Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XXXVIII. 'Gedankenlesen'.         (S. 382)

Die Schwierigkeiten der vibratorischen Theorie wachsen nun aber noch bedeutend auf dem Boden weiterer Tatsachen, in deren Dienst man sie gleichwohl zu zwingen sucht, um das gangbare physikalische Weltbild zu retten.

Von der kurzen Übersicht über 'legendarische' Berichte abnormer Erkenntnisleistungen her entsinnt sich der Leser, daß die Beispiele der scheinbar aktiven Übertragung von Vorstellungen gleitend übergingen in Fälle, die solche aktive Übertragung zunehmend zweifelhaft erscheinen ließen, vielmehr den Anschein entweder aktiven Gedankenlesens seitens des Perzipienten erweckten, oder aber den des Hellsehens einer Szene, unabhängig von einem zweiten menschlichen Bewußtsein überhaupt.

Im Falle des Gedankenlesens beruht die Schwierigkeit der vibratorischen Theorie darauf, daß man häufig nicht den mindesten Grund zur Annahme hat, die 'gelesenen' Inhalte seien gleichzeitig im Geiste des Opfers (wenn ich so sagen soll) überhaupt bewußt gewesen, die physischen Grundlagen dieser Inhalte also in einem Zustande der Erregung, der die

[1] bei Podmore, App. 390.
[2] Jahre nach Abfassung vorsteh. Kapitels finde ich zu meiner Freude verwandte Gedankengänge bei Tischner, Tel. u. Heils. 99ff.


Kap XXXVIII. 'Gedankenlesen'.         (S. 383)

Aussendung von Fernstrahlungen durch sie irgend wahrscheinlich machen könnte. Die allerbesonnenste Forschung, soweit sie sich weigerte, in ihren Zugeständnissen an den übernormalen Anschein über die Zugestehung der Telepathie hinauszugehen, ist daher zu der Annahme des Lesens unbewußter Inhalte, also nicht-aktueller Erinnerungsvorstellungen unweigerlich gedrängt worden.

Den klassischen Fall dieser Denknötigung (der uns in anderem Zusammenhang noch beschäftigen wird) bilden die Leistungen des (nicht-physikalischen) Mediumismus. Diese beruhen bekanntlich auf gewissen Formen des Automatismus oder den entsprechenden ekstatischer Transäußerung.

Automatisch zu schreiben mit Bleistift oder 'Planchette' und Tische zu rücken oder zu kippen sind sehr viel mehr Personen imstande, als selbst die gesellige Ausbeutung dieser Fähigkeiten an den Tag bringt.

Das vor altem Bemerkenswerte aber an diesen automatischen Leistungen liegt bekanntlich darin, daß sie augenscheinlich durch intelligente Vorgänge außerhalb des Wachbewußtseins des Automatisten bestimmt werden; Vorgänge, die sich meist bis zur Vorführung einer bestimmten 'Persönlichkeit' steigern, die einen Namen annimmt, sei es eines Verstorbenen oder eines Lebenden, eines Abwesenden oder Anwesenden, einer geschichtlichen Berühmtheit oder einer phantastischen, religiösen, mythischen Person.

Die 'spiritistischen' Ansprüche dieser Vorgänge in einzelnen Fällen gehen uns hier nichts an; sie werden bekanntlich aufs heftigste bestritten. Völlig unbestritten dagegen, so weit ernsthafte Forschung geht, ist die Tatsache (ohne welche der spiritistische Anspruch schwerlich aufgekommen oder jemals ernstlich vertreten worden wäre): daß sich das personhafte Transbewußtsein des Mediums häufig oder meist im Besitz eines Wissens zeigt, das ihm auf normalem Wege nicht zugekommen sein kann.

Nicht selten läßt sich ohne weiteres annehmen, daß zB. die Antworten auf Fragen des 'Sitzers' dem Medium durch jenen selber telepathisch zugetragen werden. Aber in sehr vielen Fällen gehen sie ebenso augenscheinlich über das dem Sitzer z. Z. Bewußte weit hinaus. Alles Ungedachte, selbst 'Vergessene' in den Seelen der Anwesenden steht dem Medium in gleicher Weise zur freien Verfügung, wie das etwa aktuell von ihm Vorgestellte.

Als ein Beispiel unter Hunderten bereitliegender fasse ich kurz einen Bericht zusammen, den Herr John E. Wilkie im April 1898 an Dr. Hodgson sandte und der den Vorzug hat, daß das 'Medium' ein nicht-gewerbliches und die Leistung eine anscheinend einzigartige in seinem Leben war.

Als Genesender nach schwerer Bronchitis (im Okt. 1895) saß W. im Hause seines Londoner Arztes, Oscar C. de Wolf, neben diesem im Liegestuhl und schlummerte etwa 30 Minuten; ging darauf in Halbschlaf über (ich bitte diesen Zug zu merken) und sprach zu sich selbst: 'Halt, hier ist eine Botschaft für den Doktor.'

Darauf glaubte er auf einen Schreibblock auf seinen Knien das folgende niederzuschreiben: 'Lieber Doktor, erinnern Sie Kate McGuire, die eine Zeitlang bei Ihnen in Chester lebte? Sie starb i. J. 1872. Sie hofft, daß Sie sich in London gut die Zeit vertreiben.' Gleich darauf vollkommen wach


Kap XXXVIII. 'Gedankenlesen'.         (S. 384)

werdend, wiederholte er dem Arzte mündlich das soeben halluzinatorisch Niedergeschriebene zu dessen äußerstem Erstaunen. W. hatte bisher nie von Kate McGuire gehört, erfuhr aber jetzt folgendes von seinem Arzt:

daß, während dieser in den 60er Jahren in Northampton, 25 km von seinem Elternhause, in Chester lebte und dieses öfter besuchte, Kate McGuire, Tochter eines Nachbarn, häufig seiner Mutter in der Wirtschaft geholfen habe; daß er von 1869-73 von Chester abwesend gewesen sei und nicht wisse, wann genau während dieser Jahre Kate M. gestorben sei, und daß er seit 20 Jahren (,viele Jahre' sagt de Wolf) nicht an sie gedacht habe.

Auch Mr. Wilkie ist sicher, nie ihren Namen aus des Doktors Munde gehört zu haben oder auch nur den Namen ihrer Familie. Unterhaltungen über die Vergangenheit hatten sich ausschließlich auf die Mitglieder der Familie des Arztes bezogen.

W. war überdies nie auf weniger als 750 km Chester nahegekommen. Seine Eignung als Zeuge ist aus seiner Stellung als Chef des Geheimdienstes der Vereinigten Staaten zu erschließen; an Spiritismus glaubte er nicht. [1]

Aber das unbewußte und 'vergessene' Wissen der Anwesenden reicht nicht aus als Inhaltsquelle der Äußerungen des Mediums: es besteht unter kritischen Kennern der Tatsachen kein Zweifel darüber, daß eine Erklärung dieser Äußerungen durch Gedankenlesen mindestens noch das im selben Sinne unbewußte Wissen von Abwesenden, sogar sehr Entfernten, ja möglicherweise das aller Lebenden überhaupt in den Wirkungsbereich dieser angenommenen Fähigkeit einbeziehen müßte. [2]

Beispiele hierfür sind fast in jeder sorgfältigen Analyse umfangreicherer mediumistischer Äußerungen zu finden. So hat Prof. Hyslop aus seiner ursprünglichen Versuchsreihe mit der bekannten Frau Piper etwa 50 Fälle ausgezogen, die auf diese Mindestvoraussetzungen angewiesen sind. [3]

Ein solches in alle Fernen schweifendes Zusammenlesen der Einzelinhalte, das zahlreiche und sehr verschiedene Personen gleichsam 'aufsuchen' müßte, um dann aus ihren z. Z. 'unbewußten' Erinnerungen Tatsachen zu schöpfen, geht anscheinend über das bisherige Begriffsschema der Telepathie sehr bedeutend hinaus.

Allerdings ist der Versuch gemacht worden, gerade den schwierigsten Teil dieser Voraussetzungen überflüssig zu machen: nämlich das tätige Aufsuchen der entfernten unbewußten Belehrungsquellen seitens des Mediums.

Dieser Versuch beruht auf der Annahme, daß im Trans geäußerte Tatsachen, die dem Sitzer nachweislich unbekannt waren, von diesem unterhalb der Schwelle des Bewußtseins bereits in früherer Zeit telepathisch erworben worden und somit ihm unterschwellig bewußt seien.

Telepathie finde (so sagt diese Theorie) beständig und im allerweitesten Umfange statt, vielleicht vorzugsweise zwischen persönlich Vertrauten, die sich einander allmählich angepaßt hätten; und

[1] Ausführliches bestät. Zeugnis des Arztes gleichzeitig im Druckersch. - JSPR VIII 278ff.; auch Myers II 24ff. Vgl. hierzu Pr XVI 127.
[2] Bekanntlich ist es gerade diese leidlich weitgehende Voraussetzung, vor welcher Manche der 'spiritistischen' Hypothese den Vorzug gegeben haben.
[3] Pr XVI 132. (Ich zähle die Klassen III, IV und V.) Vgl. auch PS XXIV 473.


Kap XXXVIII. 'Gedankenlesen'.         (S. 385)

in dieser Masse des telepathisch Zuströmenden führe das Unterbewußtsein jedes Perzipienten eine gewisse Ordnung durch auf Grund einer persönlichen 'Note' (Index), die jeder zuströmende Gedanke an sich trage. [1]

Dies telepathisch erlangte Gesamtbild dritter Personen - in unserem Falle also Verstorbener - übertrage sich dann, wiederum telepathisch, während der Sitzung oder sonstwann auf das Medium und werde von diesem zur Ausgestaltung der 'Persönlichkeit' des Toten verwendet, in dessen Namen es vorgäbe zu sprechen.

Dieser Gedankengang, welcher auch der Bekämpfung der spiritistischen Hypothese dienen soll, gestattet nun allerdings die Umgehung jener seltsam verwickelten Voraussetzung, nach welcher das Medium sich soz. mit einer telepathischen Frage an das Unbewußte eines Entfernten wendet, um von diesem, wiederum unbewußt, telepathische Auskunft zu erlangen; wobei noch gänzlich unerklärt bliebe, wie denn jene Quelle allererst 'aufgefunden' werde.

Ich will es auch durchaus nicht als eine Schwierigkeit der neuen Annahme bezeichnen (betrachte es im Gegenteil als durchaus wissenschaftliche Folgerichtigkeit), daß sie, Telepathie einmal zugestanden, ihr eine sehr viel größere Ausdehnung zuschreibt, als die Beobachtung jenes winzigen Ausschnittes seelischen Lebens nachweist, den wir als unser Wachbewußtsein kennen.

Nur darauf muß ich aufmerksam machen, daß wir mit dieser Annahme uns von den bisher besprochenen Typen der Telepathie beträchtlich entfernt haben.

Jene Tatsachen der wirklich festgestellten Telepathie zeigten durchgehends entweder den zusammengefaßten Willen zum Experiment, oder aber (in den spontanen Fällen) ein erregendes Erlebnis von großer Bewußtseinsstärke, worauf die physikalische Theorie ja auch ausdrücklich sich stützte, indem sie besonders heftige explosive Hirnzellenvorgänge zum Ausgangspunkt der Übertragung machte.

Wird man solche auch als physiologische Grundlage jener Vorstellungen voraussetzen, die nach der neuen Annahme telepathisch übertragen werden  müßten: nämlich aller jener völlig gleichgültigen, ja z. T. nichtssagenden Inhalte, die der 'Sitzer' aus aller Welt her in seinem 'Unterbewußtsein' aufgespeichert haben, und sodann jener 'unbewußten' Erinnerung an sie, die er während der Sitzung auf das Medium übertragen soll, ohne es selbst zu ahnen?

Wenn nicht, so wird man der fraglichen Hypothese zuliebe alle Phantasien über explosive Gehirnvorgänge fallen lassen und  annehmen, daß - sagen wir gleich - der gesamte Erfahrungsinhalt unseres Lebens in Gestalt spezifischer und individuell-gesonderter Erregungsvorgänge im Hirne fortlebe und nach außenhin fortwirke.

Je nach den Ansichten über das Wesen der Lokalisation im Hirn werden auch die Schwierigkeiten dieser Annahme größere oder geringere sein. In jedem Falle aber würden auch hier sich alle jene Schwierigkeiten melden, die wir in den

[1] Dieser Gedankengang ist besonders von H. Carrington ausgebildet worden (Pr XVII 337; bes. 354ff.).


Kap XXXVIII. 'Gedankenlesen'.         (S. 386)

Voraussetzungen der Übermittelung hochzusammengesetzter Vorstellungen fanden, vermehrt um jene, welche die Hypothese der physikalischen Wirksamkeit unbewußter Inhalte an sich etwa birgt.

Die Annahme eines tätigen VorstellungsIesens würde diesen Nöten zwar entgehen (falls sie nicht bloß eine andere Bezeichnung für den telepathischen Vorgang sein soll); aber sie würde eben damit über den Wirkungsbereich physiologisch-physikalischer Vorstellungen völlig hinausführen in ein Reich neuartiger Anschauungen hinein, das erst zu erobern wäre.   

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