Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap LXV. Die 'mystische Weltanschauung'.             (S. 684)

Die letzten Betrachtungen haben uns indessen nicht nur bis an die verdämmernden Grenzen einer neuartigen Anthropologie, sondern auch unmerklich über die Wasserscheide dieses Buches hinübergeführt:  


Kap LXV. Die 'mystische Weltanschauung'.             (S. 685)

bisher befanden wir uns im Aufstieg; jetzt hat der Abstieg bereits begonnen. Denn mit den Bemerkungen über eine mögliche teilweise 'Rettung' auch 'phantastischer' Jenseitsvisionen haben wir den ersten Schritt zur Anwendung unserer metapsychischen Einsichten auf die Typen der mystischen Erfahrung getan.

Unser Weg hatte uns, wie der Leser weiß, durch eine Reihe subjektivistischer Auslegungen dieser Erfahrung geführt, und diesen verfielen zunächst auch die Ansprüche des Mystikers, das Jenseits zu 'schauen' und damit seinen 'praktischen' Erfahrungen eine mehr als irdische, geschweige pathologische Bedeutung zu sichern.

Der an letzter Stelle vorgebrachte Anspruch des Mystikers auf übersinnliche Fähigkeiten gründete sich dann auf angebliche Beweise für die Fähigkeit, Gedanken Anderer zu lesen, eigene Gedanken in der Ferne wirksam werden zu lassen, Entferntes zu schauen, selber in der Ferne zu erscheinen,

das Künftige unmittelbar zu wissen u. dgl. m.; übernormale Leistungen, deren Glaubwürdigkeit wahrscheinlich gemacht werden konnte durch ihre Übereinstimmung mit Tatsachen, welche neuere Forschung teils festgestellt hat, teils festzustellen im Begriff ist.

Indem wir uns dann Schritt für Schritt den wachsenden Problemen hingaben, zu denen diese Tatsachen unwiderstehlich fortzogen, erstand uns allmählich in ungefähren Umrissen eine neue Welt von unverkennbarem innerem Zusammenhang, in welchem auch die sog. spiritistischen Tatsachen unweigerlich, wenn auch mit einiger Unbestimmtheit ihre Stelle fanden.

Daß die so neu erworbenen Einsichten die Beurteilung der zuvor behandelten Erfahrungen des mystischen Lebens sehr bedeutend beeinflussen müssen, erscheint noch vor aller besonderen Ausdeutung unmittelbar einleuchtend, und in der Tat hat denn auch das letzte Kapitel uns eine erste derartige Rückanwendung aufgedrängt und eben damit, wie ich sagte, uns die Paßhöhe unsres Gedankenganges überschreiten lassen.

Hinfort mit den fließenden Wassern absteigend, haben wir in diesen Rückanwendungen fortzufahren und dabei, wenn nicht genau, so doch im großen ganzen den Weg der früheren Darstellung mystischer Erfahrung in umgekehrter Richtung zu durchschreiten.

Wir können also zunächst in der Erörterung der Frage fortfahren, wieweit die neuen Einsichten uns eine veränderte Einschätzung der verschiedenen Arten angeblicher mystischer Erkenntnis erlauben, ehe wir die mystischen Instinktwandlungen samt ihren Nebenerscheinungen im Lichte unsrer erweiterten Anthropologie betrachten.

Jene angeblichen mystischen Erkenntnisse befaßten sich freilich größtenteils mit 'Gebieten' der übersinnlichen Welt, in die uns unsere induktive Metapsychik nur äußerst spärliche Blicke hat tun lassen:

sie beanspruchen vielfach geradenwegs in die göttliche Tiefe zu dringen, sowie in Gebiete, die zwischen dieser und der Welt der menschlichen Abgeschiedenen sich erstrecken sollen. Und doch läßt sich nicht verkennen, daß die Anschauungen,


Kap LXV. Die 'mystische Weltanschauung'.             (S. 686)

die sich uns aufgedrängt haben, nicht unfruchtbar auch bezüglich dieser fernerliegenden Mysterien sind; daß sie in der Tat ein unverkennbares Entgegenkommen bekunden gegenüber dem, was man etwa - mit einiger Weitherzigkeit des Begriffs - als die mystische Weltanschauung aller Zeiten bezeichnen könnte.

'Das Bestehen einer solchen mehr oder minder einheitlichen mystischen Weltanschauung wird bestritten werden, und ich will auf Einzelheiten der geschichtlichen Frage ihres Bestehens in diesem psychologischen Versuch nicht eingehen.

Mag eine 'synoptische Konkordanz' der mystischen Grundlehren noch so sehr zu wünschen sein: sie wäre nicht herzustellen ohne umfangreiche philologisch-historisch-kritische Vorarbeit, die vor allem überall durch sekundäre Zuwächse zu primären Kerngebilden vorzudringen hätte.

Da diese hier nicht geleistet werden kann, will ich nur kurz und dogmatisch angeben, was mir persönlich die theoretischen Grundlehren einer solchen mystischen Weltanschauung zu sein scheinen, um auf die natürliche Verwandtschaft hinzuweisen, die zwischen ihnen und den oben erschlossenen Grundbegriffen besteht.

Mystische Grundlehre ist, daß die Welt - mindestens aber die Welt des bewußten Lebenden - innerlichst Einheit sei; daß ein Wesen, ein Leben, ein Bewußtsein letzten Endes alles umfasse: die un- oder (besser wohl) überpersönliche Gottheit jenseits aller Götter, [1] welche die Welt umschließe, [2] aus sich treten lasse, und wiederum in sich hereinnehme, [3] - Begriffe, von denen dahingestellt sein mag, ob sie überall ein zeitliches Geschehen, oder nicht zuweilen mehr ein metaphysIsches Verhältnis bezeichnen. [4]

Dies Gegründetsein alles Einzelnen in Gott drückt sich aber weiter aus in einem metaphysischen Stufenbau der Welt (wenn ich so sagen darf), d. i. in der Tatsache, daß die Wesen ihrem metaphysischen Status nach Gott näher oder ferner sind,

oder - wenn man ein sehr deutlich umschreibendes Bild will - auf verschiedenen metaphysischen Niveaus stehen, die wie kleinere und größere Kugelschalen Gott, als den Mittelpunkt des Alls, umlagern; wobei natürlich festzuhalten ist, daß diese Schichtung ausschließlich qualitativ-'hierarchisch', keineswegs räumlich zu fassen ist. [5]

Dabei ergibt sich dann die weitere Folgerung, daß - da alle Wesen letztlich in

[1] Beispiele: Kena-Upan. 3, 14ff. (Deussen 206f.); Cvetâcvatara-Up 3, 7ff. (298ff.); Maitrâyana-Up. 6, 17 (342); Tao Teh King I, 1ff.; XXV, 1ff.; das 'xxxxxx' der Stoiker, der ssasass; Eckehart, bei Windelband, Gesch. d. Philos. I. Auf!. 265; persisch: Roemer 22. Über die verbreitete Synthese von Pan- u. Polytheismus s. zB. K. Joel, Der Ursprung der Naturphilos. aus dem Geiste der Mystik (Basel 1903) 78; Ramakrishna 36; Maitrâyana-Up. 4, 6 (327).
[2] Üb. diesen Panentheismus (im Gegensatz zu Pantheismus u. Hylozoismus) der älteren Naturphilos. s. Joel, aaO. 81.
[3] Vgl. z.B. die indische Lehre von den Kalpas und Brahman-Nächten (Hopkins, Re!. of India 421f.) und Heraklits xxx und xaxaxa.
[4] 'Ich will vieles sein . . .': Chandogya-Up. 6, 2, 3; Sufi: RPh 1906 I 521; christlich: Thomas Aquin., Summa theol. qu. XLVa I § 3 (Parmae 1852) II 83: emanatio totius entis ab uno; Müller 318. 320. - Dies die mystische Auffassung des 'Falles'; s. zB. Boehme, Von göttI. Beschaulichkeit 2, 2, 4-10 (Claassen I 170).
[5] Beachtenswert in diesem Zusammenhang sind die zwischen Begriffen, Gottesteilen, Naturkräften, Einzelwesen hin- und widerschillernden altpers. amshaspand; vgl. AR VI 257; VII 345ff. Ähnlich alexandrinisch u. frühchristlich: Müller 412f. 475.


Kap LXV. Die 'mystische Weltanschauung'.             (S. 687)

Gott wurzeln [1] - selbst die gottfernsten ihre Wurzeln durch alle Schichten der Gottferne - alle Mäntel der Kugel - hindurchsenden.

Ein Wesen, das seinem metaphysischen Status nach in einem Teil seines Wesens die größte Gottferne erreicht, wird damit zu einem vollständigen Abriß oder Durchschnitt der Welt, was die geschichtliche Mystik zuweilen in dem bekannten Begriffe des Mikrokosmos (des Menschen) als Auszug und Abbild des Makrokosmos zum Ausdruck brachte, wonach jedes Niveau des Seienden von dem entsprechenden im Menschen zu erkennen sei, [2] und sich selbst völlig Erkennen für diesen gleichbedeutend sei mit Erkennen Gottes und der Welt. [3]

Denn auf jedem metaphysischen Niveau sollte der Mensch unter Umständen zu Leben und Erkennen erwachen und damit ein Nachbar der Wesen werden können, denen jenes Niveau wesenseigentümlich ist. [4]

Diese Lehren - von einer Hierarchie der metaphysischen Seins- und Lebensschichten, von einer entsprechenden Hierarchie der Wesen, von einer ebenso entsprechenden Hierarchie der Lebens- und Erkenntnismöglichkeiten im Menschen, und von dem Münden und Wurzeln aller dieser Hierarchien in Gott, dem All-Einen - diese Lehren bilden, wie mir scheint, das abstrakteste Skelett dessen, was man mit der erwähnten Weitherzigkeit als die mystische Weltanschauung (in theoretischer Hinsicht) aller Völker und Zeiten bezeichnen kann.

Wieweit diese Begriffe sich in Übereinstimmung befinden mit Grundanschauungen heutiger Wissenschaft oder doch wissenschaftlich begründeter Philosophie, darüber mögen die Ansichten geteilt sein; wiewohl jene Übereinstimmung wahrscheinlich größer ist und sich auf mehr verschiedene Lehrtypen der Philosophie be- zieht, als mancher auf den ersten Blick vermuten möchte.

Doch können uns diese fraglichen Übereinstimmungen am Ende gleichgültig sein in einer Untersuchung, die ja die Unzulänglichkeit des wissenschaftlichen Tatsachenmaterials gerade nach der Richtung hin zu erweisen sucht, aus welcher die stärksten Anregungen zu mystischer Weltanschauung ohnehin zu erwarten sind.

Es ist denn auch unleugbar, daß die Grundlehren dieser Weltanschauung sehr viel mehr Verwandtschaft zeigen mit den Begriffen, zu denen uns die neuen, von der Wissenschaft noch nicht allgemein anerkannten Tatsachen anregten.

In ungefährer Weise - und alles scharfe und trockene Dogmatisieren muß uns zuwider sein in dieser Region des Ahnens - in ungefährer Weise erkennen wir zunächst in der tiefsten übergreifen- den psychischen Einheit - dem 'allwissenden' Geist als letzter Quelle alles übernormalen Erfahrens - den all-einen Gott der mystischen Weltanschauung,

[1] mit dem "vvvvvv" der Alexandriner, dem apex mentis, der synteresis, dem Abgrund des Geistes oder 'Fünklein' der mittelalterl. Mystik; d. muga-no-taiga des japan. Buddhismus (L. Hearn, Kokoro 252) u. a.   
[2] S. zB. J. Boehme, De tribus principiis, WW ed. Schiebler III 14; GichteI, Theos. III 2415f.; Ruysbroeck: Was wir sind, das schauen wir.    
[3] Vgl. H. More: nullus in microcosmo spiritus, nullus in macrocosmo deus. 'Ist nicht Kern der Natur Menschen im Herzen?' - dies ist 'myst. Weltanschauung' in nuce.   
[
4] Sehr klar im Buddhismus: s. Beckh II 52f.


Kap LXV. Die 'mystische Weltanschauung'.             (S. 688)

der (wie jener) die Einzelwesen in sich schließt, sie erschafft, bewegt und verschlingt. Für den Menschen anderseits ist uns die Hierarchie von Erkenntnismöglichkeiten beinahe ein vertrauter Gedanke geworden, mindestens im Sinne unbegrenzter Erweiterungsfähigkeit seiner Erfahrung;

ob aber und inwieweit diesen Möglichkeiten auch eine metaphysische Stufenleiter der Lebensmöglichkeiten auf verschiedenen 'Niveaus' entspreche, diese Frage blieb für uns gerade so im Ungewissen hangen, wie die einer Hierarchie von Bewußtseinsträgern innerhalb oder jenseits des materiellen - und des etwaigen 'feineren' - Leibes.

Hätte die Frage des objektiven Grundes von Phantomen, der örtlichen Anwesenheit eines leiblosen Ich deutlich gelöst werden können, wir würden vielleicht auch hier noch engere Verwandtschaft zwischen unseren Grundbegriffen und denen der mystischen Weltanschauung finden, als uns einstweilen möglich ist.

Wohl aber muß bemerkt werden, daß eben diese Hierarchie von übermenschlichen Wesen uns eine Möglichkeit geben könnte, den erkennenden Aufstieg des einzelnen Menschen in die metaphysische Überwelt zu begreifen, auch wenn es sich als unmöglich erweisen sollte, diesen Aufstieg durch den Übertritt des Einzelbewußtseins auf einen 'jenseitigen Bewußt- seinsträger' und den damit erfolgten Anschluß an ein höheres Niveau der Objektivität zu deuten.

Im ersteren Falle nämlich ließe sich annehmen, daß der Menschengeist an dem umfassenderen Wissen und Schauen des höheren Geistes teilnehme, nicht so sehr 'telepathisch' (was nach unseren Grundsätzen wieder erst durch das Enthaltensein bei der in einem noch größeren zu erklären wäre), sondern durch einen Vorgang unmittelbarer teilweiser Verschmelzung und damit Erkenntnisanteilnahme.

Dagegen kommen unsere Begriffe dem Glauben an eine Hierarchie der Wesen zwischen Mensch und Gott unstreitig entgegen, sofern sie anzunehmen gestatten, wenn nicht gar wahrscheinlich machen, daß zwischen den seelischen Synthesen der uns vertrauten Stufen - Mensch und Tier - und der letzten, allumfassenden des Weltbewußtseins sich andere von wechselndem Umfang der Synthese einschieben. [1]

Fechner befand sich bekanntlich in Übereinstimmung mit viel altem Glauben und Lehren, als er diese Mittelglieder zwischen göttlichem und menschlichem Geist in den Planeten als Bewußtseinseinheiten suchte. Doch sind wir nicht an diese Spezialisierung des Gedankens gebunden.

Gegenüber der großen Mannigfaltigkeit mystischer Lehren in Einzelheiten dieses Glaubens können wir uns auf die unbestimmte Vermutung von mittleren Bewußtseinssynthesen überhaupt beschränken und sie durch die Annahme ergänzen, daß die übersinnliche Erkenntnis des Menschen in dieser Hierarchie der Synthesen jeweils so hoch hinaufgreife, als soz. der 'Abstand' zwischen Subjekt und

[1] 'Geisterlehren' dieses Inhalts s. bei A. R. Wallace, The scientif. aspect of the supernatural, ch. 9. Vgl. auch E. Maitland u. A. Kingsford, The perfect way 3. Aufl. (Lond. 1890) 125 u. eine mittelalterl.-jüd. Schrift bei Horst, Zauberbibliothek III 134ff., bes. 270f.


Kap LXV. Die 'mystische Weltanschauung'.             (S. 689) 

erfahrenem Inhalt nötig mache. Womit wir uns jedenfalls den mystischen Lehrbegriff zueigenmachen, daß der Hierarchie der Wesen eine Hierarchie der Erkenntnismöglichkeiten entspreche.

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