Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap LXIV.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  1. Jenseitsgesichte.             (S. 680)

Könnte es hiernach fast scheinen, als verbürge gerade die subjektive Phantastik der jenseitigen Selbstschilderung ihren Ursprung in entkörperten Bewußtseinen, so wird es anderseits dadurch glaublicher, daß auch die Phantastik der Jenseitsgesichte irdischer Seher nicht ihrer Anregung durch wirkliche Berührung mit dem Jenseits widerspreche.

Verlockt doch alles Vorausgegangene uns zu der Annahme, daß der irdische Seher im Augenblick seines Schauens sich dem psychologischen Zustande der Abgeschiedenen wesentlich nähere, indem es eben der 'Geist' in ihm sei, der die entscheidende Berührung mit der übersinnlichen Welt ermögliche.

An erfahrungsmäßigen Hinweisen auf diese psychologische Verwandtschaft zwischen dem irdischen und dem abgeschiedenen Jenseitsschilderer fehlt es nicht völlig. - Einen solchen können wir darin finden, daß häufig gewisse Einzelheiten der visionären Erfahrung auf das Statthaben einer Exkursion hindeuten.

In dem früher angeführten Falle glaubte sich zB. Skilton mit Blitzesschnelle aufwärts zu bewegen und die Gegend unter sich entschwinden zu sehen; bei der Rückkehr tauchte das Gelände abermals in der Entfernung vor seinen Blicken auf. W. St. Moses sah sich gelegentlich einer ähnlichen Erfahrung neben seinem Leibe stehen und glaubte sich durch die Zimmerwand hinauszubegeben.

Engelbrecht, der Hölle und Himmel durchwanderte, wurde zunächst 'mit dem ganzen Leibe aufgenommen und weggeführt', und bei der Rückkehr 'deuchte ihm, er würde wieder mit seinem ganzen Leibe auf sein Lager gelegt', wonach ihm die körperlichen Sinne wiederzukehren begannen. Thespesios wiederum will 'den Leib verlassen',

[1] das. 282.


Kap LXIV.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  1. Jenseitsgesichte.             (S. 681)

sich dann nach einiger Verwirrtheit aufgerichtet haben und, von einem Lichtschein (!) getragen, hingeglitten sein, bis er sich schließlich wieder wie vom Sturmwind fortgerissen und zum Leibe zurückgebracht fühlte, in welchem er bei dieser ganzen Exkursion, wie eine Seele ihm sagte, seinen' Anker' zurückgelassen hatte,

- eine schwer zu bestreitende Parallele zu all jenen 'Schnüren' und 'Fäden', in denen soviele Exkurrierende die Verbindung ihrer noch nicht gestorbenen 'Seele' mit dem Leibe verkörpert finden. [1]

Daß wir den Zustand des Jenseitsschauenden so häufig wahrscheinlich als Exkursion auffassen dürfen, ist für unsern Zusammenhang aber vor allem darum bedeutungsvoll, weil dieser Zustand, wie wir aus zahlreichen Beobachtungen wissen, ein wahrer Fruchtboden übernormalen Wissenserwerbes überhaupt ist.

Daß aber ein Zustand, der so häufig nachprüfbare irdische Erfahrungen übernormaler Art beschert, auch Erfahrungen aus jenem Dasein erleichtern werde, welches alles Übernormale recht eigentlich in sich zusammenfaßt, das ist am Ende eine natürliche Vermutung, - auch wenn der Objektivitätsgehalt dieser  Erfahrungen natürlich nicht 'nachprüfbar' ist.

Tatsächlich zeigt die Beobachtung nun aber Exkursionen nicht nur als Fruchtboden von nachprüfbaren irdischen Erfahrungen übernormaler Art einerseits und nichtnachprüfbaren jenseitigen anderseits; sondern sie zeigt auch die eine Art der Erfahrung in engster zeitlicher und persönlicher Verbindung mit der anderen.

Bloß durch Personalunion - wenn ich so sagen darf - verbunden sind beide Arten der Erkenntnis, wenn der exkurrierende Jenseitsseher auch sonst ein häufiger Hellseher irdischer Wirklichkeiten ist.

- Dies trifft zB. auf Skilton zu, der eine Anzahl prophetischer Träume beschreibt, die ihm nahe bevorstehende Unglücksfälle auf der Bahn vorhersagten und ihn gelegentlich zu deren Verhütung instandsetzten. [2]

Als klassischer Fall aber ist hier natürlich Swedenborg selbst zu nennen, nicht weniger ausgezeichnet durch seine massenhaften Gesichte der Geisterwelt, als durch seine irdisch-hellseherischen Einzelleistungen. Die von Kant besprochenen [3] sind zu bekannt, als daß ich mehr als an sie zu erinnern brauchte; sie sind aber keineswegs die einzigen. [4]

Auch ist bei seinen Leistungen zu beachten, daß er selbst sie auf Mitteilungen aus dem Geisterreich zurückführte. In der Geisterwelt wollte er erfahren haben, daß Wesley (dem er es auf den Kopf zusagte) ihn zu sprechen wünsche, was Wesley mit dem Bemerken zugab, er habe gegen niemanden davon gesprochen. [5]

Und aus der Geisterwelt holte er, nach seinen Angaben, die Kenntnis aller jener Geheimnisse, die er mitunter nach mehrtägiger Zurückgezogenheit zu enthüllen wußte und die unter Lebenden meist nur einen, zuweilen auch keinen Mitwisser hatten. [6] Bezeugt ist,

[1] S. o. S. 577ff. 659. 663. 665ff. Vgl. die Berichte o. S. 287. 289-92. und u. Kap. LXVIII.
[2] Ein guter Zeuge! (S. Pr V 335.) Vgl. Tertullian, De anima c. 9 und Haddock 201.
[3] Träume e. Geistersehers... (Kehrb.) 45ff.
[4] S. anderes, zB. die eidlich bezeugte Voransage von Tag und Stunde seines Todes, bei Perty, Spir. 268.
[5] Perty, das.
[6] S. Kant, aaO. 46f.; Jung, Theorie 93-6.


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Kap LXIV.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  1. Jenseitsgesichte.             (S. 682)

daß - wie sich gehört - während seiner Kenntniserlangung, so oft sie beobachtet wurde, 'seine Seele nicht mehr gegenwärtig war und daß etwas Außerordentliches mit ihm vorging'. [1]

Ein Beispiel für nicht nur persönliche, sondern auch zeitliche Verbindung irdischen und jenseitigen Hellsehens bietet uns die schon berührte Erfahrung des Dr. Wiltse im Zustande des Scheintodes.

Seine Vision steht inhaltlich nicht ganz auf einer Stufe mit jenen ausgeführten Gemälden von Hölle und Himmel, deren wir früher so viele kennenlernten; aber sie enthält doch eine Folge von Bildern, die den vollzogenen Eintritt in das Reich der Jenseitigen zu symbolisieren scheinen.

Ehe sie aber eintraten, hatte Dr. Wiltse anscheinend irdische Wirklichkeiten wahrgenommen, die ihm normalerweise wahrscheinlich nicht bekannt sein konnten: wie zB. die Auswaschungen, die ein mehrtägiger schwerer Regen während seiner Krankheit in den Straßen bewirkt hatte. [2]

Ein anderes Beispiel, das hier ausführlicher mitgeteilt sei, enthält das Element des Hellsehens freier von Zweideutigkeiten. Das Subjekt dieser Erfahrung, Thomas Say (geb. 1709 in Philadelphia), Sattler und später Apotheker von Beruf, hatte sich aus Überzeugung den Quäkern angeschlossen und genoß große Achtung und allgemeines Vertrauen in seiner Vaterstadt.

Der augenscheinlich sehr sorgfältige eigenhändige Bericht (dessen Datum ich nicht angegeben finde) ist wörtlich wiedergegeben in einer Lebensbeschreibung, die der Sohn dem hochbetagt verstorbenen Vater widmete. - Say machte im Alter von 16 oder 17 Jahren eine Zeit der religiösen Zweifel durch, betreffend das Dasein Gottes, der Seele und ihrer Unsterblichkeit, als er von einer Brustfellentzündung befallen wurde.

'Am neunten Tage, schreibt er, zwischen 4 und 5 Uhr, fiel ich in einen Trans und verblieb darin bis um 3 oder 4 des nächsten Morgens... Ich verließ meinen Körper, [der darauf von den Anwesenden und dem herzugerufenen Arzt ohne Puls, aber mit einer Spur von Atmung gefunden und, wenn nicht für tot, so doch für sterbend gehalten wurde.] . ..

[Dann] hörte ich... ununterbrochen die Stimmen von Männern, Weibern und Kindern Gott dem Herrn und dem Lamme Loblieder singen, die meine Seele entzückten. Meine Seele ergötzte sich auch an den herrlichen Wiesen, die ich auf allen Seiten erblickte, wie sie nie in dieser Welt gesehen wurden; durch diese zog ich hin, von Kopf zu Fuß in Weiß gekleidet und in meiner völligen Gestalt ohne Ermangelung irgend welchen Gliedes.

Während ich einem höheren Zustande der Seligkeit entgegenstrebte, wandte ich meine Augen zur Erde, die ich deutlich sah, und erblickte drei mir bekannte Männer im Sterben. Zwei davon waren Weiße, deren einer zum Frieden einging, während der andere verworfen ward.

[Die beiden, die zum Frieden eingingen, waren ebenfalls weiß gekleidet, das Kleid des dritten aber, der 'verworfen ward', war 'einigermaßen weiß, aber fleckig'.] Es erschien ein wunderschönes, durchscheinendes offenes Tor, und als ich und der Eine, der zum Frieden einging, es erreicht hatten, trat er hindurch; als ich aber eintreten wollte, trat ich in meinen Leib ein [3] . ..

[Während ich den Umstehenden das Gesehene berichtete], hörte ich noch immer die melodischen Lobgesänge, und solange ich sie hörte, empfand ich keinen Schmerz; als sie mich aber verließen, kehrte der

[1] S. Em. Swedenborgs Leben u. Lehre, her. v. J. G. Mittnacht (Frankf. a. M. 1880) 81.
[2] Pr VIII 182 u. und 187 (Frage 3).
[3] I stepped into the body.


Kap LXIV.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  1. Jenseitsgesichte.             (S. 683)

Schmerz in meiner Seite zurück... Man schickte [zu den Dreien, die ich hatte sterben sehen], und der zurückkehrende Bote berichtete, daß sie alle gestorben seien, und [zwar] in den Zimmern usw., wie ich es berichtet hatte.

Der Dritte [jener Männer] war ein Neger, namens Cuffe, welcher der Witwe Kearny gehörte, den ich in der backsteingepflasterten Küche sterben sah, und als sie [den Leichnam] auf ein Brett legten, entfiel sein Kopf ihren Händen, da er etwa sechs Zoll vom Brett entfernt war; was ich nebst den anderen Umständen seiner Aufbahrung deutlich sah, denn die Wände bildeten kein Hindernis für meinen Blick.'

Dies wurde während eines nachfolgenden Gespräches mit der 'Witwe Kearrty' in mehreren Einzelheiten bestätigt; auch wurde erwiesen, daß die drei Männer gerade zur Zeit des Gesichtes gestorben waren, 'und alle Umstände ihres Todes erfanden sich so, wie [er] sie berichtet hatte'. [1]

Ein solches Ineinander von irdisch-übernormalem und jenseitigem Erfahren wird natürlich erscheinen, wenn wir beide als wesentlich einer Art angehörig auffassen, also auch das letztere als ein telepathisch-hell-seherisches, mit allen jenen Möglichkeiten subjektiver Ausgestaltung des Erfahrenen, die uns bei der Telepathie und dem Hellsehen Lebender geläufig geworden sind.

Tatsächlich bekunden gerade irdische Jenseitsseher nicht selten den Eindruck, daß sie während ihrer Gesichte mit den Abgeschiedenen in Vorstellungsaustausch gestanden hätten.

Skiltons Bericht enthielt, wie erinnerlich, derartige Angaben; und S. Alphonso Rodriguez meinte, es sei ihm gewesen, als erkenne er jeden der Geister besonders, als sei seine Seele gleichzeitig ganz in jedem Einzelnen und ganz in Allen gewesen und als habe sie sich gleichzeitig mit Vielen unterredet.

Auch Thespesios empfand sich als 'nach allen Seiten hin Auge'! [2] Das Bewußtsein des Eingetauchtseins in ein telepathisches Element (sozusagen) könnte kaum besser ausgedrückt werden.

Für eine subjektivistische Auffassung des wirklichen Jenseits, wie sie oben angedeutet wurde, liegt somit offenbar eine Schwierigkeit weder in dem augenscheinlich symbolischen Charakter so vieler Visionsinhalte, noch auch in den inhaltlichen Widersprüchen, die zwischen einzelnen Jenseitsgesichten bestehen.

Soll die Vision nicht so sehr objektive Wirklichkeit geben, als vielmehr eine symbolische Übertragung in anschauliche Bilder, so darf auch die persönliche Gleichung jedes einzelnen Sehers in den Einzelheiten dieser Übertragung zum Ausdruck kommen.

Wie bei irdischen telepathischen oder Vorschaugesichten mag es zB. einer persönlichen Idiosynkrasie zuzuschreiben sein, wenn ein Seher die einzelnen 'Geister' im Jenseits bald in Licht, bald in Dunkel getaucht, ein anderer sie in wechselndem Maße fleckig und schmutzig, weiß oder schwarz erblickt.

Solche Symbolismen wären nicht im mindesten seltsamer, als wenn, wie oben erwähnt, der Erdenseher den nahe bevorstehenden Tod des einen Menschen durch ein höher, den ferner-

[1] Aus A Short compilation of the extraordinary life and writings of Thom. Say. .. (Philadelphia 1796) 66ff. in JSPR XIII 87ff. Vgl. auch Crowe 135f.; Pr III 92f.; Dazza 277ff.  Antike Parallelfälle bei Vesme I 235. 247.  
[
2] S. o. S. 287.


Kap LXIV.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  1. Jenseitsgesichte.             (S. 684)

liegenden eines andern durch ein weniger hoch gewickeltes Leichentuch dargestellt findet. Auch ist der Wissenserwerb, den wir hier vorauszusetzen hätten, keineswegs unmittelbarer und faßlicher, als in jenem Falle des Wanderers unter den Schatten.

Ein anderes symbolisches Element von vielfach persönlicher Färbung - das sich auch in schwer angebbaren Abstufungen zur Objektivität hinüberschattiert - ist vielleicht der Führer, den so viele Jenseitsfahrer bei sich sehen und der eine unverkennbare Verwandtschaft zwischen ihren Visionen und dem Transdrama der Medien begründet, das ja auch ein reiches Jenseitserfahren in 'Bilder' - und zwar vielfach symbolische - kleidet.

Aber selbst wenn die subjektivistische, spaltungspsychologische Deutung des mediumistischen Führers, des 'Spielleiters', auch auf den Führer der Jenseitswanderer übertragen würde, wäre die Bedeutsamkeit der Fahrt noch nicht in Frage gestellt.

Der Führer wäre auch dann noch zum mindesten die Personifizierung einer überlegen-anordnenden, übernormal-empfänglichen Bewußtseinsphase, einer Leistungsschicht sozusagen, die zwischen dem bildlichen Vorstellen und dem nur übernormal Erfahrbaren stände.

Doch brauche ich kaum zu sagen, daß die durchgehende Berechtigung einer solchen Deutung bei weitem noch nicht er- wiesen ist, weder für den Trans der Medien, noch für die Fahrten ins Geisterreich.

Dies freilich bleibt unserer quasi-objektivistischen Deutung des Jenseits schließlich anhangen: daß sie auf jede bestimmtere Kritik der Jenseitsvisionen verzichten muß.

Wo im einzelnen Gesichte die Grenzen liegen mögen zwischen dem reinen Phantasieren des Sehers und seiner direkten oder symbolischen Übernahme von Vorstellungseinflüssen aus dem Jenseits, das wird sich gerade unter Voraussetzungen wie den hier gemachten niemals sagen lassen. [1]

Ein Beweis für die jenseitig-objektive Bedeutsamkeit einer Vision wird nie zu führen sein, aus dem einfachen Grunde, daß aus dem bloßen Charakter von Halluzinationen nie ihre Bedeutsamkeit erschlossen werden kann. Dagegen darf die allgemeine Möglichkeit jenseitiger Bedeutsamkeit im Falle von Visionen des Geisterreichs nie aus den Augen verloren werden.   

[1] Ich sehe hier ab von der Möglichkeit verfälschender Darstellung der Vision, vornehmlich traditionellen Anschauungen zuliebe.

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