man also das Himmelreich und ewiges Leben auf Erden. Wer sehend wurde im göttlichen Licht, besitzt nach Ruysbroeck das ewige Leben; deutlicher: das Gefühl der Ewigkeit seiner Seele. [8]

Von den Begharden berichtet Bischof Johann von Ochsenstein, daß sie behaupteten, ewig zu sein und schon hienieden in der Ewigkeit zu leben. [9] - Im Anfang des

[2] Ich werde daher auch die naturalistischen Deutungen hier besprechen.
[3] Amata dhatu: Anguttaranikaya IV S. 423f. u. a., bei Beckh II 54.
[4] Das. 117.
[5] Rohde II 33.
[6] Das. 286. Vgl. bes. das xxxxx Sympos. 212A; verwandt: Soph. 254A; Rep. 6, 500D. Sufisch: Palmer 24.
[7] Ev. Joh. 17.3 u. ö.
[8] Ruysbroeck 153; üb. sentiment de son éternité s. Jundt, aaO. 113.
[9] Jundt, aaO. 52. Vgl. Eckehart 30.


Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 712)

17; Jahrhunderts lehrt zB. Ezechiel Meth, Neffe des Mystikers Esaias Stieffel, daß die äußeren Sakramente wertlos, der' Geist Gottes alles sei; daß Christus persönlich und wesentlich mit ihm sei und alles, was er tue, mittue, so daß er ohne Sünde sei; daß er kraft der Beiwohnung Christi unsterblich, daß er schon gestorben sei und das ewige Leben schon hier gewiß und vollkommen habe. [1]

Überspringen wir noch zwei Jahrhunderte, so finden wir zB. bei Schelling in andern Worten die gleiche Lehre wieder; ein neuer Beleg für den Zusammenhang gewisser Philosophien mit Mystik.

'Uns allen, meint er, wohne ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen her hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.

Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher alles, alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben... In diesem Moment der Anschauung schwindet für uns Zeit und Dauer dahin: nicht wir sind in der Zeit, sondern die Zeit - oder vielmehr nicht sie, sondern die reine, absolute Ewigkeit ist in uns.' [2]

Man wird schwerlich bezweifeln können, daß hier im Grunde überall die Erfahrung spreche, und nicht bloß der abstrakte Lehrbegriff. Im übrigen ist an ausdrücklichen Selbstbezeugungen von Erlebnissen eben dieses Typs kein Mangel.

In einem Gespräche Muhameds mit Ssaid werden letzterem die Worte zugeschrieben: 'Tag und Nacht sind mir wie ein Blitz verschwunden, ich umfaßte zumal die Ewigkeit vor und nach der Welt, so daß in solchem Zustande hundert Jahre oder eine Stunde dasselbe sind.' [3] -

Die ehrw. A. de St. Barthelemy will in einer Ekstase von Augenblicksdauer die 'Ewigkeit Gottes' gesehen haben. [4] Bradley, dessen erweckliche Erfahrungen uns James berichtet, will durch sie alle Todesfurcht verloren haben. [5] - Ausführlicher ist das Zeugnis jener 'modernen Mystikerin', deren Vertrauen zu besitzen Prof. Flournoy das Glück hatte.

'Ich war, schreibt sie von einer ihrer Ekstasen, nicht länger meines Körpers noch meiner selbst bewußt. Worte vermögen nicht zu beschreiben, was ich erfahren habe... Vor allem verschwand der Eindruck der Zeit, des Ablaufs der Vorstellungen. Wir alle haben hundertmal versucht, uns vorzustellen, was die Ewigkeit, die Nicht-Zeit sei.

Ich glaube in sie eingetaucht gewesen zu sein. Es war eine Art inneren, aber nicht abstrakten Lichtes, das mich durchdrang, das ich aber nicht zurückwarf. Einerseits hatte ich das Gefühl, nicht mehr zu sein, anderseits umfaßte ich das Unsichtbare, die Realität der Gegenwart, ich möchte fast sagen: des Lebens Gottes.

Ich bin schlechthin gewiß, daß ich nichts gesehen, nichts gefühlt, nichts gehört habe; und doch war Jemand um mich und in mir, in dem Sinn, daß ich seihe Realität empfand, ein Etwas, was mehr innerlich ist, als äußerlich. Es war eitle Unermeßlichkeit und eine Innerlichkeit zugleich.' [6]

[1] Bei Ideler I 153f. Des Es. Stieffel typisch myst. Lehren das. 157.
[2] Schelling WW. I, I 318f.
[3] Zit. bei v. Hartmann 317.
[4] Bei Poulain 264.
[5] Bei James, Varieties 191; vgl. auch Dixon I 220f. (üb. Prince).
[6] intimité. - Flournoy, M. M. 63. Vgl. H. Amiel, Fragments d'un journal intime. ed. E. Scherer (Genf 1887) I S. XIV.; R. Jefferies. The Story of my heart, 8. Aufl. (Lond. 1904) 61; Pratt 256.


Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 713)

Das Bewußtsein des 'ewigen Lebens' ist hiernach vornehmlich eine Erwerbung abnormer, im äußersten Falle ekstatischer Zustände; wie übrigens zu erwarten wäre, wenn es einer Annäherung an das Über-Ich verdankt würde.

Eben darum aber erscheint es bemerkenswert, daß auch abseits von ausgesprochen erwecklichen Erfahrungen in ekstasoiden, wie etwa in tieferen hypnotischen Zuständen ein ähnliches Bewußtsein des Unsterblichseins sich häufig einstellt.

Du Prel hat geradezu behauptet, daß 'die unerschütterliche Überzeugung von der Unsterblichkeit ein konstantes Merkmal bei allen Somnambulen, und selbst bei den Gläubigen unter denselben viel entschiedener, als im Wachen' sei. [1]

Merkwürdig sind zB. die Äußerungen eines Transmediums, der schon 'erwähnten Mrs. Finch, einer (wie gesagt) scharfen Selbstbeobachterin, - merkwürdig, weil diese im Wachen ausdrücklich den Gedanken der Unsterblichkeit der Persönlichkeit ablehnt, vielmehr ihre Auflösung in dem großen unbekannten Göttlichen erhofft.

'Aber während einer Sitzung, wenn sich soz. die innere Vision offenbart, fühle ich, wie eine Änderung in mir vorgeht; ... dann glaube ich... an die Unsterblichkeit der Persönlichkeit; ich fühle... die Ekstase der Gemeinschaft und (wie mir scheint) des unmittelbaren Einflusses einer göttlichen Persönlichkeit und das Einströmen der Inspiration aus einer entfernten Quelle der Erkenntnis.' [2]

Aussagen dieser Art sind sicherlich nicht ohne weiteres zu 'verstehen'; sie spielen augenscheinlich um eine besondere Art von Erfahrung herum, die nicht jedermann zuteil wird; aber was diese sei, ja ob sie überhaupt in allen Fällen die gleiche sei, ist nicht leicht zu sagen.

Einige der angeführten Bekenntnisse könnte man, wenn sie allein ständen, als Äußerungen lediglich gehobenen Selbstbewußtseins deuten wollen: den Glauben, man 'könne niemals sterben'; das Schwinden aller Todesfurcht; das Bewußtsein, schon auferstanden zu sein - möchte man als Anzeichen jener exaltierten Ich-Veränderung fassen, die ja einen Teil der Erweckung ausmacht.

Andere Worte freilich übertönen dergleichen sparsame Deutungen und weisen auf ein wirklich verändertes Verhältnis des Ichbewußtseins zur Zeit hin: man hat Gottes Geist über allem Verlauf; man lebt in der Ewigkeit; man schaut das Ewige in uns an; Zeit und Dauer schwinden - solche Worte beanspruchen entscheidendes Gewicht für sich; sie fordern, daß man die zweideutigen nach ihnen auslege, nicht sie nach jenen.

Nun sind ja abnorme Veränderungen der Zeitauffassung dem Psychologen nicht unbekannt, und es liegt nahe, sich von ihm die banale Deutung einer Erfahrung zu erbitten, die mit so großen 'metaphysischen Ansprüchen auftritt.

Alle angeführten Erlebnisse sind ja zugestandenermaßen mehr oder minder ekstatische, gehören also einem Zustande an, in welchem die experimentell ermittelten Bedingungen normaler Zeitauffassung verändert sind.

[1] Du Prel, Pb. d. M. 496. Er gibt allerdings keine überzeugenden Beispiele.  
[2] PS XXXIV 654f.


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Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 714)

Diese Bedingungen beziehen sich sowohl auf die Art, Menge und Verteilung der in der objektiven Zeiteinheit dargebotenen Empfindungs- oder Vorstellungsinhalte, als auch auf den psychischen Zustand, dem die Auffassung dieser Inhalte als aufeinanderfolgender zufällt.

(Denn immer setzt natürlich die psychologische Theorie der Zeitauffassung den objektiven Ablauf voraus, leitet also bloß die Erfassung der Zeit, nicht diese selbst ab; sieht sie doch als Einheit dieser Erfassung nicht den ausdehnungslosen mathematischen Augenblick an, sondern ein 'psychologisches Jetzt' als bereits gleichzeitig gegebene ausgedehnte Größe. [1])

Der nähere Nachweis, wie aus der Apperzeption rhythmischer Eindrücke unter Mitwirkung von Gefühlsmomenten sich die Vorstellung eines regelmäßigen Zeitverlaufs entwickle, mag in den Lehrbüchern nachgeschlagen werden. [2]

Wichtiger für unsere Zwecke, als diese Ableitung der normalen und richtigen Zeitapperzeption, sind die mannigfachen Beobachtungen über deren abnorme und krankhafte Veränderungen, zumal derjenigen, die das Subjekt aus der normalen Zeit in einer Weise hinausversetzen, die mit den ekstatischen Erfahrungen der Erhebung in die 'Ewigkeit' etwa verglichen werden könnte.

Ich erinnere zunächst an gewisse Erfahrungen jener Kranken, deren gerade apperzeptive Störungen uns schon einmal zu Vergleichen mit dem mystischen Erleben anregten: der Psychasthenischen. Jene apperzeptiven Störungen, die ihnen oft die ganze Welt unwirklich werden lassen, sind es offenbar auch, die ihr Zeitbewußtsein in eigentümlicher Weise verändern.

So beklagt sich. zB. Janets Bei. . ., 'daß sie den Zeitsinn verloren habe, die Bedeutung der Worte: gestern, heute, morgen nicht [mehr] verstehe; der Tag verstreiche, ohne daß sie begreife wie; sie glaube immer im selben Augenblick zu sein. - Eine Andere meint, wenn sie sehr krank sei, so scheine ihr keine Zeit mehr zu bestehen. [3] -

Die Zeit, sagt ein Dritter, scheint mir endlos zu dauern; . . . mir ist, als schwelle mein Wesen allmählich an, ... als vergrößere es sich um Welten und um Jahrhunderte, dann findet eine Art von Entladung statt und alles verschwindet und hinterläßt mir einen furchtbaren Schmerz in Kopf und Magen. ..

Die Ewigkeit existiert also wirklich; ich habe sie eben erst gesehen, gefühlt... Dies ist das Ergebnis einer unmittelbaren, unverkennbaren Wahrnehmung, augenscheinlicher, als mein Ichbewußtsein.' [4]

Diese Äußerungen scheinen alle auf die gleichen Vorbedingungen hinzudeuten; auf Bedingungen zudem, die mit denen des mystischen Ewigkeitsbewußtseins eine gewisse Verwandtschaft haben.

Zwar liegt hier keine Ekstase vor, aber die Blässe und der Erinnerungsschwund, die den äußeren Eindrücken der Psychasthenischen eigen sind, haben den Erfahrungsbestand der Welt verarmen lassen, also eine Vorstufe jener Wandlung gesetzt, welche die Ekstase so häufig auf den Gipfel führt. Es geschieht nichts;

[1] Wundt III 87. Vgl. o. S. 480.
[2] zB. Wundt III 23.
[3] Janet. Obs. 292. 293.
[4] Vile..., das. 137.


Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 715)

aus der Langenweile wird Leere; das Gleichmaß der Wüstenfarbe täuscht auf die Dauer ein Nichts vor, - und das, worin nichts geschieht, wo die Welt stille steht, ist das nicht eben die 'Ewigkeit'?

Findet doch schon die experimentelle Normalpsychologie, daß eine Aufeinanderfolge schwächerer Eindrücke langsamer erscheint, als eine solche stärkerer Eindrücke in der objektiv gleichen Zeit. [1] Was hier die experimentelle 'Hemmung' der Eindrücke beginnt, das vollendet im Falle der Psychasthenischen die tiefere Hemmung durch die Krankheit.

Willkürliche Rauschzustände durch Gifteinwirkung können aber ähnliche Veränderungen setzen, und wir werden diesen narkotischen Veränderungen der Zeitauffassung um so stärkeres Interesse entgegenbringen, als uns gerade die Halbnarkose bereits als Grundlage mystischer Ansprüche begegnet ist.

Der Kulturhistoriker Symonds spricht nach einem Äthertraum von einer 'langen, zeitlosen Ekstase'. [2] Dr.'Marshall,in Cambridge hat unter der Einwirkung von indischem Hanf die Empfindung, daß die Zeit aufgehört habe, zu bestehen: 'ich sah beständig nach der Uhr, weil ich glaubte, es müßten Stunden verstrichen sein, während nur einige Minuten vergangen waren.'

Und noch als er viel später einen Bahnsteig hinabschreitet, scheint ihm 'ein beträchtlicher Zeitraum zwischen dem Niedersetzen des Fußes und dem Sichvergegenwärtigen, daß es geschehen sei, zu liegen'. [3] -

Clarke berichtet von einem befreundeten Arzt, dem, während er (gleichfalls im Hanfrausch) die Treppe vom Arbeits- zum Schlafzimmer emporsteigt, die dazu verbrauchte Zeit genügend lang zu einer Reise von Boston nach Washington und zurück erscheint. 'Es bedurfte eines Jahrhunderts, um die Uhr aufzuziehen.' [4]

Die Selbstherrlichkeit, mit der das Ich in solchen Zuständen über der Zeit zu stehen und mit ihr zu schalten glaubt, ist in der Tat mitunter verblüffend bis zu einer gewissen Lächerlichkeit.

'Siehst du, das ist eine Sekunde', meint eins von Cahagnets Subjekten. 'Ich sagte, siehst du; du siehst sie aber nicht, ich jedoch sehe sie. Nun, ich will, daß diese Sekunde 10000 Jahre dauere; wohlan, sie hat 10000 Jahre gedauert; in diesem Augenblick sind 10000 Jahre nicht mehr als eine Sekunde, ... und ich begreife, daß alles dies so sein muß.

Mein Gott, ich begreife die Ewigkeit...E-wig-keit - ich habe 3000 Jahre gebraucht, um dieses Wort auszusprechen, weil es mir gefallen hat, es 3000 Jahre lang auszusprechen.' [5]

Die Ursachen solcher Verschiebungen der Zeitauffassung sind den zuvor bezeichneten offenbar ähnlich. Dr. Marshall führt die anscheinende Zeitverlängerung in seinem Falle auf 'einen völligen Verlust der Erinnerung für eben Geschehenes' zurück. [6] Je enger die Verwebung des Bewußtseins

[1] W. Wundt, Grundriß der Psychologie 177. Üb. d. Rolle der Aufmerksamkeit bei der Zeitauffassung überhaupt s. Wundt III 54ff.
[2] dateless.
[3] Pr XIX 68. 69.
[4] Clarke 182. Vgl. PR V (1898) 195; Ludlow 33.187; Despine 74f.; Dr. E. E. Jones in PR XVI (1909) 51 (The Waning of consciousness under chloroform).
[5] Cahagnet, Heil. 132.
[6] Pr XIX 68. Dr. Dunbar bestätigt dies aus eig. Erfahrung: das. 71.


Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 716)

mit der Umgebung sei, desto schneller scheine die Zeit zu fließen; dagegen um so langsamer, je mehr sich jene Verknüpfung löse.

Schließlich schwindet die genaue Anordnung der Vorgänge in der Zeit überhaupt; man weiß nicht mehr, ob man etwas als dauernd oder vorübergehend, als längst oder jüngst vergangen bezeichnen solle; wie zB. Dr. Kingston nicht imstande war anzugeben, ob gewisse Dinge am Tage zuvor oder erst vor wenigen Minuten sich ereignet hätten.

Sowohl der Verlust der deutlichen Erinnerung, der zeitlichen 'Lokalzeichen' - vielleicht unter Beihilfe von Veränderungen des Fühlens überhaupt -, als auch der Verlust eines großen Teiles äußerer Eindrücke und damit des genauen Zusammenhangs mit dem objektiven Ablauf - entleeren die Zeit; bis zu dem Grade, daß das Entstehen der subjektiven Überzeugung verständlich wird, man sei schon einigermaßen aus der Zeit hinaus und in die Ewigkeit versetzt.

Der Unterschied dieser narkotischen Erfahrungen von den psychasthenischen scheint mir vor allem in der schärferen Ausprägung des subjektiven Poles, des Ich der Apperzeption, zu bestehen. Dieses ist seiner selbst gewisser, es beobachtet und kritisiert sogar; nur sein Verhältnis zur Objektivität ist völlig verändert. -

Nun gibt es aber noch eine ganz anders geartete Ursache, aus welcher in abnormen Bewußtseinszuständen zuweilen das Gefühl entspringt, der Zeit entrückt und ein Bewohner der Ewigkeit geworden zu sein: nämlich, anstatt der bisher betrachteten Verarmungen, eine unerhörte Steigerung des Bewußtseinsinhaltes in der Zeiteinheit.

Ludlow bemerkt einmal im Verlaufe seiner narkotischen Selbstbeobachtungen, daß er in einer halben Minute (nach der Uhr) eine ihm endlos scheinende Vorstellungsreihe durchlaufen habe. 'Angesichts dieser ersten erhabenen Offenbarung über die Zeitrechnung der Seele stand ich zitternd in atemlosem Erschauern da.' [1] -

Hier ist etwas der Hemmung des Rausches oder des psychasthenischen Zustandes Entgegengesetztes eingetreten: die Aufhebung aller Hemmung.

Ein Haschischgenießer beschreibt diese geradezu als das Gefühl, 'als sei etwas aus meinem Gehirne fortgenommen, wie etwa die Unruhe einer verdorbenen Uhr, und als liefe die ganze Kette meiner Erinnerungen von selbst mit unerhörter Zusammenhanglosigkeit und Schnelligkeit ab'. [2]

Wir finden ein ähnliches Abschnurren der Vorstellungen bekanntlich in maniakalischen Zuständen; wir sind ihnen aber auch schon früher in der Form der 'panoramatischen' Rückerinnerung an das eigene Leben (meist kurz vor dem Tode oder in Lebensgefahr) begegnet,

wo sich eine unleugbar sehr große Zahl von Vorstellungen in eine sehr kurze Zeitspanne, in Darwins Fall zB. in die wenigen Sekunden eines Sturzes von 7 bis 8 Fuß Höhe zusammendrängte; auch in der Form jener Träume, die sich nachweislich häufig in einer objektiven Zeitspanne abspielen, die gegen ihre subjektive Dauer und die Masse des in ihnen Erlebten geradezu verschwindet. [3]

[1] Ludlow 33. Vgl. den interess. Fall des 'englischen Gelehrten' PS 1902 633.
[2] Hervey, Les rêves et les moyens de les diriger 480. Vgl. Ludlow 134.
[3] o. S. 109. 477.


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Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 717)

Daß diese Beschleunigung des Vorstellungsablaufs die subjektive Zeitschätzung, ja Zeitwertung gründlich verändern muß, liegt auf der Hand.

Rev. Robert Hall versichert nach einem siebentägigen manischen Anfall, ihm schienen sieben Jahre seit dessen Beginn verflossen, so vieles habe sein Geist inzwischen durchlebt und durchdacht, so völlig sei ihm alles gegenwärtig gewesen, was Lesen oder Nachdenken ihm je zugeführt; [1] und Ludlow wird durch die soeben angeführte Erfahrung - eine 'Offenbarung' scheint sie ihm - geradezu zu dem Ausruf getrieben:

'Mein Gott, ich bin in der Ewigkeit.' [2] - Ganz ähnlich sagt Maitland von einer Zeit seiner Schriftstellerei, da ihm Gedanken in unerhörten Massen inspiratorisch zuströmten, ausdrücklich, daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihm alle als dasselbe erschienen und daß er zur Vermutung gelangt sei,

Zeit und Raum besäßen keine Wirklichkeit und 'im Geiste sein' bedeute, von ihnen unabhängig sein. 'Ich... konnte ausrufen: ... Ich weiß, daß ich unsterblich bin.' [3]

Daß jede dieser Arten profaner Erfahrung von 'Ewigkeit' ihre psycho- logische Parallele in religiös-mystischen Erfahrungen finde, wollen wir zunächst voraussetzen, um dem Standpunkt der naturalistischen Wegdeutung möglichst entgegenzukommen.

Dennoch darf man wohl bezweifeln, daß selbst unter dieser Voraussetzung der Zweck des Kritikers erreicht werde. Es ist weder das erste noch das letzte Mal, daß wir auf die naive Unzulänglichkeit des Gedankens stoßen: der Nachweis von Parallelen in profaner oder gar pathologischer Erfahrung beraube eine Tatsache ihrer metapsychischen, oder sagen wir: mystischen Bedeutsamkeit.

Vielmehr ist doch umgekehrt selbstverständlich, daß etwa bestehende metapsychische Wirklichkeiten auch in solcher Erfahrung - ja mit Vorliebe in pathologischer - ans Licht drängen werden.

Was insonderheit die eben besprochenen Tatsachen anlangt, so gilt nicht, daß die Erfahrung von 'Ewigkeit' in Rausch oder Krankheit die ähnliche Erfahrung der Mystiker in Verruf bringe, sondern umgekehrt, daß auch in diesen Rausch- und Krankheitserlebnissen bedeutsame Übereinstimmungen mit wahren mystischen Erfahrungen aufzusuchen seien.

In der Tat enthalten die Ewigkeitserlebnisse infolge Inhaltsleere mitunter deutlich genug ein Merkmal, das unser Interesse im höchsten Maße herausfordert: man kann es als die abstrakte, oder nahezu abstrakte Erhaltung des Ich-Pols (im Gegensatz zu den bewußtseinfüllenden Inhalten) bezeichnen; eine Erfahrung, die wir freilich in andern Fällen, als den bisher angeführten, mit sehr viel größerer Schärfe ausgeprägt finden.

So beschreibt J. A. Symonds gewisse Erfahrungen, die ihn immer mehr oder weniger plötzlich überfielen, 'in der Kirche oder in Gesellschaft oder während des Lesens; immer aber, wie mir scheint, wenn meine Muskeln in Ruhelage waren.

Dieser Zustand bestand in einer schrittweisen, aber schnell vorschreitenden Vernichtung von Raum, Zeit, Empfindung und den zahlreichen Elementen der Erfahrung, die unser sog. Selbst zu charakterisieren scheinen. Im selben Maße wie

[1] Dendy 240. 
[2] Ludlow 33.
[3] Maitland 75f. 78.


Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 718)

diese Bedingungen des gewöhnlichen Bewußtseins schwanden, gewann das Erleben eines unterliegenden oder wesentlichen Bewußtseins an Intensität. Zuletzt blieb nichts als ein reines, absolutes, abstraktes Selbst. Das All wurde form- und inhaltlos.

Aber das Selbst verblieb in lebhaftester Schärfe und mit dem Gefühl eines durchdringenden Zweifels an der Wirklichkeit, bereit, wie es schien, [auch noch] die Existenz - wie eine Blase um sich her - zerplatzen zu sehen, . .. [in der] Überzeugung, daß dies der letzte Zustand des bewußten Selbst sei...

Die Rückkehr zu den gewöhnlichen Bedingungen bewußten Daseins begann damit, daß ich zuerst den Tastsinn wiedergewann, und dann durch das allmähliche, aber schnelle Hereinströmen vertrauter Eindrücke und der Tagesinteressen...

Oft habe ich mich gefragt beim Erwachen aus diesem formlosen Zustande nackten, klar-bewußten Seins: Welches ist die Unwirklichkeit? Der Trans des glühenden, leeren, bewußten, zweifelnden Selbst, aus dem ich hervorgehe, oder diese umgebenden Erscheinungen und Umkleidungen, die jenes innere Selbst verschleiern?' [1]

Baraduc gibt an, daß eine seiner Patientinnen, Mme T., ihm ähnliche Erfahrungen beschrieben habe, wenn er sie in sehr tiefe Hypnose versetzt, worin sie Namen, Stand und Adresse vergessen hatte und fast aller Sinne beraubt, aber mit ihm noch 'in Rapport' war.

'In diesem Zustand erwirbt sie das sehr scharfe Bewußtsein, daß sie ist; sie behauptet auf das entschiedenste ihr Ich (son SOI). Auf die Frage: was sind Sie? erwidert sie: Eine Lichtkugel [im Finstern].' [2]

Die normale Erfahrung des aus der Ohnmacht zu sich Kommenden wird vielfach in Ausdrücken beschrieben, die den obigen ähneln.

H. B., nach einem Fall auf den Kopf wieder zu sich gekommen, gibt an: 'Im ersten Stadium war ich mir einfach bewußt, daß ich etwas sei; was das war, wußte  ich weder, noch verlangte ich, es zu wissen.

Ich wußte nicht, was Wissen sei. Ich war ruhig, seelisch glücklich, und es gab für mich weder Vergangenheit noch Zukunft, keine Zeit, keinen Ort; nichts als den winzigen Fleck Bewußtsein - Ich...'

Nach einer narkotischen Erfahrung (N.O) findet F. W. H. Myers ähnliche Ausdrücke. Er spricht von einem 'Bewußtsein kaum-bedingten Seins, aus dem der  Begriff der Persönlichkeit und die einzelnen Sinne langsam hervorzutreten scheinen, nicht nur als ein Fortschritt und eine Entwicklung, sondern als ein Verlust und eine Beschränkung'. [3]

In der Tat entstammen die meisten Zeugnisse für ähnliche Erfahrungen der Narkose. In einigen wird die Entblätterung des seelischen Inhalts nicht ganz bis zur Nacktheit des leeren Ich- oder Existenz-Bewußtseins getrieben; in anderen geht sie noch über diese bis zur subjektiven Auslöschung hinaus.

Aber in allen erscheint das Wissen ums eigene Dasein überraschend stark und klar, verglichen mit der Dürftigkeit der übriggebliebenen 'Inhalte'.

Es verblieb, sagte in Bericht, bis zum endgültigen Erlöschen der bewußten Erfahrung ein Wissen um persönliche Identität. [4] - Und nach dem früher erwähnten

[1] Brown. J. A. Symonds 29-31, gekürzt.
[2] Une boule de lumiere dans une boite noire. - Baraduc, aaO.274.
[3] Pr VII 115f. Vgl. möglicherweise die Aussage üb. 'hysterische Ohnmacht' bei L. Binswanger in JPPF III 235.
[4] Prof. Hill u. Mrs. D. S., Loss and recovery of consciousness under anaesthesia. Psychol. Bull. VII, 3 81.


Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 719)

Oxforder Studenten (dem nachmaligen Professor C. F. S. Schiller) bestand der Vorgang darin, 'daß die Inhalte des Bewußtseins, die feelings, sich allmählich verringerten, bis ich fast, wennschon nicht völlig, bis zum bloßen ungefärbten Bestande des Bewußtseins der Existenz, beinahe abgelöst von aller Empfindung, herabsank'. [1] -

H. Spencer führt verwandte Angaben eines akademisch Gebildeten über seine Erfahrungen während einer zahnchirurgischen Narkose an. '... Schließlich schwieg alles, . .. irgendwo schien eine einfältige 'Gegenwart' schwerfällig einzudringen und wie etwas unsagbar Schmerzliches und Kummervolles aufzuragen.'

Aber: 'das, was ich seitdem als die Einheit des Bewußtseins zu bezeichnen gelernt habe, trat keinen Augenblick von der Bühne ab, selbst nicht im Augenblick des allerletzten, unhörbaren Herzschlages.' [2]

Es ist überhaupt bemerkenswert, wie häufig die letzten Inhalte des von der Lähmung hart bedrängten Ich in Denkakten von großer Abstraktheit und Schärfe bestehen.

'Nachdem alle Empfindungen vollständig unterdrückt waren, sagt ein Bericht, verblieb noch ein inneres Bewußtsein, das größtenteils völlig normal war. Das Gedächtnis erschien leidlich bestimmt und die Denkfähigkeit nur leicht geschädigt.' [3] - Auch Dr. Dunbar spricht von dem 'völlig wachen Intellekt' . ..

Es 'ging mir auf, daß der subjektive Idealismus die einzige logisch [berechtigte] Weltanschauung sei und daß deshalb meine Erfahrung Wirklichkeit sein müsse. Dann allmählich begann ich zu begreifen, daß ich der Eine sei, und das Weltall, dessen Prinzip ich war, trat in das Gleichgewicht der Vollständigkeit.' [4] -

Ebenso schreibt der skeptische Sir W. Ramsay, F. R. S.: 'Unter dem Einfluß eines Narkotikum... weiß ich, daß Berkeleys Theorie des Seins [der absolute Idealismus des esse = percipi] wahr ist, und ich glaube auch, weil ich es mit schlechthinniger Gewißheit weiß,

daß die Existenz als Ich das einzige ist, wovon ein vernünftiger Mensch überzeugt sein kann: daß alle andern Wesen Erzeugnisse meines Bewußtseins sind, und daß, obwohl sie für sich selbst wirklich sein und ein jedes seine eigene Welt haben mögen, sie für mich lediglich ein Teil meiner Gedanken sind.' [5]

Die letzten Äußerungen mögen nicht mehr ganz der gleichen Gattung angehören, wie die zuvor wiedergegebenen. Aber auch sie, gleich jenen, widersprechen durchaus der Behauptung Spencers, daß in der Narkose stets die 'höchsten' Fähigkeiten zuerst, die nächsthöchsten danach, und erst zuletzt die niedersten gelähmt werden. [6]

Mit Recht bemerkt Dr. Dunbar, daß vielmehr die Fähigkeit, die den ganzen Hergang beobachte und beurteile, selbst die höchste intellektuelle Fähigkeit darstellen müsse. [7]

Eher schon könnte man sich an die Darstellung Wundts erinnert fühlen, wonach das Selbstbewußtsein im Laufe seiner Entstehung sich von den bleibenden Gefühls- und Vorstellungsgruppen der Organzustände und Körperbewegungen hinweg entwickle, bis es bei der Identifizierung mit

[1] PR V 195.
[2] H. Spencer, Princ. of Psychol. 3. Auf!. I 636f. Ähnlich E. Jacobson, Consciousness under anaesthetics, AJP XXII (1911) 335.
[3] E. E. Jones in PR XVI 53f.
[4] Was balancing itself into completeness. - Pr XIX 73.
[5] Pr IX 239-42.
[6] Spencer, aaO. 640 (Umkehrung des psychogenetischen Aufbaus im Abbau).
[7] JSPR XI 267.


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Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 720)

den Willens- und Apperzeptionsvorgängen samt den daran gebundenen Gefühlen anlange.[1] Die hieraus sich ergebende zunehmende Objektwertung des Körpers finden wir in den letztangeführten Erfahrungen auf die Spitze getrieben: jeder Rest jener ursprünglichen Elemente der Ichvorstellung ist mit der ganzen Empfindungswelt abgestorben, das Kopf-, das Hirn-, das Denk-Ich beherrscht die Bühne.

Dagegen scheinen die Grundlagen auch dieses verinnerlichten Selbstbewußtseins in einigen der zuvor gegebenen Beispiele verlassen. Wir hören nichts mehr von Gedächtnis-, Denk-, Apperzeptions-Leistungen; das abstrakte Selbst und Sein allein verbleibt, und doch erscheint dies Bewußtsein als 'das klarste, das gewisseste alles Gewissen'.

Diese Worte stehen in dem Bericht, den der Dichter Tennyson über einen ihn zuweilen befallenden 'Trans' hinterlassen hat, einen 'wachen Trans - ich weiß kein besseres Wort dafür -, den ich seit meiner Knabenzeit häufig gehabt habe, wenn ich mich ganz allein befand.

Er überkam mich, wenn ich ganz im stillen meinen eigenen Namen wiederholt mir vorsprach, bis plötzlich, gewissermaßen' aus der Intensität des Persönlichkeitsbewußtseins heraus, alle Individualität sich aufzulösen und in grenzenloses Sein zu entschwinden schien.

Dies aber war kein verworrener Zustand, sondern der klarste von allen klaren, 'der gewisseste von allen gewissen, das Übernatürlichste [2] von allem Übernatürlichen, mit Worten schlechterdings nicht zu beschreiben, - worin Tod eine fast lächerliche Unmöglichkeit war:

indem der Verlust der Persönlichkeit (falls dies der Fall war) nicht als Verlöschen erschien, sondern als das einzig wahre Leben. Ich schäme mich meiner schwachen Beschreibung. Aber sagte ich nicht, dieser Zustand sei in Worten nicht zu fassen ?' [3]

Diese Schilderung führt in bedeutsamer Weise aus der zuletzt betrachteten Gruppe in die zuvor beschriebene zurück. Ist dies Bewußtsein des abstrakten Ich gleichbedeutend mit dem Erleben der Ewigkeit und Unsterblichkeit? Tennysons Bericht ist nicht der einzige, der dies andeutet.

K. Pfeuffer beschrieb einen narkotischen Versuch an einem 'kräftigen Studenten', der nach allerhand subjektiven Erscheinungen (wie Knattern, Lichtfunken, Angstgefühlen) folgendes angab: 'Noch einen Augenblick und ich empfand von alledem, aber auch von der Außenwelt überhaupt, ja von meinem eigenen Körper nichts mehr.

Die Seele war gleichsam ganz isoliert und getrennt von dem Körper. Dabei fühlte sich der Geist aber noch als solcher, und ich hatte den Gedanken, als sei ich jetzt tot, hätte aber ein ewiges Bewußtsein...' [4]

Vorausgesetzt nun, daß beide Arten der Erfahrung im Grunde eine seien, oder doch ineinander übergehen: welchen Sinn könnte es haben, daß ein völlig oder nahezu inhaltleeres Ich als 'unsterblich' und 'ewig' gefühlt wird?

[1] Wundt III 374f.
[2] weirdest.
[3] Lord A. Tennyson. A memoir by his son (Lond. 1897) I 320. Ähnlich im Gedicht The ancient sage. Vgl. Flournoy, M. M. 53 (Mitte),
[4] Ztschr. f. rationelle Medicin VI (1847) 80f.


Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 721)

Die Frage ist um so brennender, als doch nach früheren Aufweisungen auch dieses Buches die .Ich-Bildung innerhalb des empirischen Menschen unter Umständen eine gespaltene, insofern also eine z. T. vorübergehende, zeitweilige ist. -

Hier muß nun erinnert werden, daß wiewohl die einzelne Ich-Synthese ihrer Inhaltlichkeit nach eine vorübergehende ist, Ich-Bildung überhaupt doch jenes letzten Grundes unerklärliche 'Wunder' ist, welches psychische Dauer allererst ermöglicht - Dauer im Leben, wie auch Dauer jenseits des Todes -, und in dessen immer mehr sich erweiternden Kreisen das Einzel-Ich in Iche zunehmend höherer Ordnung übergeht.

Dies ist eine leidlich nackte Formel; aber was verlangt man mehr? Über letzte Formeln zu grübeln ist sinnlos; sofern was alles Übrige erst erklären soll, doch selbst als 'Wunder' erscheinen muß. Die Tatsache der bewußten Synthese, des Zusammenhangs einer Mehrheit bewußter Inhalte in einem Ich, ist durchaus wunderbar in diesem Sinne, und es kommt weiter lediglich auf Verwendungsart und -ausdehnung dieses Wunders an.

Ich habe Gründe angegeben, weshalb ich dies Wunder nicht nur (wie die Erfahrung lehrt) 'innerhalb' und 'unterhalb' des menschlichen Normal-Ich, sondern auch 'oberhalb' seiner sich vollziehend denke; und da mag denn am Ende der alte mystische Gedanke Sinn gewinnen, daß das Ich in allen Ichen dasselbe sei: dasselbe in der All-Synthese des 'Brahman' und in der Einzel-Synthese nicht nur des menschlichen Ich, sondern auch seines einzelnen Aktes der Einheit der Apperzeption, wie Kant sagen würde.

Ist es aber diese schließlich ganz unableitbare Einheit, die nicht nur unsere Dauer, sondern überhaupt unser Zeitbewußtsein ermöglicht, [1] so erscheint am Ende nichts natürlicher, als der Ton der Selbstgewißheit, womit gerade kraftvolle Denker in den Leistungen ihres Geistes ein Überzeitliches gespürt und sich damit zur Teilhaberschaft an dem 'ewigen' Sein der Vernunft bekannt haben.

Im aktiven Erinnern, im Reflektieren auf die Zeit, im logischen Akte des Aufeinanderbeziehens zeitlich ausgebreiteter Vorstellungen vermeint diese profan-intellektualistische Mystik das außerzeitliche Wesen des Geistes - im Unterschiede von allem zeitlichen bloßen Ablauf von Vorstellungen - unmittelbar am Werke zu sehen. [2]

Ebenso aber auch in allem höchsten Werten, im Setzen eines Sollen, das sich in der Zeit bloß auswirken soll, ohne von zeitlichen Dingen abhängig zu sein; weshalb zB. für Fichte das sittliche Ich sich seiner Ewigkeit und Unvergänglichkeit unmittelbar sicher ist. [3]

Ist es übrigens im Grunde dies synthetische Ich, was Erinnern im höheren Sinne (d. i. Erkennen des Vergangenen als Vergangenen) möglich macht,

[1] 'Man muß irgendwie außerhalb der Zeit stehen, um sie betrachten zu können': Weininger, Geschlecht u. Charakter 3. Auf!. 168. Üb. Wert und Überzeitlichkeit s. R. Eucken, Der Wahrheitsgehalt der Rel. (Lpz. 1901) 219ff.
[2] So bereits indisch. Vgl. Deussen, Syst. des Vedfânta (1883) 313ff. Durch Empfang des xxxx wird der Hermetiker unsterblich: Reitzenstein 118.
[3] Üb. d. Bestimm. des Menschen. WW II 315.


Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 722)

so braucht es uns auch nicht zu stören, daß das Erinnern jener abstrakten Ichzustände im äußersten Fall das Erinnern eines Nichtinhaltlichen wäre. Anderseits brauchen wir' aber auch nicht den gelegentlichen Behauptungen Glauben zu schenken, daß der abstrakten Icherfahrung ein völliges Verlöschen des Ich gefolgt sei.

Vielleicht lag jenem Erinnern noch ein Rest von Bewußtseinsinhalt zugrunde, der in diesem 'Verlöschen' auch noch schwand.

Oder ging vielmehr die angebliche Inhaltlosigkeit des Ich-Erlebnisses über in die Inhaltsüberfülle eines höheren Ich, die nur eben für das empirische Ich nicht erinnerbar ist, weil sie außerhalb seiner Art von Anschaulichkeit liegt?

Die Deutung der fraglichen Erlebnisse würde dann mit gewissen Deutungsbegriffen der 'unaussprechlichen' mystischen Erkenntnisakte zusammenfallen: das Ich, das sich seiner 'Ewigkeit' bewußt wird, wäre eingegangen zu denken in jenes Über-Ich, welches die Fülle des Geschehens im (potentiellen, 'gespannten') Zustande des 'quasi-psychischen' oder zeitlosen Seins enthielte.[1]

An eine solche Möglichkeit führt uns die Betrachtung des andern Typs profaner Ewigkeitserlebnisse heran: desjenigen der Vorstellungs-Überfüllung des Ich. Auch diese Erfahrungen lassen sich in eine Reihe ordnen je nach dem Grade der Vorstellungs-'Verdichtung', der in ihnen verwirklicht ist, [2] und der äußerste Fall dieser Reihe, den wir freilich niemals nachweisen können, würde natürlich ein Bewußtsein behaupten, welches dem Zeitverlauf enthoben und insofern 'ewig' ist.

Die Zustände der Beschleunigung (oder Verdichtung) des VorsteIlens würden hiernach Annäherungen an jenes 'göttliche' Bewußtsein darstellen, welches - nach Luthers Ausdruck -,- 'alles auf einen Haufen sieht'.

Wer diese theoretischen Voraussetzungen der Möglichkeit von Vorschau unvollziehbar findet, für den mag die Tatsache der Vorstellungsverdichtung doch noch in anderer Beziehung ein Licht auf das mystische Ewigkeitsbewußtsein werfen.

Das übersinnliche Schauen und 'Verstehen' glaubten wir mehrfach darauf zurückführen zu dürfen, daß dem Menschen tatsächlich in gewissen Zuständen eine ungeheure Erweiterung seiner Anschauungskapazität gegeben sei, wobei sich also sein Vorstellungsmaterial nicht so sehr durch Zusammenschiebung der Aufeinanderfolge, als durch Ausdehnung des Feldes der gleichzeitigen Apperzeption vermehre.

Auch dies aber würde einer Annäherung an das kosmische Bewußtsein gleichkommen und könnte dem Mystiker, mit dem Gefühl der Versetzung in eine andere Welt, auch in erhöhtem Maße jenes Bewußtsein der Erhabenheit über Zeit und Tod geben, das schon der Normalbewußte so oft aus der Hochspannung seines Erkennens und Wertens zieht. Auch ist es nicht erforderlich, daß ein so begründetes Ewigkeitsgefühl in jedem

[1] S. o.S. 479   
[2] Vgl. o. S. 477f.


Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 723)

Falle mit dem klaren Bewußtsein bestimmter übersinnlicher Anschauung und Einsicht zusammengehe; diese Anschauung und Einsicht könnte vielmehr auch unterbewußt bleiben und nur das Gefühl einer maßlosen Erweiterung des Horizonts, eines Schwindens der Ich-Grenzen in der Tiefe, einer Versenkung in den göttlichen Geist dem wachen Ich vermitteln.

Etwas derartiges ist es wohl, was stets die eine Bedeutung der Ausdrücke 'Ewigkeit', 'ewiges Leben', 'Leben des Geistes' ausgemacht hat. Tatsächlich tritt ja die mystische Überzeugung der Unsterblichkeit mitunter auch im Rahmen umfassender Einsichtserlebnisse auf.

So bekennt die obenerwähnte C. M. C. nach ihren kosmischen Schauungen [1]: 'Das Gefühl der Vollständigkeit und ewigen Dauer [2] in mir selbst ist eins mit dem der Vollständigkeit und Dauer der Natur. Dies Gefühl ist völlig verschieden von irgendeinem, das ich vor meiner Erleuchtung hatte, und entsprang dieser. ..

Ich habe das Gefühl, als sei ich so unterschieden und abgetrennt von allen andern Wesen, wie der Mond im Raume, und gleichzeitig unlöslich Eins mit der ganzen Natur.' - Noch deutlicher ist der fragliche Zusammenhang in der Erfahrung Dr. Buckes selbst, dessen Zeugnissammlung soeben benutzt wurde.

Dieser hatte einen Vorfrühlingsabend zu Beginn seines 36. Lebensjahres mit Freunden über dem Lesen von Dichtungen, besonders Whitmans verbracht. Während der Heimfahrt [und] ganz plötzlich fand er sich gewissermaßen von einer feuerfarbigen Wolke eingehüllt. Gleich darauf überkam ihn ein Gefühl überwältigender Freude, begleitet oder unmittelbar gefolgt von einer völlig unbeschreiblichen intellektuellen Erleuchtung. . .

Unter anderm sah und wußte er - nicht daß er etwa nur zu dem Glauben gelangte, - daß der Kosmos nicht tote Materie, sondern ein lebendes Wesen sei; daß des Menschen Seele unsterblich, daß das Weltall so gebaut und geordnet sei, daß ohne alle Möglichkeit des Schwankens und Zweifelns alle Dinge auf das Wohl eines Jeden und Aller hinarbeiten;

daß das Grundprinzip der Welt das sei, was wir Liebe nennen, und daß die Glückseligkeit eines Jeden schlechthin gesichert sei. Er erhebt den Anspruch, daß er in den wenigen Sekunden, während derer die Erleuchtung anhielt, mehr gelernt habe, als vorher in Monaten und sogar Jahren des Nachdenkens und Forschens, und daß er vieles lernte, was Forschen und Nachdenken ihn nie hätte lehren können. [3]

Sind die für solche Erfahrungen der Ewigkeit und Unsterblichkeit umschriebenen Deutungen einigermaßen richtig, so ist nun auch ihre Vermengung mit den 'Ewigkeits'-Erfahrungen der Psychasthenischen nicht zu befürchten.

Auch hier wird 'die Welt fahren gelassen' und die 'Beziehungen zu Raum und Zeit' verwischen sich. [4] Aber die Wurzel dieses Traumhaftwerdens der Wirklichkeit scheint eher der angstvolle Verlust der persönlichen Ich-Apperzeption zu sein: man 'weiß nicht mehr, wer man ist', [5] und klammert sich an allerhand Kunstgriffe, durch die man die eigene Identität wiedergewinnt.

Reines und gedämpftes Objektbewußtsein ohne Ich-Synthese scheint diesen Zustand zu bezeichnen, im Gegensatz

[1] S. o S. 703.
[2] permaueuce.
[3] Bucke 7f.
[4]) So in einem Fall bei Crichton-Browne, Dreamy mental states 17ff.  
[5] Das. 17.


Kap LXIX. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  5. Ewigkeitsbewußtsein.          (S. 724)

zum ruhigen Ich- und Daseinsbewußtsein 'ohne' Inhalte, durch das sich die mystisch gewerteten Erfahrungen so oft auszeichnen. Ob aber im Falle der Psychasthenischen das 'Wunder' der persönlichen Synthese sich zeitweilig 'aufgelöst', oder in eine unterbewußte Gegend zurückgezogen habe - wie in Fällen 'konzentrischer Ich-Spaltung' mit sehr reduziertem Normal-Ich -, das sind Fragen, deren Beantwortung der Erfahrung überlassen bleiben muß: die Hypnotisierung Psychasthenischer mag sie vielleicht lösen.     

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