Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 386)

Dasselbe scheint nun bezüglich der Tatsachen zu gelten, die unter dem Namen des Hellsehens behauptet werden. Verstehen wir darunter, wie oben angedeutet, das nicht durch Sinneswerkzeuge vermittelte tätige Sehen des verborgenen oder entfernten Gegenständlichen, so ist schon durch solche Begriffsbestimmung die Beteiligung telepathischer Vorgänge ausgeschlossen:

fänden solche statt, so dürften wir eben nicht von tätigem Sehen reden. Das Lesen oder 'Sehen' fremder Gedanken ist nicht zu erweisen, indem die Möglichkeit unbewußter Telepathie sich nicht ausschließen läßt; das Sehen oder 'Lesen' ferner Gegenstände aber wäre zu erweisen, soweit sich die mögliche Beteiligung von Telepathie überhaupt ausschließen ließe.

Ob dies je der Fall sei, ist eine Frage, die nur durch kritische Prüfung der Einzeltatsachen bzw. ihrer Berichte zu lösen ist. Sie drängt uns erstmalig ernsthaft in das Einzelne der Berichte hinein; denn von der verhältnismäßigen Eindeutigkeit der meisten Beobachtungen über Telepathie kann hier freilich nicht mehr die Rede sein.

Die wissenschaftliche Problemlage regt uns also an, die Tatsachen, welche angeblich und auf den ersten Blick ein echtes Hellsehen verbürgen, unter dem Gesichtspunkte der zunehmenden Schwierigkeit zu betrachten, mit der irgendeine telepathische Tätigkeit als Mittel ihrer Fortdeutung aufzufinden ist.

Dieser Gesichtspunkt empfiehlt sich aber außerdem noch im Sinne des Wunsches, ohne übertriebene Rücksicht auf wissenschaftliche Vorurteile oder Bevorzugungen die Tatsachen in einer Gruppierung darzubieten, die den Blick für das 'Natürliche' von Hypothesen - gegenüber der Gesamtheit des Erfahrungsstoffes - lebendig und ungetrübt erhält.

An den Anfang unserer neuen 'Reihe' würde ich darum unbedenklich einen großen Teil jener Erfahrungen stellen, die gewöhnlich ebenso unbedenklich unter der Etikette der spontanen Telepathie veröffentlicht werden: nämlich viele jener Fälle, in denen die Wahrnehmung bis zum vollen Bilde gediehen ist, vornehmlich wenn dieses Bild den angeblichen Agenten in seiner augenblicklichen wirklichen Umgebung zeigt. Denn hier


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 387)

fällt meistens auf - ein Umstand, der meines Wissens noch nicht hinreichend gewürdigt worden ist -, daß dieses Bild des Vorgangs und der Umgebung durchaus nicht mit jenem übereinstimmt, das im Bewußtsein des angeblichen Agenten im Augenblick der vorausgesetzten Übertragung vorhanden ist. [1]

Ich will diese Tatsache hier durch zwei Beispiele verdeutlichen, die ich mehr wegen ihrer typischen Eigenart, als ihrer besonderen Glaubwürdigkeit aus Hunderten fast zufällig auswähle, was um so unbedenklicher ist, als ihnen eine Beweislast für die Wirklichkeit von Hellsehen noch nicht eigentlich auferlegt werden soll.

'Ich war', schreibt ein Perzipient, auf seine Internatszeit zurückblickend, 'damit beschäftigt, meine geometrische Schulaufgabe durchzunehmen, . . . als ich plötzlich ein Schlafzimmer meines Elternhauses, das wir das weiße Zimmer nannten, [vor mir] und auf dem Fußboden meine Mutter liegen sah, allem Anscheine nach tot.

Das Gesicht muß mehrere Minuten angehalten haben, währenddessen meine wirkliche Umgebung zu verblassen und zu verschwinden schien; aber indem die Vision zerging, kehrte die tatsächliche Umgebung zurück, zuerst undeutlich und dann deutlich.' [2] Der zweite Fall läßt sich folgendermaßen knapp zusammenfassen:

Sanders, ein Geistlicher, liegt in 'somnambulem' Zustande auf seinem Bette und lacht plötzlich herzlich auf. Auf die Frage, was es gebe, sagt er: 'Ich lachte über Dr. Witt,... er hatte blutige Mühe, nicht vom Zaun herunterzufallen, denn die oberste Planke drehte sich unter ihm und er versuchte sich oben zu halten.'

Nach 15 Minuten trifft Dr. Witt ein und bestätigt den 'gesehenen' Vorfall: der Zaun, den er zu überklettern hatte, befand sich in 1 - 1,5 km Entfernung von dem Somnambulen, 'jenseits eines Wäldchens mit dichtem Unterholz und eines Hügels,' also außerhalb des Augenbereichs des Perzipienten. [3]

In Fällen dieser Art kann von unmittelbarer Vorstellungsübertragung nicht die Rede sein. Nicht nur fehlt der beherrschende Bewußtseinsinhalt des angeblichen Agenten völlig (Sanders zB. hat nicht das Gefühl, von einem Zaun zu fallen), sondern dieser angebliche Agent wird, wie gesagt, als Gegenstand innerhalb einer Umgebung gesehen, die für ihn und in der er sich selbst ein reichlich anders gestaltetes Bild darbietet, wie für den Perzipienten.

Da die fragliche Örtlichkeit aber diesem in jedem Falle bekanntgewesen zu sein scheint, so könnte immerhin ihre halluzinatorische Mitdarstellung auf Grund einer mehr 'abstrakten' Übertragung angenommen werden.'

In den nicht minder zahlreichen Fällen dagegen, die den Agenten innerhalb einer Umgebung zeigen, die dem Perzipienten zuvor unbekannt war und dennoch wirklichkeitsgetreu dargestellt wird, entsteht neben der Forderung einer verwickelten Vorstellungsübertragung auch noch die einer noch verwickelteren soz. perspektivischen Vorstellungsumarbeitung, die aus der Ortswahrnehmung des angeblichen Agenten diejenige des ihn selbst innerhalb dieser Örtlichkeit von außen anschauenden Perzipienten modelt.

[1] Vgl. oben Kap. XXXVI S. 353.
[2] Gurney I 194.
[3] Aus einem seIt. amerik. Druck zit. bei Myers II 566. Vgl. etwa noch Gurney II 93f (Nr. 261); Pr X 217.
[4] zB. im erst angeführten Falle der Mitteilung: Ich liege sterbend im 'weißen Zimmer'.


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 388)

Ein Beispiel bietet folgender von dem namhaften amerikanischen Philosophen Josiah Royce gesammelte Fall: M., der' Agent', hat sich nach Empfang einer tiefschmerzlich erregenden Nachricht, die indessen nichts mit der Perzipientin zu tun hat, auf sein Hotelzimmer in einem Orte des Staates Rhode Island begeben, mit abwärts gekehrtem Gesicht auf das Bett geworfen und längere Zeit in großer Erschütterung in dieser Stellung verharrt.

Von der Perzipientin, Frau N., einer befreundeten Ärztin, erhält er am übernächsten Tage einen Brief, den ersten seit Monaten, mit der Anfrage, was 'am Freitag um 2 Uhr', d. h. um die genaue Zeit jener erregenden Erfahrung geschehen sei.

Nach Frau N.s Bericht an Prof. Royce, datiert vom 16. August 1886, d. i. '8-9 Jahre' nach dem Ereignis, hatte diese, mit 'gleichgültigen Kleinigkeiten' im Sinn, in ihrem Zimmer gesessen, als sich ihr 'Geist zu leeren' begann, ihre Augen starr wurden, die Luft 'weiß zu werden schien. Es erforderte eine außerordentliche Sinnesanstrengung, [die Gegenstände um mich her] wahrzunehmen.

Ich empfand darauf ein starkes und schmerzliches Mitgefühl mit irgend jemand, der litt. .. Nach einer kleinen Weile wußte ich auch, wer es sei, ohne sagen zu können, wie [mir dies Wissen kam]; einige Zeit danach sah ich in meinem Gehirn, nicht vor meinen Augen, deutlich ein großes viereckiges Zimmer, offenbar in einem Hotel, und die Person, die mir ins Bewußtsein gekommen war, mit dem Gesicht abwärts gekehrt auf dem Bette liegend, in den Schmerzen geistiger und körperlicher Angstqual.

Ich fühlte mehr, als hörte, Schluchzen und Jammer, und wußte innerlich um die Art des Kummers; seine äußere Ursache wurde mir nicht übermittelt. Äußerste Erschöpfung folgte dieser Erfahrung, welche 40 Minuten sehr heftig anhielt und sich dann langsam verlor.

Ich bemerke: 1. daß ich einige Zeit lang nicht an jene Person gedacht hatte und daß sich nichts in meinem Zimmer befand, was mich an sie hätte erinnern können; 2. daß die Erfahrung mit größerer Lebhaftigkeit erinnert wurde, als eine normal wahrgenommene, während von Träumen das Gegenteil gilt.' [1]

Daß hier gerade die Ursache des Kummers, das dem Bewußtsein des M. offenbar zunächst Gegenwärtige, nicht erfahren wurde, woh1 aber das ihm wahrscheinlich völlig Unbewußte, nämlich die gleichgültige Umgebung des Augenblicks, spricht augenscheinlich nicht für die Anwendung des einfachen telepathischen Schemas.

Anderseits ist es ein Mangel des Berichtes, daß die Wirklichkeitstreue der gesehenen Örtlichkeit nicht ausdrücklich erwiesen und bestätigt wird. - Andere Berichte indessen leiden nicht an diesem Mangel. Im folgenden Fall zB. wurde das Gesicht aufgezeichnet, ehe die Bestätigung seiner Richtigkeit eintraf.

Die Perzipientin, Mrs. B., saß bei einer Näharbeit in ihrem Hause, etwa 2 km von dem Orte des gesehenen Vorfalls entfernt, als sie den Sturz einer Freundin über zwei Stufen 'sah', die vom Bürgersteig in den Hof eines Hauses hinaufführten, welches die' Agentin', Mrs. Conner, eine Freundin der B., erst einige Tage zuvor bezogen und das die B. eben deshalb noch nie gesehen hatte.

Das Gesicht enthielt als weitere wirklichkeitsgetreue Einzelheiten die Kleidung, welche die Fallende z. Z. trug (welche der Perzipientin als solche bekannt, aber natürlich nicht die einzige der Agentin war), sowie einen unter dem Arm getragenen und ihr

[1] PrAm I 397 ff. Vgl. zB. Gurney I 443; Podmore, App. 363; Owen, Footfalls 124f.


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Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 389)

beim Sturz entgleitenden Packen Papiere (Mrs. C. kam gerade von einer Arbeit in der Kongreßbibliothek in Washington). Die Gleichzeitigkeit von Vorfall und Gesicht ist durch diesbezügliche Nachforschung wenigstens wahrscheinlich gemacht.

Endlich verdient bemerkt zu werden, daß Dr. Gaues, der den Fall eine Woche nach dem Ereignis untersuchte, nicht nur die völlige 'Glaubwürdigkeit', sondern auch die 'seltenen übernormalen Fähigkeiten' (nicht der 'Agentin', sondern) der - Perzipientin bezeugt, die er genau kennt, aber auf ihren Wunsch ungenannt läßt. [1]

Mr. J. Bradley Dyne, ein Londoner Rechtsgelehrter, sandte an Gurney die folgende Beobachtung seiner Schwägerin. Das Datum des Vorfalls ist der 16. Dez. 1875. Die Dame, bei guter Gesundheit, hatte vom Morgen des Tages an eine ihr unerklärliche und nicht abzuschüttelnde Bedrückung verspürt.

Während sie am Nachmittag allein saß, kam ihr der Gedanke an einen Arzt, Mr. X., der sie in früheren Jahren behandelt und zur Zeit ihrer letzten Begegnung sich besonders guter Gesundheit erfreut hatte. 'Mit einmal - ich glaube, bei offenen Augen, denn ich fühlte mich nicht schläfrig - schien ich mich in einem Zimmer zu befinden, in dem ein Mann tot in einem kleinen Bette lag.

Ich erkannte sofort das Gesicht des Mr. X. und war gewiß, daß er tot sei und nicht nur schlafe. Das Zimmer erschien kahl und ohne Teppich oder Möbel. . .' Sie suchte sich die Wesenlosigkeit des Gesichts durch die Unwahrscheinlichkeit zu beweisen, daß X., dessen gute Vermögensverhältnisse sie kannte, falls gestorben, in einem Zimmer von solchem Aussehen aufgebahrt liegen sollte.

Man erfuhr etwa eine Woche später, daß X., z. Zt. auf Reisen im Ausland, am gleichen Tage um 1!2 4 Uhr morgens gestorben war, in einem Zimmer eines kleinen Dorfkrankenhauses, welches nach der Aussage seiner Witwe 'mit der obigen Beschreibung recht wohl übereinstimmte'. [2] -

Hier fällt außer dem bereits grundsätzlich Besprochenen noch die Angabe auf, daß sich die Perzipientin in die gesehene Örtlichkeit hineinversetzt gefühlt habe, sowie der Umstand, daß das Gesicht dem Tode des angeblichen Agenten um einige Stunden nachfolgte. Gurney nimmt darum hier eine verspätet ins klare Bewußtsein aufsteigende Übermittlung an; Myers vermutet telepathische Übertragung des Bildes durch den Toten.

Aber auch die erstere Annahme stellt uns vor die Schwierigkeiten, die dem naiven telepathischen Schema in den vorigen Beispielen entgegenstanden: Was der Perzipient sieht, ist nicht, was der Agent sah; dagegen könnte auch ein hellsehend erlangtes objektives Bild längere Zeit hindurch unbewußt bleiben und sein Vorhandensein einstweilen nur durch seinen Gefühlston verraten.

Aber selbst diese an sich natürliche Voraussetzung würde durch die Annahme überflüssig gemacht, daß der Verstorbene bis zum Augenblick des Gesichts in seiner Lage verblieben, daß also das endlich zustande gekommene Bild mit dem Abgebildeten wirklich gleichzeitig gewesen sei.

In diesen und zahllosen ähnlichen Fällen kann also (um zusammenzufassen) kein Zweifel darüber bestehen, wer als telepathischer Agent zu betrachten sei, wie auch darüber, daß dieser Agent möglicherweise ein Interesse daran gehabt habe, sich dem Seher mitzuteilen; aber daß

[1] Pr VII 35 ff.
[2] Fairly corresponded with the above description. Gurney I 265 f. (Sperrung von mir.) Ich empfehle auch den bemerkenswerten Fall bei Owen, Footfalls 242 ff. aufmerksamer Erwägung. Vgl. auch Gurney II 506.


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 390)

wirklich alles Gesehene einer telepathischen Übertragung entstamme, ist eine Annahme, die nur durch mannigfache und einigermaßen gezwungene Hilfsgedanken aufrechterhalten werden könnte. Zu diesen Hilfsgedanken mag sich entschließen, wer aus irgendwelchen 'wissenschaftlichen' Gründen entschlossen ist, das telepathische Schema durchaus nicht zu überschreiten.

Ohne Frage aber würden wir es natürlicher finden, dem anscheinenden Agenten nur die Anregung, gleichsam die 'Einladung' zu einer hellsichtigen 'Wahrnehmung' zuzuschreiben, falls Bedenken gegen Hellsehen an sich nicht beständen oder auf andere zwingende Art beseitigt wären.

Dabei mag die Natur einer solchen hellsichtigen Wahrnehmung an sich einstweilen noch völlig dahingestellt bleiben und nur die Verpflichtung unsres Gewissens oder theoretischen 'Gefühles' andeuten, der Künstelei von Hilfsannahmen zu entgehen, die das reine telepathische Schema uns
aufzwingen würde.

Es könnte allerdings in einigen, wenn auch gewiß nicht allen Fällen - dieses Typs aus den gezeigten Schwierigkeiten ein Ausweg dadurch gesucht werden, daß man die telepathische Tätigkeit gar nicht dem anscheinend zunächst dazu Berufenen, sondern einem zufällig Anwesenden, dem Perzipienten sogar Fremden, zuschöbe.

Podmore, der unter den wirklichen Kennern des metapsychischen Tatsachengebiets am entschlossensten die Fälle anscheinenden Hellsehens durch Telepathie zu deuten sucht, hat diese Erklärung zB. auf die Erfahrung der Mrs. Paquet angewendet, welche im Augenblick, da sie eine Teebüchse an sich nimmt (um ein Gefühl der Bedrückung durch das anregende Getränk zu bekämpfen), ihren Bruder vor sich 'sieht', wie er, von einem Seil am Fuß erfaßt, über Bord fällt.

Der Bruder, Edmund Dunn, war einige Stunden zuvor um 6 Uhr morgens in der gesehenen Art und Weise auf einem Schleppdampfer verunglückt. [1]   Podmore vermutet hier die telepathische Übertragung (auf Mrs. P.) des Anblicks, welchen ein zufällig Anwesender von dem Unglück hatte, und der Leser begreift, daß eine ähnliche Deutung einigen der obigen Fälle untergeschoben werden kann.

Immerhin scheint mir; daß auch diese Hilfsannahme an Künstlichkeit den anderen bisher bezeichneten nicht nachsteht. Es ist nicht 'natürlich', in dem Vorgang übernormalen Verkehrs zweier gemütlich eng verbundener Menschen die ausschlaggebende Rolle einem ihnen bei den völlig Fremden zuzuschreiben.

Zu solchen Gründen des wissenschaftlichen Taktes - denn um logisches Zwingen kann es sich natürlich nicht handeln - treten aber zuweilen noch andere. Mitunter beruht zB. die Verlockung, dem Fernseher die tätige Rolle zuzuschreiben, auf der Massenhaftigkeit anscheinend hellseherischer Leistungen gerade bei ihm. Es erscheint dann fast natürlicher, dem gewohnheitsmäßigen Seher eine besondere Gabe dazu zuzuschreiben, als an-

[1] Pr VII 32f. Vgl. Podmore, App. 349. 360.


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 391)

zunehmen, daß gerade ihm besonders häufig der Zufall einen auf ihn 'abgestimmten' Agenten auf den verschiedenen Schauplätzen seiner Gesichte beschere.

Im 18. Jahrhundert befahl ein französischer Marineminister der Behörde auf der Isle de France, den Fall eines gewissen Bottineau zu untersuchen, der in einer Eingabe vom April 1780 behauptet hatte, Schiffe auf hoher See im Umkreis von 250 Meilen mit mathematischer Genauigkeit feststellen zu können.

Am 15. Mai 1782 begann eine achtmonatige planmäßige Prüfung des Mannes, als deren Ergebnis die Untersuchungskommission erklärte: 'Bei 114 Ankündigungen, welche B. machte und bei denen er 216 Schiffe bezeichnete, hat er sich nur 4- oder 5 mal geirrt und solche Fälle als Verzögerungen gerechtfertigt, da jedesmal ein unvorhergesehener Umschlag des Wetters die Ursache derselben war.'

In einem Falle erkannte und beschrieb er Schiffe, die 4 Tagereisen von der Insel durch ungünstige Winde aufgehalten würden und sich dann, bei Einsetzen einer Brise, nur noch 2 Tagereisen entfernt befänden. Diese Angaben wurden, wie alle anderen, durch das Eintreffen der Schiffe bestätigt. [1]

Bei Bottineaus Erkundungen ist natürlich jeweils reiche Auswahl an möglichen telepathischen Agenten; aber ihr Tätigwerden könnte nur einer vorhergegangenen telepathischen' Anfrage' zugeschrieben werden, indem es doch ein gar zu seltener Zufall wäre, wenn sie sich alle spontan bei einem Unbekannten soz. gemeldet hätten.

Jene Anfrage aber würde wiederum ein vorheriges 'Auffinden' voraussetzen, das einem Akte des Hellsehens schon leidlich gleichkäme. Anderseits würde die ausnahmelose Befähigung jener Agenten zur telepathischen Beeinflussung Bottineaus ebenfalls einen seltsamen Zufall darstellen, wogegen ausnahmelos gelingendes Hellsehen des Mannes natürlich auf eine (freilich erst zu deutende) Gabe zurückführen würde.

Bottineau stellt übrigens einen Typ dar, der dem Ethnologen aus Schilderungen fast aller Völker der Erde wohlbekannt ist. Vom Zauberer, Medizinmann, Schamanen und ihresgleichen erwartet das Volk die Fähigkeit, meist in willkürlich erzeugter Ekstase mit dem Blick in die Ferne zu schweifen, um Personen, deren Aufenthalt man zu erfahren wünscht, oder verlorene Gegenstände zu 'finden':

die aufgefundenen Personen, die der Seher meist nie gesehen hat, werden dann eingehend beschrieben und ihre Entfernung vom Aufenthaltsort des Sehers nebst der Zeit ihrer etwa bevorstehenden Ankunft angegeben.

Einzelbeispiele sind ebenso zahlreich wie natürlich unbeweisend, da die kritischen Interessen der Metapsychik dem Ethnologen einstweilen noch fremd sind. [2]

Indessen hat sich auch die ausdrücklicher psychologisch interessierte experimentelle Forschung neuerer und neuester Zeiten mit Gaben vom Typ des Schamanen oder Bottineaus beschäftigt.

Was die Zulu poetisch das 'Öffnen der Tore der Ferne' nennen, bezeichnet sie als hellsehendes Wandern, travelling clairvoyance. Die klassische Form des Experimentes läßt den Versuchsleiter, der mit der meist hypnotisierten Versuchsperson

[1] Aus: Archiv d. französ. Marine, Geheime Aufzeichn., XIX bei Vesme II 553f.
[2] S. zB. Matjuschkins bekannte Schild. in Journ. of the Anthrop. Inst., Nov.1894 147ff.; Callaway, The Rel. of the Zulus 232; weiteres bei A. Lang, The making of Re!., 2. Auf!. (Lond. 1900) c. IV 65ff.; PS XI 52.


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Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 392)

in 'Rapport' steht, an diese die Aufforderung richten, sich an irgendeinen entfernten, ihr unbekannten Ort zu begeben und zu berichten, was sie dort sehe. Ist der Versuchsleiter mit der betreffenden Örtlichkeit vertraut, so wird er nach der gegebenen Beschreibung bald erkennen, ob der Fernsehende die richtige Spur gefunden.

Er lenkt nun dessen unsichtbare Schritte, sei es von Zimmer zu Zimmer, oder bestimmte Straßen entlang, durch Gärten und Höfe, und läßt sich Bauten und Gegenden, Menschen und Tiere beschreiben. Die lückenlose Genauigkeit der gegebenen Schilderungen läßt häufig keinen Zweifel darüber, daß der schlafende Seher wirklich irgendwie vor Augen hat, was er nach der Absicht des Versuchsleiters sehen soll.

Um dem Leser eine deutlichere Anschauung von der Art und Ertragsfähigkeit solcher Versuche zu geben, ohne hierbei auf Beweiskraft besonderes Gewicht zu legen, mache ich zunächst einige kurze Auszüge aus den umfangreichen Berichten über Jane, das Weib eines Bergmanns in der Grafschaft Durham, die jahrelang aus Gesundheitsrücksichten 'mesmerisiert' wurde und in diesem Zustande Gefallen an dieser Art des Reisens fand.

Mehrere gebildete Experimentatoren gaben sich mit ihr ab, aber Jane, die niemals Geld dafür nahm, drang stets auf Geheimhaltung ihrer Gabe, da sie nicht in den Ruf einer 'Hexe' kommen wollte. [1]

Dr. F. beschreibt zB. der Somnambulen einen Ort 'neben einigen Gittern, mit Bäumen darin, denen gegenüber ein Haus liegt, welches du betreten sollst'. Ohne weitere Andeutungen zu empfangen (1), ist sie anscheinend alsbald an dem Ort, den er im Sinne hat. 'Durch welche Tür sollen wir eintreten', fragt Jane sofort.

(Das Haus des Mr. Stephens in Dockwray Square, an welches Dr. F. gedacht hatte, war das einzige an jenem Platze mit zwei Türen, und Dr. F. wurde daher durch die Frage in Erstaunen gesetzt.) Wir wollen durch die niedrigere Tür eintreten, sagt er. 'Sollen wir also den Korridor entlang gehen, erwidert sie, und in dieses Zimmer?

Wer ist die Dame, die da sitzt?' 'Ich fragte, ob sie jung oder alt wäre. 'Nicht sehr jung und nicht sehr alt', erwiderte sie, 'aber sie sitzt da und sie ist eine Mama.' Ich forderte sie darauf auf, den Korridor entlang weiterzugehen, worauf sie alsbald ausrief: 'Welch ein Geruch! Welch ein Geruch! Dies ist ein Medizinhaus.'

Sie beschrieb dann auf die Frage, was sie sehe, die vielen Flaschen auf den Borden, ein Buch auf dem Tisch, einen jungen Mann mit einem Messer, welcher Flaschen herabnahm und Arzeneien mischte, und einen Kopf... 'nicht einen lebendigen Kopf'; es sei kein Gehirn darin.'

(Dr. F. glaubte, sie meine eine phrenologische Büste, erfuhr aber später von Mr. Stephens, daß zu jener Zeit ein Schädel auf dem Tisch seines Sprechzimmers gelegen hätte.) Auf die Frage, ob noch jemand im Zimmer wäre, beschrieb Jane einen Mann mit zottigem Haar, dessen Namen sie als Wilson buchstabierte.

Ob ein solcher z. Zt. anwesend war, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, aber einer namens Wilkinson war zugegen gewesen. [2]

Auch 'Hören' scheint gelegentlich in diese Wahrnehmungs-Exkursionen 'eingeschlossen zu sein.

[1] S. das ganze Material Pr VII 53ff. 82 ff.
[2] das. 57. Der Bericht beruht auf 'contemporaneous notes'.


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 393)

Jane wurde zB. in eine öffentliche Versammlung 'geschickt', die sie im ersten Augenblick für eine religiöse hielt, weil sie einen ihr bekannten Geistlichen dort erblickte. (Sie selbst war sehr religiös.)

'Ein Mann', sagte sie aber dann, 'redet, aber weder über Kirche, noch über Bibel; wir können ihn nicht verstehen. Es ist Unsinn. Und er spricht so viel von sich selbst, nicht wahr? Er ist ein sehr gemeiner Mensch; aber es sind in dem Raum sehr viele gemein aussehende Männer, und welch einen Lärm sie vollführen! [1]

In andern Versuchen beschrieb Jane ebenfalls entfernte Zimmer, die Personen, die sich darin befanden, die Aussicht aus dem Fenster, die Möbel, einzelne Gegenstände (zB. 'ein Ding zum Durchgucken'), Handarbeiten usw., zuweilen ohne daß die sie magnetisierende und den Bericht liefernde Person die geringste Kenntnis von der Örtlichkeit oder ihren Bewohnern hatte. [2]

Oder sie fand eine Person, die sie aufsuchen sollte, zu ihrem und aller Anwesenden Schrecken tot und im Begriff begraben zu werden. [3]

Ein anderes Subjekt ähnlicher Versuche des Herrn A. W. Dobbie 'fand' ihren abwesenden Vater, gab an, er sitze an einem großen Tisch in einem großen Zimmer und eine Menge Leute gingen ein und aus; er schreibe einen Brief an die A. B. (eine Zeitung nennend), vor ihm liege ein Buch, es seien goldene Buchstaben darauf:

'Sie las oder sprach langsam aus: W. L. W. [indem sie den vollen Familiennamen des Autors angab]. Diese sowie andere Aussagen über die Möbel im Zimmer konnten erst nach der Rückkehr des Vaters einige Tage später, da er 50 Meilen weit herkam, geprüft werden und erwiesen sich als vollkommen richtig, so daß sie den vorher zweifelnden Vater überzeugten. Das beschriebene Buch hatte er erst nach seiner Abreise von zu Hause erworben.' [4]

Fannie, eine hellsehende Somnambule des Dr. Wiltse (Kansas), nach dem 10 km entfernten Hause des anwesenden Mr. Howard 'geschickt', der seit einigen Tagen nicht daheim gewesen war, behauptete, daß der Zaun 'alt und niedergerissen' sei. Ja, sagte H. lachend, meine Frau hat mich zu Tode geplagt wegen des Zaunes und der Stufen zum Vorraum.

'Wie', unterbrach Fannie [die also die 'Suggestion' nicht aufgriff], 'die Stufen sind hübsch und neu!' Da irrt sie sich aber, sagte H., die Stufen sind schlimmer, als der Zaun. 'Sehen sie nicht', rief Fannie ungeduldig aus, 'wie neu und hübsch die Stufen sind? Nanu,' (sie schien, nach dem Ton zu urteilen, geradezu gekränkt zu sein) 'ich finde, sie sind wirklich hübsch. . .'

H. erfuhr bei seiner Ankunft daheim zu seiner Überraschung, daß seine Frau in der Tat die Stufen durch neue hatte ersetzen lassen. [5] In einem andern Falle beschrieb Fannie, trotz dem Widerspruch der sie ausfragenden Miss F., zwei Pferde, 'ein graues und ein rotes', die sich nebst zwei schwarzen im Stalle der Fragerin befinden sollten. Die beiden ersteren gehörten Reisenden an, die in Miss F.s Abwesenheit angelangt waren und ihre Pferde eingestellt hatten. [6]

[1] das. 83. Vgl. ähnlich weiter unten im Text; auch Gerüche werden erwähnt.
[2] das. 61.
[3] das. 91.
[4] das. 64.
[5] das. 76. Dr. W.s Bericht ist einige Jahre nach dem Versuch auf Grund 'sehr zähen Gedächtnisses' niedergeschrieben.
[6]  das. 73 - 'meaning a bay horse'. - Vgl. zu den obigen Beobachtungen etwa noch die des Herzogs von Orléans bei Vesme II 518 f.; des Earl of Ducie, in The Zoist Nr. XXVI; der Mrs. de Morgan (nach Prof. Morgans Bericht), deutsch zB. in Sphinx IV 351; des Hrn. F. in PS XXXIV 606; des Dr. med. Sexton bei Perty, Spir. 16; der Miss Danvers III Pr X 418f.; Pr VII 205f.; XIV 57f.


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 394)

Die an sich naheliegende Deutung, daß bei solchen Experimenten der Versuchsleiter die gesehenen Bilder durch Gedankenübertragung liefere, wird unterstützt durch die gelegentliche Beobachtung, daß unwahre Einzelheiten, die der Experimentator sich vorstellt, um die wandernde Hellseherin irrezuführen, sich in deren richtige Beschreibungen einschieben. [1]

Aber diesem Umstande hält der andere die Wage, daß - wie der Leser bemerkt haben wird - Einzelheiten richtig beschrieben werden, die selbst dem Versuchsleiter unbekannt sind. - Gelegentlich ist die Einführung solcher Einzelheiten durch Dritte ausdrücklich zum Gegenstand des Experimentes gemacht worden.

Auf einer ihrer' Reisen' hatte die erwähnte Jane an einem entfernten Hause zunächst einen Messingklopfer entdeckt, wo Dr. F., der Versuchsleiter, einen eisernen vermutete, und ein Schlafzimmer, wo nach seiner Meinung keines war.

In ein anderes Zimmer geschickt und gefragt, ob ein Herr dort anwesend sei, verneinte sie dies. 'Nach einer kleinen Weile sagte sie, die Tür öffne sich, und fragte im Tone großer Überraschung: Ist das ein Herr? Ist er dünn oder dick? erwiderte ich. Sehr dick, gab sie zur Antwort, aber hat er ein Korkbein?

Ich verneinte dies und suchte sie in die Irre zu führen. Sie [blieb aber bei ihrer Aussage und] beschrieb ihn als am Tische sitzend, mit Papieren neben sich und einem Glase Brandy und Wasser. Ist es nicht Wein? fragte ich.

Nein, sagte sie, es ist Brandy. - Ist es nicht Whisky oder Rum? - Nein, war die Antwort, es ist Brandy, und jetzt, fuhr sie fort, geht die Dame [sie hatte eine Dame auf dem Sofa liegen sehen], ihr Abendessen zu besorgen, aber der dicke Herr ißt gar keins. . . Ich fragte dann, ob sie seinen Namen auf einem der umherliegenden Briefe sehen könne.

Sie antwortete: ja, und als ich sagte, daß der Name mit E anfinge, buchstabierte sie den Namen Eglinton.'- Dr. F. war jetzt überzeugt, daß sie vollkommen auf dem Holzwege sei, soweit die Persönlichkeit des dicken Herrn in Betracht käme, und brach den Versuch ab. Am nächsten Morgen erhielt er aber von Mr. Eglinton die folgende Erklärung:

Er war genötigt gewesen, früh zu Bette zu gehen, hatte aber seine Kleider bis zu einem völlig übertriebenen Grade mit Kissen ausstopfen und diese Figur an den Tisch setzen lassen, mit einem Glase Brandy und Wasser und den Zeitungen neben ihr.

Der Name, fügt er hinzu, war richtig buchstabiert, obgleich er (Eglinton) bis dahin gewohnt gewesen war, ihn Eglington (mit einem g) zu schreiben.' [2]

In einem andern, von Dr. Fahnestock mitgeteilten Falle wurde die Versuchsperson, Mrs. E., in Lancaster (Nordamerika) in ein Zimmer eines bestimmten Hauses in Baltimore 'geschickt', in welcher Stadt sie nie gewesen, woselbst nach Verabredung ein sonderbarer Gegenstand an oder in der Nähe der Uhr angebracht worden war, den sie richtig beschrieb: nämlich als 'eine dunkle Flasche, etwa so lang wie ihr Zeigefinger, aufgehängt an einer weißen Schnur, die um den Hals der Flasche gebunden wäre - leer und ohne Kork. -

Diese Beschreibung war buchstäblich genau; aber niemand, der bei der Beschreibung zugegen war, konnte die geringste Ahnung davon haben.' [3]

[1] S. die so angeregte Interpolation eines Regenschirms in ein sonst genau beschriebenes (nie gesehenes) Zimmer: Gurney I 96.
[2] Pr VII 59f.
[3] Aus Dr. Fahnestock. Statuvolism 229ff. bei Myers I 556.


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Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 395)

Ist bei Einzelheiten des auf der 'Reise' Gesehenen, die dem Versuchsleiter unbekannt sind, stets mit der Möglichkeit ihrer telepathischen Mitteilung durch Dritte zu rechnen, so scheint diese Möglichkeit vollends zur Wahrscheinlichkeit zu werden bei Experimenten wie den letztangeführten, bei denen die willkürlich angeordnete Besonderheit ja doch soz. eine 'gespannte' Vorstellung des entfernten Mit-Versuchsleiters darstellt.

Immerhin wollen wir nicht übersehen, daß auch diese Annahme sich in Verwicklungen verstrickt, die ihr die glatte Natürlichkeit benehmen, welche ihr auf den ersten Blick zu eignen scheint.

Die angeblich aus der Ferne übertragene Vorstellung muß sich nämlich in den Gesamtablauf der hellsehenden Wanderung an einer bestimmten Stelle einschieben, d. h. sobald der betreffende 'Ort' des interpolierten Sonderversuchs erreicht ist. Daß eine Agenz des Veranstalters desselben erst in diesem Augenblick ins Spiel trete, ist natürlich eine ganz willkürliche und unwahrscheinliche Voraussetzung.

Wir können ihr entgehen nur durch die Annahme, daß die Seherin die telepathische Mitteilung schon früher erhalten und das erlangte Wissen unbewußt aufgespeichert, aber erst im passenden Augenblick, durch Assoziation veranlaßt, hervorgeholt habe; eine Annahme, die sich nicht widerlegen läßt, aber wohl auch nicht ohne weiteres überzeugt.

Die Frage der Auffindung eines Agenten verwickelt sich nun aber noch weiter in einer nächsten Gruppe von Fällen, in denen es sich um die Auffindung von Leichnamen einsam Gestorbener, also meist Verunglückter, handelt. Zwei Beispiele mögen uns diese neue Wendung der Problemlage verdeutlichen.

Das erste hat den Vorzug, besonders genau untersucht worden zu sein; die zahlreichen ausführlichen Berichte und Bestätigungen wurden innerhalb weniger Tage nach dem Vorfall aufgesetzt. - Die Tatsachen sind in der Kürze folgende: Vom 31. Okt. 1898 an wurde ein gewisses junges Mädchen in Enfield (New Hampshire) von den Ihrigen vermißt.

Am Tage vorher hatte eine Mrs. Titus, ein nicht-gewerbsmäßiges Medium, welches die Vermißte nicht kannte, zu ihrem Manne, der mit einer Schwester der Vermißten in einer Werkstatt arbeitete, gesagt: daß etwas Schreckliches geschehen werde; am folgenden Montag Morgen: daß es geschehen sei.

Am Montag Abend hörten sie von dem Verschwinden des Mädchens, und Mrs. T. meinte, sie wäre 'im See'. Am Mittwoch Abend fiel Mrs. T. in Trans und sagte, als ihr Mann sie weckte, daß sie, falls er sie in Ruhe gelassen, bis zum Morgen das Mädchen gefunden haben würde.

In der Nacht hatte sie zwei weitere Transanfälle, während welcher sie ihrem Manne sagte: sie sehe das Mädchen auf einem überfrorenen Balken der Brücke stehen, ihr Fuß sei ausgeglitten und sie selber rückwärts ins Wasser gestürzt, und sie liege an einem bestimmten Fleck hart an der Brücke, den Kopf nach unten zwischen zwei Balken, den Körper mit Schlamm und Geäst bedeckt, und der eine Fuß stehe ab mit einem neuen Gummischuh daran.

Am nächsten Tage suchte ein Taucher an dem nach diesen Angaben festgestellten Orte nach und fand den Körper dort genau in der beschriebenen Körperhaltung. Die beigefügten Zeugnisse des Tauchers und eines Mr. Whitney (der die Nachforschungen betrieben hatte


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 396)

und auch den Taucher berief und bezahlte), geben an, daß der Leichnam in einer Tiefe von 18 Fuß gefunden wurde; daß das Wasser so dunkel war, daß niemand etwas darin zu sehen vermochte, und daß auch der Taucher selbst nichts sah, während er im Wasser war, sondern den Körper ausschließlich nach dem Getaste fand.

Übrigens hatte er vorher zwei Tage lang den See vergeblich durchforscht, während 150 Männer die Wälder und das Seeufer absuchten. Man durfte ferner annehmen, daß Mrs. Titus seit 2 oder 3 Jahren die Stelle des Unglücks nicht betreten hatte; ihr Wohnort war 6 km entfernt davon.

Nach der Aussage des Tauchers (aus Boston!) 'ging Mrs. Titus die Brücke entlang und kam an den Punkt und sagte: Dies sieht wie die Stelle aus, die ich in meinem Trans sah; dann nach einem Augenblick des Zögerns:

Nein, nicht genau und ging etwas weiter und hielt an einem andern Fleck und sagte: Dies sieht viel mehr wie der Fleck aus, den ich vergangene Nacht sah. .. Endlich sagte sie, sie sei sicher, daß dies der Fleck sei.' [1]

In einem andern Falle, der in manchem an diesen erinnert, fand eine gewerbsmäßige Hellseherin in Boston, Mrs. York, anscheinend auch in einer Art von Trans den genauen Ort in einem See, an dem die Leichen zweier vermißter Knaben zu finden wären.

Sie beschrieb zugleich (und ich bitte, dies im Interesse späterer Erwägungen besonders zu beachten) die Ausfahrt der Knaben, die Art, wie das Unglück geschehen war, und dann die Stelle, wo sie lagen.

Auch hier war der See schon einige Zeit lang mit Haken abgesucht worden, ehe sich eine Dame nach dem 25 km entfernten Boston begab, um die Seherin zu Rate zu ziehen. Wie Mrs. York voraussagte, wurden die Leichen, nachdem jene Botin zurückgekehrt war und die Angaben überbracht hatte, innerhalb weniger Minuten an der bezeichneten Stelle geborgen.

Ich lasse einstweilen außeracht, daß die Hellseherin auf die Frage, wie sie ihr Wissen erlangt habe, erwiderte: Der Vater der Knaben sagte es mir. 'Wie wußte sie, schließt die erwähnte Botin ihren Bericht, daß der Vater der Knaben seit einigen Jahren tot war ?' [2]

In diesen Fällen darf zunächst mit Sicherheit angenommen werden, daß kein Dritter, Lebender zur Zeit des Gesichts ein normal erlangtes Wissen von dem genauen Verbleib der Leichen besaß.

Die Annahme, daß irgend einer der Suchenden in der bekannten 'zerstreuten' und 'unbewußten' Art die Lage der Körper sowie alle von der Hellseherin mitgeteilten Einzelheiten wahrgenommen habe, um sie dem Medium unbewußt telepathisch mitzuteilen, erscheint mir einer verzweifelten Ausflucht ähnlicher als einem wissenschaftlichen Argument; im Falle Titus, wo die Leiche 18 Fuß tief in dunklem Wasser lag, müßten wir diesem zerstreuten Beobachter ohnedies mindestens 'hyperästhetische' Kräfte zuschreiben.

Will man telepathische Tätigkeit eines Lebenden um jeden Preis retten, so kommt vielmehr nur die Annahme in Frage, daß der Verunglückte selbst während seiner letzten bewußten Augenblicke die Vorstellung von der Örtlichkeit seines Todes auf irgend einen ihm fremden, aber zufällig empfänglichen Perzi-

[1] Sämtliche Berichte und Zeugnisse nebst Erörterung durch Prof. W. James ('a decidedly solid document in favour of the admission of a supernormal faculty of seership') in P. II der neuen PrAm (auch in JSPR XIII 124ff. u. APS VI 295ff.).
[2] S. die Berichte und Zeugnisse Pr XI 379-89. Vgl. The Zoist XIII 56.


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 397)

pienten übertragen habe. Abgesehen von der früher besprochenen Verschiedenartigkeit der Vorstellungen im Agenten und Perzipienten müßte man hier aber auch noch die willkürliche Voraussetzung beträchtlicher Latenz der erhaltenen Mitteilung machen:

Mrs. York wurde zu Rate gezogen, nachdem der See schon längere Zeit vergeblich abgesucht war; sie stand den Verunglückten, ja ihrem Heimatsorte völlig fremd gegenüber. Aber sie war gewohnheitsmäßig hellsehend und wurde es auch für den vorliegenden Fall in dem Augenblick, da sie befragt wurde!

Man ermesse hiernach die gewundene Künstlichkeit der vorgeschlagenen Annahme. Mrs. York wollte freilich ihr Wissen von einem Verstorbenen haben. Aber angenommen dies, wären wir nicht auch damit vor die Annahme mindestens augenlosen Sehens gestellt? Was aber bleibt uns sonst außer aktivem Hellsehen?

Nichts weiter scheint mir, als die Zuschiebung telepathischer Tätigkeit an den bereits toten Verunglückten selbst, zumal wenn wir die Wahrscheinlichkeit erwägen, daß die vom Medium gesehene Lage der Leiche sich seit dem Eintritt des Todes verändert hatte, durch Strömungen des Wassers u. dgl. Aber auch damit sind wir über die Begriffe der Hirnwellen-Telepathie jedenfalls gründlich hinaus.

Die letzten Beispiele haben uns beträchtlich demjenigen Tatbestand genähert, der für die Deutung durch physikalische Telepathie endgültig vernichtend wirkt: der Wahrnehmung eines Gegenstandes, der den Sinnen aller Lebenden überhaupt entzogen und an seinen Ort gelangt ist ohne Wissen irgendeines Lebenden.

Diesem Tatbestand gegenüber drängt sich die Annahme echten Hellsehens überwältigend auf, sofern nicht besondere Gründe gegeben sind, die Quelle der Erfahrung in dem Wissen eines Verstorbenen zu suchen, der zu Lebzeiten den verborgenen Gegenstand an seinen Ort brachte, Wir werden Fällen dieser Art bei der Erwägung der spiritistischen Hypothese in der Tat begegnen.

Davon abgesehen muß ich sagen, daß ich Beispiele der Fernwahrnehmung von in diesem Sinne völlig verborgenen Gegenständen mich nicht erinnere angetroffen zu haben; es sei denn, man entschließe sich zu der zweifelhaften Annahme, die unbe- streitbare Tatsache des Auffindens von unterirdischem Wasser oder anderen verborgenen Stoffen durch die 'Wünschelrute' sei auf echtes Hellsehen zurückzuführen. [1]

Doch muß ich hier die Erörterung dieser Hypothese vermeiden, da sie mich zu großer Weitschweifigkeit zwingen würde.

Dagegen begegnen wir der anscheinenden Tatsache der Wahrnehmung soz. völlig verborgener Gegenstände in der Form des Experiments auf große Nähe, und ich will diesen Tatbestand nicht völlig übergehen, weil der Kampf um das Hellsehen sich vielfach gerade an ihn angeschlossen hat.

Ein erster Typ von Leistungen besteht hier im Lesen von Schriftzügen

[1] Mögl. Hindeutung darauf in gelegentl. Sehen des Wassers während dowsing: Pr XV 363 (359ff.). Tatsachen und Erörterung in einer ausgezeichneten Monographie Prof. Barretts in Pr XIII.


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Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 398)

auf zusammengefalteten oder undurchsichtig eingewickelten oder sonstwie unsichtbaren Papierflächen. Daß dies ein Kunststück ist, das reisende Taschenspieler häufig in ihre Vorführungen aufgenommen haben, beweist natürlich nicht, daß es nicht auch zuweilen ohne 'Kunst' geschehe.

Eine Vorstellung davon, auf welche Art gewisse Beobachter die Gewißheit davon erlangt zu haben glauben, gewinnt der Leser aus folgendem viel erörtertem Bericht des Freiburger Professors Max Schottelius.

Der Hellseher, Ludwig Kahn (von Prof. S. Ludwig H. genannt), ein 40jähriger Jude von reizbarer Konstitution, 'beauftragte mich, so schreibt Prof. S., drei Zettel. .. mit irgendwelchen Sätzen oder Zahlen in seiner Abwesenheit zu beschreiben, die Zettel vielfach fest zusammenzufalten, in die geschlossene Hand zu nehmen und ihn dann wieder in das Zimmer zu rufen.

[Nachdem H. hinausgeführt war] . . . schloß [ich] die Doppeltüren, überzeugte mich, daß auch die andern nach dem Schlafzimmer und Badezimmer führenden Türen fest geschlossen waren, setzte mich an meinen Schreibtisch (mit dem Rücken gegen die Vorplatztüre) und überlegte nun, was ich etwa auf die Zettel schreiben könnte.

Ich entschloß mich zu folgenden Sätzen: 1) Trüb' nie den Brunnen, der dich tränkte, wirf keinen Stein hinein. 2) 15. Nov. 1849. 3) Aphar ata weel aphar teschub. Das Schreiben dauerte etwa 5 bis 6 Minuten. Ich faltete darauf die Zettel achtfach zusammen und nahm zwei in meine linke, einen in meine rechte geschlossene Hand.

Dann ging ich zur Tür, öffnete, überzeugte mich, daß H. noch neben der Personenwaage stand und rief ihn herein. Er... trat neben meinen Schreibtisch, an dem ich mit den Zetteln in den geschlossenen Fäusten Platz genommen hatte. H. sagte mir dann, ich möge einen der drei Zettel irgendwohin legen und nur einen in jeder Hand behalten, damit er mir jeden Zettel für sich vorlesen könnte.

Ich legte darauf einen der beiden in der linken Faust befindlichen Zettel - ohne die rechte Faust zu öffnen - abgekehrt von H. unter die Schreibunterlage meines Tisches. Dann fragte H.: Welchen Zettel soll ich nun zuerst lesen? Den in der rechten, den in der linken Hand, oder den unter der Unterlage?

Ich wußte selbst nicht, welches der Inhalt des rechten, des linken und des dritten Zettels war, da ich dieselben alle ganz gleich zusammengefaltet und geschlossen in die Hände genommen hatte. Ich antwortete also auf seine Frage: 'Lesen Sie mir den Zettel, den ich hier in der rechten Hand haltel '- und zeigte ihm die geschlossene rechte Faust.

Dabei beobachtete ich H., der etwa 1,5 m rechts von mir an meinem Schreibtisch stand. Er sah nicht auf meine geschlossene rechte Faust, sondern starrte schräg nach oben an mir vorbei ins Leere; dabei wurde er blaß...

Nach kaum einer Minute sprach H.: 'Trüb ein...' Nein, sagte ich, der erste Buchstabe des Wortes ist ein n, der letzte Buchstabe des Wortes ist ein e. 'Ach so, ja', antwortete H., und las schlank den etwas undeutlich mit deutschen Lettern geschriebenen Talmudvers vor. ..

Den Inhalt der beiden andern Zettel las H. ebenso sicher und fehlerfrei, wie den ersten... Den dritten, unter der Schreibtischunterlage befindlichen, auf den ich mit lateinischen Lettern hebräische Worte geschrieben hatte, las er langsamer, da er die Sprache nicht kannte, aber sonst ebenfalls sicher und richtig.' [1]

[1] Prof. Dr. M. Schottelius, 'Ein Hellseher', in JPN XX (1913) 236 ff. Weitere Gutachten von Dr. med. Haymann (Assist. d. psychiatr. Klinik in Freiburg), Med.-Rat Dr. Neumann, Pfarrer Merta u. Assessor Dr. P. Engler bestätigen diese Ergebnisse nach eig. Beobachtung.


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 399)

Was wird nun gegen die Vertrauenswürdigkeit dieses Versuchs von den Kritikern geltend gemacht? Das erste ist der Hinweis auf mögliche Tintenspuren des Löschblatts, mit welchem die Schrift getrocknet wurde, oder auf Eindrücke eines schreibenden Bleistifts in der Schreibunterlage oder gar dem Tischtuch.

Da Prof. S. leider nicht angibt, welches Schreibmittel er anwandte, so bleibt dem Leser hier die Wahl zwischen zweien gleich vernichtenden Einwänden. Sodann gründet sich die Kritik auf die Vermutung 'heimlicher Einsichtnahme' in die Zettel seitens des Hellsehers.

Prof. S., der zwei der Zettel nicht aus der geschlossenen Faust gelassen zu haben behauptet, bezeichnet es zwar als unglaubhaft, daß er solcher Taschenspielerei zum Opfer gefallen sei; wird aber von der Antwort niedergeschlagen, daß Hellsehen noch unglaubhafter sei! [1] Hat er auch nicht beim Öffnen der Tür die Faust geöffnet?

Und warum hat er die geschlossene Faust nicht einnähen und versiegeln lassen? Freilich, hätte er es getan, so wäre ihm sicherlich der Verdacht entgegengehalten worden, daß der Näher ein Mitverschworener des Sehers gewesen sei.

Der Leser möge selbst entscheiden, wieviel Gewicht er dieser Art von Kritik etwa beizulegen bereit ist. Neigt er der Annahme zu, daß sie ungenügend und willkürlich sei, so werden für ihn die Angaben des Hellsehers über die Art seines Sehens Interesse gewinnen und er wird zugeben, daß ihre Einzelheiten beträchtliche psychologische 'Natürlichkeit' besitzen.

H., der nach dem Versuch etwas angegriffen und erschöpft war, gab nämlich an, er sehe das Geschriebene 'so, wie die Zettel jetzt hier liegen'; er sehe 'die Schrift hell - aber nicht leuchtend - auf dunklem Untergrunde.. ohne deutliche Abgrenzung der Form, welche die Papierstücke haben...'

Die scheinbare Distanz kann er nicht angeben. 'Er versenke sich ganz in seine Aufgabe, die Umgebung verschwinde während dieser Zeit für ihn, er sehe gar nichts außer dem Kreis, in welchem die Schriftzüge auftreten.' Das 'Kritzeln' mit der rechten Hand - (er  hatte einen Bleistift von Prof. S.s Tisch genommen, ein höchst verdächtiger Umstand in Prof. Dessoirs Augen) - übe er, um sich zu konzentrieren.

'Wenn er sich in den Zustand des Hellsehens versetzt habe, wisse er gar nicht, ob [er etwas] und was er in der Hand habe. .. Wenn er bei Stimmung sei, körperlich sich wohl fühle, mit Personen arbeite, die ihm sympathisch sind, dann sei das Lesen leicht und wenig anstrengend, die Schrift sehr hell und deutlich. ..

Ein Mittel, in ungünstigen Fällen dennoch hell zu sehen, bestehe darin, daß er einen der zusammengefalteten Zettel kurze Zeit gegen seine Stirne drücke. Dann könne er oft. .. auch weitere von der gleichen Person geschriebene [Zettel lesen]. Nach einer Versuchsreihe sei er längere Zeit abgespannt, schlafe gewöhnlich die folgende Nacht schlecht und müsse einige Tage mit seiner Arbeit aussetzen.'

[1] Dessoir, Vom Jens. 136. S. auch H. Henning JPN XXI 68ff. (Oesterreichs Duplik das. XXII 75ff.) Man würde allerdings gern erfahren, auf welche Weise Hellsehen (seine Tatsächlichkeit vorausgesetzt) jemals experimentell festgestellt werden könnte, wenn seine - doch willkürlich normierte - Unwahrscheinlichkeit stets größer angesetzt werden dar(, als die - wenigstens abschätzbare - Unwahrscheinlichkeit eines experimentellen Fehlers!


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 400)

Schwerwiegend freilich ist die Vermutung, daß überhaupt kein Hellsehen, sondern nur Gedankenübertragung vorliege, für welchen Fall (unnütz zu sagen) Prof. Dessoir neben 'echter Telepathie' auch 'unbeabsichtigte Zeichengebung' und 'unbewußtes Flüstern' in Betracht zieht; bei der gegenseitigen Nähe der Versuchspersonen offenbar beachtliche Gedanken.

Prof. Schottelius will freilich nicht gewußt haben, welche Schrift er in der linken und welche er in der rechten Hand hielt usw., weil sie 'alle gleich gefaltet' waren. Natürlich aber waren sie in Wahrheit nicht ganz gleich gefaltet und eine unbewußte Wahrnehmung und Erinnerung von geringfügigen Ungleichheiten der Faltung hätte ihn sehr wohl im entscheidenden Augenblick jedes einzelnen Versuches zu telepathischer Mitteilung befähigen können.

Die ausdrücklichen Angaben der übrigen Versuchsleiter, Pfarrer Merta, Dr. Haymann und Dr. Engler, sie hätten selbst nicht gewußt, was auf dem jeweils gewählten Zettel gestanden, Dr. Englers Versicherung, 'eine direkte Gedankenübertragung könne deshalb nicht in Frage kommen', [1] mögen daher dem entschlossenen Zweifler nicht Genüge leisten.

In dem folgenden Beispiel, das ich A. Köttgens wesentlich älteren Mitteilungen über die Somnambule Maria Rübel entnehme, wäre nach der Versuchsanordnung ein möglicher Agent in der Ferne, soz. versteckt zu denken.

Gegen seine Inanspruchnahme warnt den vorurteilslosen Beurteiler indessen die genauere Betrachtung des Lesevorgangs selbst, welche eine entschiedene und bis ins Einzelne gehende Benutzung des gegebenen Gegenstandes offenbart, und zwar im Unterschiede von der Vorstellung des angeblichen fernen Agenten von 'diesem Gegenstande.

Ich gebe den Versuch in Köttgens offenbar leidlich gleichzeitig niedergeschriebenen Worten wieder.

'Herr G. Siebel aus Elberfeld hatte gestern einige Worte, die keinem als ihm selbst bekannt waren, in undurchsichtiges Papier eingeschlagen und gehörig versiegelt, dem Herrn J. Platzhof in Elberfeld mitgegeben, um sie mit hierher [nach Langenberg] zu nehmen und den Versuch zu machen, ob Maria sie lesen könne.

Dies Papier war ihr schon gestern, nachdem es auf meine Bitte noch mit zwei Oblatsiegeln durch Herrn Platzhof versehen wurde, auf die Herzgrube gelegt, aber wegen der andern Versuche nicht gelesen worden. Heute wurde der Versuch wiederholt und eine Menge Personen harrten des Erfolges.

Nachdem sie einige andere Gegenstände richtig angegeben, erklärte sie, sie wünsche nun ruhig zu bleiben, um sich ungestört mit dem Briefe beschäftigen zu können. Darauf wurde sie ganz stille und nur zuweilen bewegten sich ihre Lippen, wie bei einem Kinde, das ein fremdes Wort buchstabirt.

Endlich sprach sie das Wort 'auch', dann das Wort 'uns' aus, korrigierte sich aber selbst und sagte: 'Das erste Wort heißt uch'. Auf die Bemerkung, das sei ja kein Wort, erwiderte sie: 'Ja, das sei auch nicht das ganze Wort, es sei noch ein Buchstabe da, den könne sie wegen eines roten Plackes, der ihn

[1] JPN XX 245. 247f. 249.


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Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 401)

zum Teil bedecke, nicht recht sehen. Wir ließen sie jetzt wieder ruhig, und nach einigen Augenblicken sprach sie gleichsam triumphirend das Wort Handlung aus und sagte: 'Das ist das letzte Wort; das davor kann ich noch nicht aussprechen.' Endlich sprach sie langsam und syllabirend aus: Mu-si-ka-lien-hand-Iung.

Obwohl wir von dem Brief nichts wußten, war es uns gewiß, daß das Ganze Kunst- und Musikalienhandlung heißen müsse. In dieser Voraussetzung wurde der Brief am 7. Juli durch Herrn Platzhof dem Herrn Siebel zurückgeliefert, nachdem Alle die Undurchsichtigkeit des Papiers und Unverletztheit des Siegels untersucht und bezeugt hatten.

Das Wort hieß nicht: Kunst- und Musikalienhandlung, sondern Buch- und Musikalienhandlung. Der erste Buchstabe war wirklich durch das Siegellack etwas verdeckt worden, womit das Wort im Couvert war eingeklebt worden.' [1] -

Hier wird der Zweifler natürlich geltend machen, daß - falls die Siegel wirklich unversehrt waren - die Schrift eben doch hyperästhetisch durch das Papier gelesen wurde; trotz der ausdrücklichen schriftlichen Versicherung des Herrn Siebel: daß es 'unmöglich war, durch den Brief zu sehen, selbst nicht wenn man ihn vor ein Licht hielt'; denn der Brief bestand aus 'sehr starkem Schreibpapier, wie gewöhnlich viermal zugeschlagen'.

Gleichwohl bleibt die ungewöhnlich 'optische' Eigenart dieses Hellsehens auffallend, das sich durch einen Siegelfleck behindert findet. Wie denn auch die Rübel bei anderen Versuchen sich in ausgesprochen 'optischer' Weise verlas: zB. die Worte 'die Frauen' als 'der Fragen', und 'Bergischen' als 'Vergissen' auffaßte. [2]

Eine etwas andere Anordnung zeigten die Versuche, die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in vielen Städten Europas wie auch an mehreren seiner Höfe ein siebenbürgischer Rabbi, Hersch Dänemark, ausführte, der angeblich geschlossene Bücher an Stellen lesen konnte, die man ihm nach Seiten- und Zeilenzahl bezeichnete.

Die besten Berichte schließen Gedankenübertragung seitens eines Anwesen- den aus. So erzählt Dr. Friedenberg, ein Schriftleiter der Vossischen Ztg. (1847) u. a.: 'Ich hatte eine ins Rabbinische übersetzte [3] Reise in Afrika von Sam. Romanoli [mitgebracht], ein sehr seltenes, von H. D. gewiß nie gesehenes Werk. ..

Er fragte uns, welche Zeile von einer gegebenen Seite er vorlesen solle; wir verlangten die 16. von oben. Darauf sagte er: Die kann ich Ihnen nicht lesen, denn dort ist eine leere Stelle im Buche, aber ich will Ihnen den Inhalt der 12. angeben, was er sofort tat. Beim Aufschlagen der Seite. fand sich alles genau so, wie er gesagt.'

Bei solchen Versuchen hielt D. 'den Finger aufs Buch gelegt, den verzückten Blick ins Leere gerichtet'. Diese 'Art von Verzückung' während des Lesens soll Allen an ihm aufgefallen sein. Das Buch, aus dem er las, durfte dabei mit einem leinenen, seidenen oder wollenen Tuch belegt sein. [4]

Ich würde indessen diese Versuche nicht berührt haben, wenn sie nicht von einem anderen, sehr viel berühmter gewordenen Hellseher unter wesent-

[1] ATM IV 3. St. 110f.
[2] das. 82ff. Vgl. 92.109. 155f.
[3] D. konnte nur hebräische Schrift lesen.
[4] Perty, Blicke 188f. Die gebotenen Sicherungen gegen Betrug sind nach dem Berichte ungenügend. Mein eigenes Vertrauen stützt sich hauptsächlich auf die natürlichen Anzeichen e. halbekstatischen Zustandes D.s während des Lesens. Gutbezeugte und einwandfreie Fälle von Lesen verdeckter Schrift s. Crookes, Researches into Spiritualism 95f.; Theosoph. Review XXI 388; du Frei, Entd. I 166 (nach Teste); Chowrin, Exper. Unters. auf d. Gebiete des räum!. Hellsehens (München 1919); Petrowo-Solowowo 197. 210ff.; Prof. Dr. Benedikt in ZO 1918, H. 4, und bei Tischner u. v. Wasielewski, deren Schriften allgemein zugänglich sind.


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 402)

lich schärferer, ja in der Tat einzigartiger Überwachung wiederholt worden wären.

Alexis Didier wurde von seinem Begleiter Marcillet, den selbst ElIiotson als einen Mann von unbezweifelbarer Lauterkeit bezeichnete, [1] in Trans versetzt; seine Augen wurden dann mit Lederkissen bedeckt, über diese zwei Tücher in schräger Richtung und über diese noch ein drittes in wagerechter Richtung gebunden, worauf noch alle Zwischenräume mit Watte ausgefüllt wurden.

Auf solche Weise geblendet, spielte er Écarté mit großer Geschicklichkeit und SchnelIigkeit, auch wenn seine eigenen Karten mit der Oberseite abwärts gekehrt auf dem Tische lagen; wußte häufig auch die Karten in der Hand des Gegners; las Worte in versiegelten Umschlägen, beschrieb den Inhalt verschlossener Pakete u.a.m.

Hiergegen wendet Podmore, wohl der denkbar zäheste Zweifler, ein, das beschriebene Verbinden der Augen sei ungenügend gewesen; doch muß auch er die überragenden Erfolge im blinden Kartenspiel augenscheinlich unwiderlegt lassen. [2]

Andere Leistungen bemäkelt er durch verschiedene allgemeine Bedenken; aber am meisten 'nach Betrug aussehend' erscheint ihm das Lesen von Worten in Büchern 10 bis 150 Seiten hinter der jeweils aufgeschlagenen. Podmore will in keinem Berichte Angaben darüber gesehen haben, ob Didier, oder ob die Anwesenden die betreffende Stelle der Seite ausgewählt hätten. [3]

Aber eben hierüber herrscht Klarheit in dem bedeutsamsten Bericht, der über Didiers Leistungen vorliegt, den Podmore verschweigt und der ihm von keinem Geringeren als A. R. Wallace vorgehalten worden ist.

Dies ist das Zeugnis von Houdin, dem berühmten 'Fürsten unter den Taschenspielern', von dem Podmore zugestehen mußte, daß es 'ohne Frage sehr merkwürdig' sei und dem er nur durch die Annahme einer 'übernatürlichen [4] Schärfe des Gesichts' ausweichen konnte, die Alexis im Trans erlangen sollte.

Der Versuch, der durch diese letzte Ausflucht um seine Unglaublichkeit gebracht werden soll, nahm folgenden Verlauf: Houdin, natürlich ein Adept in dieser Kunst, hatte selbst D.s Augen verbunden und dabei dessen 'ganzes Gesicht vom obern Rande der Stirn bis unter die Lippen herab' mit Watte bedeckt, 'als wäre es der Kopf einer sehr kostbaren Statue'.

Nach wohlgelungenen Versuchen im Kartenlesen und Kartenspiel 'zieht R. Houdin, nachdem er die nutzlosen Binden von des Somnambulen Augen entfernt hat, ein eigenes Buch aus seiner Tasche und bittet ihn zu lesen, was acht Seiten weiter unten stehe, beginnend von einer gegebenen Stelle.

Alexis sticht mit einer Nadel in die Seite zwischen dem 2. und 3. Drittel von oben und liest: Après cette triste cérémonie. [Houdin unterbricht ihn, um nachzusehen.] Nichts Derartiges steht auf der 8. Seite, aber auf der nächstfolgenden [dieser Umstand verdient vielleicht Beachtung; die 8. Seite war offenbar dem Lesenden abgekehrt, die 9. ihm zugekehrt], in derselben Zeilenhöhe, stehen diese Worte: après cette triste cérémonie.'

Am Tage nach diesem Versuch (4. Mai 1847) erhielt de Mirville von Houdin eine schriftliche (und abgedruckte) Bestätigung der völIigen Genauigkeit des Berichtes, worin Houdin u. a. sagt:

'Je mehr ich [die Vorgänge] überdenke, um so unmöglicher finde ich es, sie mit denen, die der Gegenstand meines Gewerbes und meiner Vorführungen sind, in eine Klasse zu setzen'; und 14 Tage später (16. Mai 1847) erklärt er in einem Schreiben, daß nach einer zweiten Sitzung unter noch 'sehr viel stärkeren Vorsichtsmaßregeln' und mit gleichwohl 'noch außerordentlicheren Ergebnissen' für ihn

[1] Pr XIV 53.
[2] das. 54.
[3] das.
[4] preternatural.


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 403)

nicht der Schatten eines Zweifels an Alexis' Gabe des Hellsehens bestehe. [1] Was mir aber fast am schwersten in die Wagschale zu fallen scheint, ist die Tatsache, daß Didier gleichzeitig mit diesem Sehen ohne Augen eine Fülle anderer übernormaler Fähigkeiten entwickelte: indem er seinen Besuchern eine Masse von richtigen Mitteilungen selbst über fernste Gegenden und Menschen machte, die er - trotz Podmores kühnem Verdacht eines über ganz Europa seine Netze breitenden Erkundungsbureaus - auf normalem Wege sicher nicht erlangt hatte. [2]

In den letzten Beispielen kann (den Ausschluß betrügerischer Beihilfe vorausgesetzt) das Geschaute als 'völlig verborgen' und keinem Lebenden sichtbar angesehen werden.

Dieser äußerste Typ des fraglichen Tatbestandes, die Wahrnehmung des, Nichtwahrnehmbaren schlechthin, scheint endlich noch in einer natürlichen Gruppe verwirklicht, bei welcher die Notwendigkeit künstlichen Verbergens des Gegenstandes sogar fortfällt, indem dieser: das Innere des menschlichen Körpers, unter gewöhnlichen Umständen der Wahrnehmung überhaupt entzogen ist.

Gleichwohl ist die Behauptung seiner Wahrnehmbarkeit für den Hellsichtigen eine ebenso alte wie häufige. Die Somnambulen der älteren Zeit glaubten oft in ihr leibliches Innere zu sehen und diese Inschau auch für die Erkennung und Behandlung von Krankheiten verwerten zu können.

Daß sie diese angebliche Fähigkeit auch auf Andere, selbst Entfernte anwandten, war der Grund zur Entstehung einer weitverbreiteten hellsichtigen Praxis, die uns häufig - man war damals vorurteilsfreier - den Hellseher im Dienst approbierter Ärzte zeigt. [3]

Ich will indessen den fraglichen Tatbestand der ausgeprägten Körperinschau zunächst an der Hand zweier neuerer französischer Forscher andeuten, von denen der eine, Dr. Paul Sollier, uns bereits als Theoretiker der Hysterie begegnet ist.

Das Sehen des eigenen Innern trat nach seinen Beobachtungen gewöhnlich ein, während auf die Kranken die von ihm erfundene 'Erweckung' der einzelnen Gliedmaßen oder Organe angewendet wurde, die mit seiner Theorie der Hysterie im engsten Zusammenhang steht: der 'Befehl' des Wiederempfindens oder Wieder-in-Tätigkeittretens empfindungsloser oder 'eingeschlafener' Körperteile.

Ich sehe, 'behauptet eine von Solliers Versuchspersonen, 'deutlich im Innern, als ob ich drin wäre . . . Ich sehe in meiner Brust, in meinem Kopfe, wenn ich will . . . mit meinen Augen; es ist, als wäre ich offen; . . . im Unterleib ist es, als hätte ich Glas an Stelle der Haut, ich sehe hindurch; im Kopf ist es reflekiert,

[1] Pr XIV 381.
[2] üb. Didier s. noch Macario, Du sommeil 199; The Lancet I (1844) 581ff., bes. 584b. Ähnl. Leistungen anderer Subjekte: Reichenbach II 607ff.; Esdaile 31; Buchanan I 184. 198; APS III 49f.; PS XXXI 514f. Ganz anders geartet die offenbar betrügerischen Versuche Eglintons, zB. Pr IV 82f. Gegen Hodgsons und Daveys Kritik das. 381ff. kann du Prel, Stud. II 215f. nicht verfangen.
[3] zB. den berühmten A. J. Davis. Vgl. ferner Lebrun, Hist. crit. des pratiques superstit. (Amsterd. 1733) I 58 (Donna Pedegache); Kluge 192ff.; ATM II, I 22; III, 3 6f.; XI, I 34; Haddock 152ff. - Neuerdings vielfach 'Medien' in u. gleichen Rolle: zB. Mrs. Piper (Pr passim); APS V 40; PS XXXI 182. Ein guter Fall Mayo 214f. (psychometrisch auf große Entfernung; Pat. der Somn. unbekannt).


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Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 404)

wie in einem Spiegel.' Das Gehirn sieht sie, 'als sähe ich ringsherum und dann im Innern'. [1]

Die Angaben gehen aber nicht nur auf Einzelheiten des groben Baues, sondern, wie man sehen wird, auch auf das Mikroskopische ein. Eine von Dr. Comars Kranken, ein einfaches Mädchen vom Lande, beschrieb ihm z. B. ihre Blase, 'wo zwei dünne Röhren einmündeten, und von wo eine andere, viel weniger lange, ausginge.'

'Sie fragte mich sogar eines Tages, während sie ihren Magen fühlte, 'ob sie auch die kleinen Falten fühlen müsse?' - Welche? - 'Alle die, die da im Innern sind und wo da kleine Körner mit Öffnungen sind.' -

Eine andere beschrieb ihm den Verlauf mehrerer Schlagadern und deren Verästelung, und sagte schließlich nach besonders aufmerksamem Zusehen: das seltsamste sei, daß nach denen, die immer kleiner werden, es andere gebe, die gröber und gröber werden und die gegen das Herz zu aufsteigen...

'Sehen Sie, in meinem Herzen ist eine Flüssigkeit, die aus dem Herzen in die großen Gefäße tritt, dann in die kleinen; diese Flüssigkeit geht alsbald in andere gröbere Gefäße zurück; schließlich kehrt sie ins Herz zurück, von wo sie wieder ausgeht; aber es ist immer dasselbe, das da kreist, es hält nie an...' über das Blut sagte sie:

'Da ist zuerst eine ganz weiße Flüssigkeit, und in dieser Flüssigkeit ist eine große Menge sehr kleiner roter Maschinen, fast rund, aber nicht völlig, sie sind flach, und die kleinen roten Dinger schwimmen in der weißen Flüssigkeit.' 'Dieselbe Kranke,' sagt Dr. Comar, 'beschrieb mir danach. .. ihre Lungen, Magen, Dick- und Dünndarm, ihre Nieren, ihre Leber, ihren Pankreas, indem sie während der Beschreibung am eigenen Leibe... ihre Umrisse nachzeichnete.' [2]

Auch das Gehirn in seinem mikroskopischen Bau selbst wird anscheinend gelegentlich sichtbar. Eine von Dr. Solliers Versuchspersonen beschrieb gewisse 'kleine Löcher in (hinter?) der Stirn', und gab auf unverfängliche Fragen noch an, daß darin 'kleine dünne Fäden [seien], die sich durcheinanderschlingen, wie ein Gewebe. .. mit Winkeln, Spitzen;. .. es sind da mehrere Schichten dieser kleinen Kammern.'

Und eine fühlt und sieht Kegel (oder Zapfen) von verschiedener Form und Größe, aber in Wirklichkeit sehr klein und rings umstarrt von kleinen Fasern - wie Sollier ihre Angaben zusammenfaßt.

'Oh,' sagt die eine, 'wenn das wiederauflebt, so bringt es Mengen von Bildern mit sich, Erinnerungen, die sich mit den andern wieder vereinigen wollen. .. [Diese Löcher oder Kammern] dienen dazu, daß ich denke;. .. das zieht sich zusammen und entspannt sich beständig, wie eine Maschine in Vibration, ausgenommen diejenigen, welche schlafen.' -

'Wenn ich viel denken muß, geht das sehr schnell;... es ist [dann] auch roter (I); wenn die kleinen Spitzen sich zu bewegen, zu vibrieren anfangen, so macht das, daß mir das Bild vor meine Augen kommt; . .. aber die Bilder sitzen durch Fäden hier,' - dabei zeigt sie ihren Hinterkopf in der Höhe der Sehsphäre, - 'denn wenn sie schlafen, fühle ich dort nichts.' [3]

Daß in diesen Äußerungen durchweg leicht erkennbare histologische Wirklichkeiten angedeutet sind, wird nicht bezweifelt werden. Die meisten

[1] taut autour - au dedans. Sollier, Autosc. 84f.
[2] 'wörtlich' (textuel) von Dr. Comar niedergeschrieben. Sollier, Autosc. 59. 61 (Comar, L'auto-reprêsentation de I'organisme... Rev. Neurol. 1901 491ff.).
[3] Sollier 74ff. 88f., bes. 93. Vgl. Rud. Müller, Das hypn. Hellseh-Experiment... 2 Bde. (Lpz. 1898); ATM VII, I 73; Kerner, Gesch. 94.


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 405)

erklären sich selbst dem populären Wissen ohne weiteres: wie zB. Harnleiter und Harnröhre, Blutkreislauf und rote Blutkörperchen, Ganglienzellen samt Dendriten und Nervenfasern u. a. In den 'kleinen Falten' und 'kleinen Kammern mit Öffnungen', die Dr. Comars Kranke in ihrem Magen wahrnimmt, erkennt der Anatom unschwer die Schleimhautfalten (rugae ventriculi), Magengrübchen (foveolae gastricae) und verschiedene Arten der Magendrüsen mit ihren Orifizien.

Ähnlich eingehend histologisch hatte schon Dr. Haddocks Somnambule Emma, seine Lunge beschrieben: sie sah 'rosa Dinger, voller Löcher wie ein Schwamm', (eine leidliche Bezeichnung der Alveolen), 'mit Luft in den Löchern und Tausende kleiner Adern in allen Richtungen'. [1] -

Diese Richtigkeit der augenlosen Körperschau zugestanden, erhebt sich gegen ihre Bedeutsamkeit nun natürlich der Einwand, daß hier ein gewisses einfaches anatomisches Wissen, aus normalen Quellen stammend, sich bei gegebener Gelegenheit halluzinatorisch äußere.

Hiergegen  haben wir nun zwar die ausdrückliche Bürgschaft der Versuchsleiter, daß ihre Subjekte, meist einfache und ungebildete Personen, ohne normale anatomische Kenntnisse [2] und sie selbst sich der Notwendigkeit bewußt gewesen seien, führende (suggestive) Fragen und sonstige Winke zu vermeiden; was aus mehreren Stellen ihrer Berichte hervorgeht.

Unterdrückt man aber auch die Zweifel, die nach diesen Versicherungen noch nicht schweigen wollen, so verbleibt doch noch der Hinweis auf die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit einer telepathischen Übertragung von Kenntnissen, welche die Versuchsleiter natürlich in reichstem Maße besaßen.

Geradezu erregt, wenn auch durchaus nicht erwiesen wird dieser Verdacht durch die Aussage einer van Ghertschen Somnambulen, daß sie in ihrem Körper alles deutlich sehe, 'wenn der Arzt selbst mitsehe und durch seine Gedanken helfe; alles würde dann heller und deutlicher'. [3] Auch fällt die Art auf, in der die Aussagen einiger Versuchspersonen gewissen Lieblingstheorien ihrer Ärzte entgegenzukommen scheinen.

Größere Sicherheit gegenüber solchen Bedenken beanspruchen erst die Fälle, in denen das Wahrgenommene vermutlich - und vielleicht nachweislich - nicht nur den Versuchsleitern, sondern jedermann unbekannt war. Dies gilt möglicherweise von krankhaften Veränderungen des eigenen oder eines fremden Körperinnern, und zwar im besten Falle vor ihrer ärztlichen Feststellung.

Diesen Typ könnte zB. folgender Vorfall aus dem Leben der mehrfach erwähnten Anna Kingsford belegen (bei der, als einer ausgebildeten Ärztin, autoskopische Beobachtungen an sich natürlich bedeutungslos gewesen wären).

Sie hatte eines Tages augenscheinlich in Maitlands Gegenwart gegen einen Anfall starker Übelkeit einige Tropfen Chloroform genommen, als sie wenige Sekunden darauf in somnambulen Zustand verfiel. 'Wie seltsam', rief sie in diesem aus, 'ich kann mein ganzes

[1] Haddock 152ff.
[2] Haddock Emma, Wenn auch völlig analphabetisch, war doch eines Arztes Magd.
[3] ATM II, I 49.


Kap XXXIX. 'Hellsehen'.         (S. 406)

Inneres sehen und was es ist, das mich krank macht. Dicht unter dem Magen, zwischen Pylorus (Magenausgang) und Duodenum (Zwölffingerdarm), ist ein kleiner Abszeß, gefüllt mit schwarzem Eiter, erzeugt durch einen metallischen Körper, den ich mit dem Essen verschluckt habe.'

Zu sich gekommen, stand sie der eigenen somnambulen Aussage völlig ungläubig gegenüber, erbrach aber gleich darauf dunkelgefärbten Eiter, 'wie aus einem eben geborstenen Abszeß, dessen Sitz ihr genau an der vorhin bezeichneten Stelle zu sein schien,' und in der Masse ein kleines Stück zackigen Metalls.

Die Anfälle von Übelkeit hätten danach aufgehört. [1] Ein verwandtes Beispiel nicht der Eigen-, sondern der Ferndiagnose entnehme ich den Leistungen der berühmten Frau Piper.

'Dr. Phinuit', der bekannte' Kontrollgeist' dieses Mediums, hatte in einer Sitzung mit Herrn und Frau Dr. Thaw (10. Mai 1892) einem abwesenden nahen Verwandten, der schwer an Asthma litt, eine Nierenkrankheit nachgesagt, die daraufhin zwei Wochen später bei sorgfältiger ärztlicher Untersuchung zum ersten Male festgestellt wurde. 'W - kommt bald und plötzlich zu uns,' sagte Phinuit.

'Er wird einschlafen, und wenn er erwacht, wird er ein Geist sein. Herz wird anhalten. Nieren in Unordnung. Er ist durch und durch nicht in Ordnung.' Am 22. Mai bestimmte Phinuit die noch übrige Lebenszeit auf '6 Monate oder etwas weniger'. W - starb im Schlaf, infolge Versagens des Herzens, am 3. Sept. desselben Jahres. [2]

[1] Kingsford I 62. Die Beweiskraft des Berichts ruht allerdings völlig auf dem Vertrauen, das man in die Glaubwürdigkeit des reichlich wundersüchtigen, wenn auch ehrlichen Maitland zu setzen bereit ist. Vgl. Sollier, Autosc. 116f.; den Fall von Bertrand bei Podmore I 69f.; Wyld 175; v. Wasielewski 78f.
[2] S. d. stenogr. Bericht Pr XIII 565f., dazu 352. Andre Beisp. Phinuitscher Diagnosen Pr VIII 34 (wo Ph. gegen die Ärzte recht behielt); VIII 120; XIII 496f.; VI 467.

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