Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap LXI. Abschließende Theorie des Transgeschehens.             (S. 651)

Das Gewicht zugunsten der spiritistischen Grundlehre, welches die in den letzten Kapiteln angedeuteten Tatsachen besitzen, mag nun verschieden ein geschätzt werden: daß es beträchtlich sei, wird niemand leugnen können, zumal wenn er auf dem Boden der Tatsachen und Theorien steht, die in den Kapiteln über die hellseherischen Leistungen erarbeitet wurden.

Es handelt sich ja dann hier nicht mehr darum, einer 'physikalisch-physiologischen' Weltanschauung das für sie außerordentliche Zugeständnis der spiritistischen Lehre abzunötigen; viel mehr nur darum, innerhalb des umfassenderen Zugeständnisses von übergreifenden Bewußtseinszusammenhängen außerhalb menschlicher Leiber - das geringere Zugeständnis des überdauernden Einzelbewußtseins außerhalb seines Leibes durch Wahrscheinlichkeitsgründe zu empfehlen.

Am wenigsten streitet gegen ein solches Zugeständnis, was von allem Anfang an eingeräumt worden ist: die fraglos subjektivistische Deutbarkeit vieler, auch übernormaler Bestandstücke der Transleistung.

In jedem Falle wird eine abschließende Theorie des Transgeschehens in diesem eine Mischleistung anerkennen müssen, in der sich Beiträge des Mediums (auch nach seiner metapsychischen Seite) und der Abgeschiedenen in schwer entwirrbarer Weise verschränken; ja zu der - soweit nicht wahre Besessenheit in Frage


Kap LXI. Abschließende Theorie des Transgeschehens.             (S. 652)

kommt - die psychischen Massen des Mediums den Hauptanteil Iiefern. Die vorausgesetzten Kontrollen wissen es jedenfalls genau (und ihr Wissen davon sickert beständig in die automatischen Äußerungen hinein), daß es jene Massen sind, worein sie ihre Keime zu versenken haben, bzw. die somnambule Persönlichkeit, zu der sich diese Massen im Zustande der eigentlichen Empfänglichkeit zusammenballen.

Bei Mrs: Verrall zB. ist dies, wie bemerkt, der scribe, das schreibende Trans-Ich, [1] dessen bloßes Tätigsein den Jenseitigen die Möglichkeit zu geben scheint, ihre Brocken in Umlauf zu bringen; das sie denn auch ermahnen, 'oft zu schreiben', [2] wie um sich eben die Gelegenheit zum Eingriff zu sichern.

Aber auch dies Hineinstreuen von Brocken geschieht eben darum mit dem Bewußtsein, daß ihre ständige Umspülung durch den psychischen Strom des Mediums eine Gefahr für das Verstandenwerden bildet, die desto größer ist, je behender, lebendiger und reicher ausgestattet,

je mehr geneigt also zu jeder Art von selbständigen Abschweifungen [3] die Psyche des Mediums ist; so daß die Kontrollen zuweilen geradezu die Sehnsucht nach 'einfältigen Sensitiven' und einem 'ruhigen Gehirn' aussprechen. [4]

Soweit die Schwächen der Selbstdarstellung der Geister durch diese Grundannahmen nicht ausreichend gedeutet sind, mag als fernere Erklärung dafür - unter spiritistischen Voraussetzungen - die Vergeßlichkeit der Abgeschiedenen bezüglich der eigenen Vergangenheit, zeitweilige Verwirrung oder die Unfähigkeit vorausgesetzt werden, Vorgänge der irdischen Welt noch nach dem Tode wahrzunehmen. [5]

Aber auch bezüglich positiver, aus dem Medium und seinen normalen Fähigkeiten nicht ableitbarer Bestandstücke der Transleistung fühlt sich die Theorie mehr und mehr zu Mischformen gedrängt.

Einerseits muß natürlich der Sitzer stets als mögliche Wissensquelle im Auge behalten werden, [6] wie er auch sonst, in nicht geklärter Weise, je nach seiner 'Sensitivität' zum Gelingen von Mitteilungen (die nicht aus ihm stammen) beizutragen scheint.[7]

Und selbst soweit der Boden der spiritistischen Hypothese beschritten wird, mag man sich einerseits den Geist zunächst nur als telepathisch mitteilend denken, [8]  das Medium aber aus diesen Mitteilungen und eigenen Zutaten - seinem 'Erangelten', Erratenen oder Erdachten - die Personation des Geistes wie eine Maske bildend.

Dann aber mag sich offenbar auch das hellsehend Erlangte des Mediums dem ihm persönlich Mitgeteilten beimischen und unter der Maske der Transpersönlichkeit mit unterlaufen.' Die beliebte Benutzung psychometrischer Gegenstände durch das Medium könnte dabei jedem dieser Einschläge in gleichem Maße dienen: der 'Anzapfung'

[1] das seine 'Ich-Selbständigkeit' durch vielfach eingestreute Urteile und Zweifel erweist; s. zB. Pr XX 69 (4); XXII 228.
[2] Pr XX 159 (1). 247 (4). 272 (1). 315 (3). 347 (3) u. oft. Natürlich werden damit auch spiritistisch-bedeutungslose Automatismen vorausgesetzt; vgl. hjerzu XX 94 (2).104; XVII 72f.
[3] Pr XX 403 (25. Jan. 1903); 422 0.: something has led you astray; 371. 379: falsche Auffassung seitens des Med. beklagt!
[4] Pr XXI 205 (2). 214. 246 (4). Vgl. 242 (I); XXII 191 (3). 205 (2); XVIII 162; XX 71 (3): fac quiescat; 89 (2): you cant hear tonight. your head is full; 141 (1). 173 (3); XXI 228f. Anm. 295 (4). Vgl. XX 48 (4). 103 u.: listen in sleep.
[5] S. bes. Pr XIII 333-5 und die Stenogramme der Sitzungen 413ff. oft.
[6] Unverkennbare Beispiele hierfür Pr XIII 320; XIV 9. 24.
[7] Vgl. hierzu Pr XV 35f.; XVII 71.
[8] Vgl. Mrs. Sidgwicks scharfsinnige Analyse des 'Dramas' Pr XV (bes. 17. 20. 38).
[9] Vgl. 'Nellys' Angaben Pr XVIII 135.


Kap LXI. Abschließende Theorie des Transgeschehens.             (S. 653)

einer allwissenden Quelle ebensosehr wie der' Aufrufung' des 'Geistes' mit seinem Wissen und Erinnern. Phinuit bringt diese Zweideutigkeit gelegentlich sehr charakteristisch zum Ausdruck.

Von einem Geiste behauptet er, er könne ihn 'kaum hören, er ist so schwach; es ist so lange her. .. er sagt, wenn Sie etwas aus seinem Besitze hätten, so würde es ihm helfen und ihn stärker machen. Er findet es sehr schwierig zurückzukehren. Es ist ein kleines Schmuckstück mit seinem Haar darin. ..

Diese Kapsel hilft ihm sich erinnern...' [1] Und Prof. Hyslops 'Vater' verlangt selbst nach einem Gegenstande, der ihm helfen soll, 'länger hier zu bleiben', oder bei dessen Anblick er 'klarer' werden könne. [2]

Sehr bezeichnend für diese ineinanderspielenden Formen des Wissenserwerbs ist auch der häufig gebrauchte Ausdruck des Mediums-in-Trans, daß ihm der Geist bald 'ferner', bald 'näher', [3] die Verbindung zwischen ihm und diesem bald enger, bald loser sei; daß sie zu gewissen Zeiten überhaupt aufgehoben zu sein, zu andern (wie wir sahen) nachgerade in Besessenheit überzugehen scheint.

Die Nähe der Geister - so drückt es ein scharfsinniger Analytiker einmal aus [4] -, wenn sie als anwesend oder innerhalb Hör- oder Gesichtsweite Nellys dargestellt werden, schwankt in einer krampf- und launenhaften Weise; sie schießen in den Brennpunkt und wieder aus ihm heraus, wie Gestalten in einem Kinematographen; und die besten, beweiskräftigsten Dinge werden gesagt in den Augenblicken, da sie (die Geister) als dem Trans-Ich 'sehr nahe' hingestellt werden; während ihr Versagen ihrer Entfernung zugeschrieben wird:

'Edmund Gurney ist jetzt hier', sagt eine von Miss Rawsons Kontrollen, 'er ist zu hoch, um zu sprechen.' [5] - Und vielleicht können wir die anscheinende Besitzergreifung des Mediums selbst, den Eintritt seiner 'Besessenheit', als die äußerste Steigerung dieser 'Nähe' des Geistes auffassen.

Sowohl die Eindrücke des Sitzers, als auch die der Transpersönlichkeit deuten ein solches Ineinandergleiten von Informierung des Mediums und Verdrängung aus seinem Leibe an.

Ein Beispiel liefert eine Beobachtung des bekannten Dr. Fred. van Eeden, [6] die der genauen Erwägung des Lesers empfohlen sei und von der ich hier der Kürze halber nur folgende Zusammenfassung anführe:

'Während einiger Minuten... hatte ich schlechthin das Gefühl, als spräche ich zu meinem Freunde selbst. Ich sprach holländisch und erhielt sofortige und richtige Antworten. Der Ausdruck der Freude und Befriedigung in Miene und Geste, als wir einander zu verstehen schienen, war zu lebenswahr, um für bloße Schauspielerei gehalten zu werden.

Völlig unerwartete holländische Worte wurden ausgesprochen, [7] Einzelheiten wurden angegeben, die meinen Gedanken fern lagen. .. Aber nunmehr sehr auf der Hut, konnte ich gerade während dieser aufs Höchste fesselnden wenigen Minuten entdecken, wo soz. der Zukurzschuß sich einschlich.

Ich konnte den Vorgang verfolgen und wahrnehmen, in welchem Zeitpunkt die echten Erscheinungen aufhörten und die unbewußte Schauspielerei begann. In kaum wahrnehmbaren Abstufungen übernimmt das Medium die Rolle des Geistes, vervollständigt die Mitteilung, gibt ihr die nötige Abrundung und füllt die Lücken durch Ausbesserung und Anordnung.' [8] -

Ja nach einer ähnlichen Szene gab das

[1] Pr VI 47If.; vgl.502.
[2] Pr XVI 336; vgl. 338 und Nellys Angaben XVIII 155.
[3] zB. Pr VI 468: XVIII 236.
[4] Mr. Piddington in Pr XVIII 141. 5
[5] Pr XVIII 301; vgl. Nelly üb. Erzbischof Benson das. 138. 'Geister' selbst bedienen sich dieser Bezeichnungen: zB. XVI 321.
[6] Pr XVII 108ff.
[7] Das Med., Mrs. Thompson, verstand kein Holländisch.
[8] Das. 82f.


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Kap LXI. Abschließende Theorie des Transgeschehens.             (S. 654)

erwachte Medium Mlle Smith bezeichnenderweise an: 'Ich habe eine Dame gesehen, die manchmal neben mir. manchmal in mir selbst zu sein schien, ich kann dies Gefühl nicht näher beschreiben. . ., und sie lieferte dann eine genaue Beschreibung der ihr unbekannten Verstorbenen. [1] -

Wir empfangen hier geradezu den Eindruck eines Verschmelzens zweier Iche in wechselnden Graden, ein Begriff, dem wir im Grunde schon früher begegnet sind [2] und der uns auch ferner wieder packen wird. [3]

Hindert also das Zugeständnis subjektiver (dem Medium entstammender) Elemente im Transgeschehen nicht die Zulässigkeit einer spiritistischen Deutung an sich, so ist es anderseits auch kein Zufall, daß diese Deutung alsbald eine so verfließende Form annimmt.

Gerade die theoretischen Grundbegriffe, durch die wir jene übernormalen Fähigkeiten zu begreifen suchten, deren mögliche Anwendung seitens des Mediums einen spiritistischen Identitätsbeweis schier unmöglich macht, gerade diese Grundbegriffe haben auch die Neigung, auf die spiritistischen Grundannahmen auflösend zu wirken.

Nur wenn man sich dies ganz klar macht, erfaßt man die eigentümliche Problemlage, in die wir uns hier verstrickt finden. Wir setzen ein übergreifendes Bewußtsein voraus, in welchem die EinzeIbewußtseine mit ihrem Wissen enthalten sind und dessen Gesamtwissen unter Umständen dem Einzel-Ich zur Verfügung steht.

Aus diesem Über-Ich schöpft unter Umständen auch das Medium, das im Leibe ist. Aber die 'Geister', die nach der Voraussetzung außer dem Leibe sind und doch im Über-Ich - wie bringen sie es fertig, ihr Wesen und Wissen noch von jenem Über-Ich zu scheiden?

Und welcher Unterschied besteht denn überhaupt noch zwischen einem Schöpfen des Mediums aus dem Über-Ich und seinem Schöpfen aus dem Einzel-Ich eines Abgeschiedenen? Wenn Individuation im Diesseits augenscheinlich im Zusammenwirken mit einem Leibe zustande kommt, kommt sie im Jenseits überhaupt noch zustande? '-

Es wird uns also die Frage brennend: wie wir in jenem Ozean von Geist, den wir die Tiefe der Überwelt erfüllend denken, den Tropfen des Einzel-Ich - wenn auch nur zeitweilig - vom Untergang retten können, und damit eine Hypothese, die sich so vielem mediumistischen Geschehen gegenüber als die natürlichste empfahl.

Wir haben ersichtlich mit der Hypothese des Allgeistes so viel zugestanden, daß wir es nunmehr schwierig finden. das geringere Zugeständnis der spiritistischen Hypothese aufrechtzuerhalten. Wir haben diese letztere soweit überhoIt, daß sie nachgerade wie das geringere Licht in dem helleren verschlungen zu werden droht.

In dieser Verlegenheit nun kommen uns gewisse Tatsachen, die uns die frühere Untersuchung zugeführt hat, in einem Sinne zu Hilfe, der uns den innigen Zusammenhang aller hier behandelten Beobachtungs- und

[1] Aus APS 1897 in PS XXVI 482f.
[2] o. S. 65ff. u. sonst.
[3] u. K. LXXV.


Kap LXI. Abschließende Theorie des Transgeschehens.             (S. 655)

Problemreihen empfinden läßt. Der Sammelbegriff des Phantoms hatte für uns schon vor der letzten Erörterung des Transgeschehens ähnlich verschwimmende Grenzen angenommen, wie sie hier der des Einzel-Ich aufweist.

Jener Sammelbegriff erstreckte sich von Beobachtungen, die den Gedanken eines organisierten 'feineren' Leibes nahelegten, bis zu anderen, die wir als reine (wenn auch 'wahre') Halluzinationen deuten mußten,

und irgendwo inmitten dieses begrifflichen Spektrums narrte uns ein gesuchter, aber nicht zu greifender 'dritter' Begriff des Phantoms, der es uns erkenntnistheoretisch und metaphysisch hätte verständlich machen sollen, daß Phantome, die nicht objektive Leiber irgendwelcher Art sind, doch in irgendeinem Sinne ortsanwesend sein, ein Bewußtsein dieser Ortsanwesenheit verraten und unter Umständen selbst Wirkungen an den Dingen im Raum ausüben können.

Dasselbe Spektrum läßt sich naturgemäß innerhalb der Reichweite eines anderen Sammelbegriffes verfolgen, den uns die Fülle der Tatsachen aufdrängte. Auch die Exkursion beobachteten wir einerseits als Herauswachsen eines Phantoms aus einem Medium; eines Phantoms, das seine Objektivität durch metaphysikalische Leistungen erwies.

Am anderen Ende verlor sich die Tatsache der Exkursion in die des Fernsehens: der Verlegung des bloßen Blickpunktes des Bewußtseins an einen weit vom Körper abliegenden Ort.

Und wieder lag irgendwo in der Mitte zwischen diesen bei den Enden die Tatsache, daß der Fernseher (oder fernsehend Exkurrierende) unter Umständen ein Phantom erzeugt, das sein Verlassen des Leibes beobachtet; das zwar nicht leibliche Objektivität besitzen mag, aber schon durch sein Benehmen eine bewußte Ortsanwesenheit in der Ferne zu verraten scheint. [1]

Beide Tatsachenreihen nun haben für das spiritistische Problem offenbar entscheidende Bedeutung: sofern sie nämlich die Möglichkeit bieten, den individualistischen Gesichtspunkt in das Gebiet des außerkörperlichen geistigen Geschehens hineinzutragen.

Sie schaffen in der unentschiedenen und scheinbar unentscheidbaren Problemlage, die uns die Darstellung des Transgeschehens hinterließ, gerade genügendes Übergewicht der einen Seite, um eine schwer zu schätzende Wahrscheinlichkeit zu praktischer Gewißheit werden zu lassen.

Die Tatsachen der objektiven Exkursion beweisen uns, daß individuelles Bewußtsein und Erinnern fortbestehen können nach Preisgabe des sichtbaren Leibes; und die Tatsachen der objektiven Phantomatik beweisen uns die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, daß auch dem körperentwichenen Bewußtsein ein Träger zur Verfügung stehe für den Fall, daß ein solcher als Grundlage der Individuation unentbehrlich sein sollte.

Der individuelle Überlebende erscheint gewissermaßen als mindestens potentielles Phantom. Diese

[1] Vgl. o. S. 519f. 521.


Kap LXI. Abschließende Theorie des Transgeschehens.             (S. 656)

Überlegungen in Verbindung mit den oben zusammengestellten realistischen Zügen des Transdramas scheinen mir eine annähernde Gewißheit zu begründen, daß die spiritistische Grundannahme wahr ist und sich der allgemeinen mystischen Grundlehre vom übergreifenden Bewußtseinszusammenhang natürlich einfügt.

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