Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XXIV. Erotomanie und mystisches Leben.         (S. 211)
               
Die vorstehenden Andeutungen haben sich größtenteils auf das Gebiet der 'allgemeinen' Religiosität beschränkt und die Irrwege der


Kap XXIV. Erotomanie und mystisches Leben.         (S. 212)

außerordentlichen religiösen Erfahrungen, der Mystik und Ekstatik, mehr oder minder beiseite gelassen; aber ihrer Art nach genügen sie fraglos dem Laien und in vielen Fällen auch dem medizinischen Beurteiler vollkommen, um den Lehrsatz von der wurzelhaften Verwandtschaft, wenn nicht Gleichheit von Geschlechtlichkeit und Religion zu begründen.

Es ist daher wohl zu erwarten, daß gleiche oder verwandte Begründungen auch auf dem Gebiete extremerer, mystischer Religiosität Anwendung finden werden. Ich will indessen eine solche vollständige Parallelbetrachtung nicht versuchen, vielmehr die ganze Aufmerksamkeit alsbald auf die Vergleichung eines beherrschenden Typs der mystischen Erfahrung mit ebenso hervorstechenden Typen der profanen Pathologie der Liebe lenken; Typen, deren sexualistische Deutung der klinischen Betrachtung besonders geläufig ist.

Diese profane Typenreihe können wir unter dem Begriff der neurotischen Liebesverinnerlichung oder Introversion zusammenfassen und ihr wesentliches Merkmal in der Ablösung des Instinktes von der offenen Geschlechtsbetätigung erblicken, bei erhaltener, ja unter Umständen sehr gesteigerter innerer, 'geistiger' Liebesglut.

In der verhältnismäßig mildesten Form erscheint diese Entwicklung bei den Psychasthenisch-Neurotischen. Ihr Liebesleben nimmt in besonderem Maße teil an der Wendung nach innen, indem die Krankheit selbst, das für sie bezeichnende Versagen der 'Realisation', die Erreichung einer ausgewachsenen, im Gegenstand gesund verklammerten Leidenschaft unmöglich macht.

Die Menschen- und Verantwortungsscheu des Seelenschwachen verweist ihn meist auf wesentlich hemmungslosere, einsamere Arten der Liebesbefriedigung, als die normalen ehelichen, [1] und der Mangel an voller Befriedigung, den die Psychasthenischen selbst bei gelingendem Geschlechtsverkehr empfinden, [2] treibt sie überdies ganz natürlich zum Sichausleben in der Phantasie.

Sie neigen dementsprechend zur seelischen Schwärmerei. Und wie alles Abstrakte und Unverbindliche ihnen näher liegt als das Konkrete und Verantwortungsvolle, so geben sie sich am liebsten der schrankenlosen Idealisierung des Fernen und Fremden hin, der Selbstberauschung in Gedanken, der Selbsthingabe an eine von weitem verehrte Kraft, der Selbstauslöschung-in-Liebe vor einem fremden bewunderten Willen. [3]

Zwei Bedürfnisse verschlingen sich hier: das nach Führung und das nach Erregung; das nach einer Ergänzung der eigenen mangelhaften Selbstverantwortungsfähigkeit und das nach einem Spannmittel, das die Schwäche, wenn nicht aufhebt, so doch vergessen läßt; nach der Erregung, die zeitweilig das verlorengegangene Gefühl der Wirklichkeit, des Lebendigseins wieder aufflammen läßt. [4]

Und eine solche Liebe bedarf dann keineswegs eines durchgeführten Verhältnisses, sondern begnügt sich

[1] Janet, Obs. I 573.
[2] Das. 622f.
[3] 'Gisèle' und 'Nadia', das. 388f. Vgl. Dinah M . bei Sollier, Autosc. 23f.
[4] Sim. . . und Nadia bei Janet, aaO. 386f. 389. 304.


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gerne mit der Bewunderung auf Entfernung, selbst ohne daß der Geliebte zu ahnen braucht, welche Rolle er im seelischen Haushalt einer Gebrechlichen spielt.

Aber schon die klinische Beobachtung sieht bezeichnenderweise an die Stelle eines so abstrakt geliebten menschlichen Helden zuweilen das anthropomorphe religiöse Gebilde treten - ein kleiner Schritt, wenn man es recht bedenkt. 'Ich habe häufig das Bedürfnis,' sagt GisèIe, 'hinzugehen und die Statue unserer lieben Frau der Siege zu betrachten...

Der Grund ist, daß diese Statue mir einen besonderen Eindruck der Kraft macht; das zwingt mich, sie zu betrachten.' [1] - Wir empfinden hier ohne weiteres die psychologische Nähe gewisser Formen von Gottesliebschaft, die ja auch dem Gläubigen Erregung, Rausch und Führung sichern sollen.

Wir verstehen zum mindesten die Versuchung für den reinen Psychopathologen, ganze Gebiete der schwärmerischen Verehrung unsichtbarer Wesen und höherer Welten nach dem Muster solcher Kranker zu begreifen, zumal da, wo sich der Hinwendung zum 'Ideal' augenscheinliche Weltleidigkeit und Weltscheu verbindet.

Bis in beträchtliche Höhen des religiösen Wesens hinauf ist ja Scheu vor Berührung mit der Welt die Außenseite eines innerlich erregten und abstrakten Liebeslebens, Verschlossenheit dem Einzelnen gegenüber das Gegenstück zum glühenden Monolog der Kanzel oder des Buches, also dem namenlosen 'Andern' gegenüber.

Lacordaire, immer schweigsam und zurückhaltend, Frauen gegenüber von eisiger Einsilbigkeit, aber auf der Kanzel feurig überströmend, gebraucht das bezeichnende Wort von sich: er habe stets der Einsamkeit bedurft, und sei es bloß um zu sagen, wieviel er liebe. [2]


Die erotische Introversion des Psychasthenischen scheint immer noch durch schwanke Brücken mit dem Lande der Normalität zusammenzuhängen; ein Spannungszuschuß, ein erregtes Sichaufraffen mögen ihn vorübergehend den Anschluß an die volle Wirklichkeit des Gefühls und Genusses wiedergewinnen lassen.

Anders bei den ausgewachsenen Neurotikern des paranoischen und hysterischen Typs: hier finden wir ja schon in der viel beobachteten sexuellen Frigidität - der Empfindungslosigkeit oder Schmerzempfindlichkeit der tätigen Geschlechtsteile oder doch der geschlechtlichen Wunschlosigkeit und Kälte - ein weit bedeutsameres Anzeichen der Abwendung des Liebeslebens von seiner natürlichen Umwelt.

Denn diese Geschlechtskälte (die sich in Unfähigkeit zum Orgasmus äußert) beruht ja nach psychanalytischer Auffassung nicht nur auf mangelndem seelischem Verhältnis zum Partner oder auf moralischen Hemmungen, etwa gar auf geheimer Haßeinstellung ihm gegenüber; sondern in vielen Fällen auf typischen Ursachemomenten der Neurose: verdrängten homosexuellen

[1] Das. 387.
[2] Greenwell, Lacordaire 79.


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Einschlägen oder infantilen Bindungen an elterliche Personen oder sonst wen. [1] Das für uns Ausschlaggebende aber ist nun, daß dieser körperlichen Kälte in durchaus typischen Fällen eine seelische Übererregung des Liebesbedürfnisses ergänzend entspricht.

Hochgesteigerte Binnenerotik bei Ablehnung der Geschlechtlichkeit im engen Sinne umschreibt den klassischen Begriff der Erotomanie, wie schon Esquirol ihn aufgestellt hat.

’Bei den Erotomanischen’, schrieb dieser, sind 'die Augen feurig belebt, der Blick leidenschaftlich, die Reden zärtlich, die Handlungen expansiv, aber sie überschreiten nie die Grenzen des Anstandes.

Sie vergessen sich gewissermaßen selber, sie widmen dem Gegenstand ihrer Liebe eine reine, häufig geheime Verehrung; sie machen sich zu seinem Sklaven, indem sie seine Befehle mit einer häufig kindischen Treue ausführen...; sie sind vor seinen häufig eingebildeten Vollkommenheiten in ekstatischer Betrachtung versunken,. .. meist von einer unversiegbaren Geschwätzigkeit und reden immerzu von ihrer Liebe.

Wie alle Monomanischen werden die Erotomanischen Tag und Nacht von den gleichen Vorstellungen und Gefühlen verfolgt, die um so maßloser sind, als sie durch Hindernisse (durch Befürchtungen, Hoffnungen, Eifersucht, Freude, Mut u. dgl.) verschärft werden. Sie vernachlässigen, sie fliehen schließlich ihre Verwandten und Freunde; sie verachten die irdischen Güter, die gesellschaftlichen Rücksichten; sie sind imstande, die außerordentlichsten, schwierigsten, mühsamsten, wunderlichsten Handlungen zu begehen.' [2] -

Die einzelnen Züge dieser alten, aber klassischen Beschreibung haben bei späteren Beobachtern vielfache Bestätigung und Bereicherung gefunden. Erotomanie unterscheide sich wesentlich von Nymphomanie und Satyriasis. Bei diesen entspringe das Übel in den Zeugungswerkzeugen, deren Überreizung auf das Gehirn zurückwirke.

Bei der Erotomanie liege das charakteristische Gefühl  im Kopfe. Erotomanie verhalte sich zu Nymphomanie und Satyriasis wie die glühende Liebe des Herzens in Keuschheit und Ehren zu der furchtbarsten Ausschweifung. [3] -

Ein zweiter, uns ebenso nahe angehender Charakterzug dieser Art der Liebe ist die Abstraktheit und Idealität ihres Gegenstandes. 'Sie ruht', sagt Ball, 'auf einem vagen, wolkenhaften, kaum gesehenen Ideal'. Ja manche Kranken verlieben sich in einen leblosen Gegenstand, in ein Wesen, das längst verschwunden ist, oder in eine geschichtliche Persönlichkeit; zuweilen, wenn sie dem Wesen, das sie lieben, gegenübergestellt werden, flößt dieses ihnen unüberwindlichen Widerwillen ein. [4]

Die Kranken sind also völlig von der Wirklichkeit gelöst; sie fürchten sie geradezu; ihre Leidenschaft lebt sich restlos im Reiche der Vorstellungen aus. Und gerade ihre Flucht vor der 'wirklichen' Liebe bewahrt sie vor allen Versuchungen. [5]

Schon bei diesen Erotomanischen - welche die Schulpsychiatrie meist den Paranoischen zurechnet - spielen halluzinatorische Verkörperungen

[1] Zahlreiche Beispiele bei W. Stekel, Die Geschlechtskälte der Frau (Berl. u. Wien 1920).
[2] Esquirol, Des maladies mentales (Par. 1838) II 33.
[3] Das. 32. 'Die reinste erdenkbare Liebe': Ball, bei Laurent 131; ebenso Moreau 196; Krafft-Ebing, aaO. 406.
[4] Bouchereau in H. Tukes Dict. II 702. Vgl. über Distanzliebe: Stekel, aaO. 38f. (Beispiele).
[5] Stekel, das. Lehrreiche Krankengesch.: Esquirol, aaO. 34ff.; Ball, L'Encéphale 1888 Nr. 2 u. 3; Krafft-Ebing, Lehrb. 407ff.; Rozier, Die geheimen Verirrungen des weibl. Geschlechts (Lpz. 1831) 123ff.


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Kap XXIV. Erotomanie und mystisches Leben.         (S. 215)

des Komplexes - hier des Liebesideals - eine nicht unbeträchtliche Rolle. Diese sind natürlich für alle 'schizophrenischen' Zustände, nicht zum wenigsten für die hysterischen, charakteristisch und für unsern Zusammenhang bedeutsam. Ihr Formenreichtum ist ein sehr ausgedehnter.

Die einfachsten Äußerungen des Komplexes sind die 'Stimmen', seien es 'innerlich' gehörte, in die verschiedensten Teile des Körpers verlegte, seien es deutlicher oder undeutlicher von außen kommende, seien es - mit einem Übergriff auf den Bewegungsapparat - vom Subjekt geflüsterte oder doch von Zungen- und Lippenbewegungen begleitete.

In Fällen voller Ausgewachsenheit gestaltet sich das erotische Ideal zu einer gesehenen und gehörten Gestalt, mit der ein fortlaufender Verkehr geführt, soz. ein halluzinatorischer Roman gelebt wird: der verdrängte Komplex ist zum Keim eines zweiten Ich geworden, das sich in sinnlichen Automatismen dem Wachbewußtsein gegenüberstellt. [1]

Ein Beispiel mag eine Patientin Janets liefern. Druo... hat sich mit 18 Jahren in einen gewissen Alphonse leidenschaftlich verliebt. Nach einer Begegnung in einem Konzert befindet sie sich in Unterhaltung mit ihm: sie hört ihn ganz deutlich. Bald unterhält er sie mit verliebten Reden, bald macht er ihr Vorwürfe und sie streiten sich.

D. will nicht zugeben, daß sie es bloß mit Einbildungen zu tun habe; die Gesichtstäuschung freilich ist weniger deutlich und Berührungshalluzinationen finden überhaupt nicht statt. Aus diesem ersten Gespräch entwickelt sich aber bald ein ganzer halluzinatorischer Roman: man verabredet Stelldicheine, hat Schwierigkeiten aller Art zu überwinden, aber man trifft sich, ist beglückt, unterhält sich usw. [2]

Zu sexuellen Romanbestandteilen ist es hier so wenig gekommen wie in fast allen 'erotomanischen' Krankengeschichten. Gleichwohl erscheint die Verwurzelung im Liebestriebleben nicht zweifelhaft, und die Neurosenlehre deutet alle diese Gebilde der Schwärmerei als Ergebnisse der Unterdrückung des offenen Geschlechtstriebes.

Die Widerstände, denen sein Sichausleben begegnet, findet sie in seelischen Regungen, wie Ekel, Schamgefühl, moralischen und ästhetischen Vorstellungsmassen, wie sie die Erziehung dem Triebleben in den Weg stellt, oder in 'infantilen' Bindungen, z.B. an den Vater, dem auch jenes Unerreichbare, Göttliche eigne, das die schwärmerische Neigung der 'Distanz-Liebenden' im Partner suche; [3] und wo solche Widerstände nicht ausreichend nachweisbar sind, nimmt sie 'organisch bedingte' Widerstände an, die sich 'gelegentlich ganz ohne Mitwirkung der Erziehung herstellen'. [4]

Infolge dieser 'Sexualablehnung' verbleibt ein großes Stück oder das Ganze der psychosexuellen Tätigkeit zur Auffindung des Gegenstandes geschlechtlicher Wünsche im Unbewußten. Aber damit ist sie natürlich nicht aus der Welt geschafft: eben in 'sublimierter' Form tritt jene Energie ins Bewußtsein, deren Verwendung auf

[1] Vgl. o. Kap. V u. VIII, S. 56ff. 82. 85ff. 91 ff.
[2] Obs. II 526ff.
[3] So insbes. Stekel. aaO. 381.
[4] Freud. Sex. 38. (Ich komme hierauf noch zurück.)


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geschlechtliche Tätigkeit durch jene Ablehnung verhindert wurde. [1] Der Erregungslosigkeit des Triebapparates entspricht gesteigertes Sehnen mit mehr oder minder unbestimmtem, 'verklärtem' Gegenstande.

Die stärkste erfahrungsmäßige Bestätigung findet diese Theorie eben in der Möglichkeit eines Rückschlags der Sublimierung ins Nackt-Geschlechtliche, wodurch sich dann gewissermaßen Quelle und Leitung enthüllen, woraus und wodurch der keusche Affekt seine Spannung bezog.

Daß die schwärmerisch-liebenden Aufschwünge der Psychasthenischen auf dem Wege der 'Derivation' mitunter in der Niederung masturbatorischer Handlungen enden, haben wir bereits früher erfahren. Von Hysterischen wissen wir, daß neben völliger Empfindungslosigkeit der Teile, und oft mit ihr abwechselnd, auch örtliche Übererregbarkeit mit allen Begleiterscheinungen ihren Zustand bezeichnen.

Die Beobachtung der Erotomanischen endlich gibt uns Fälle an die Hand, die - so typisch sie sonst anmuten - den Vorhang gleichwohl nicht völlig über den geschlechtlichen Hintergrund ziehen, in denen soz. die Umkippung ins Seelische nicht vollständig gelungen zu sein scheint.

Die folgende Mitteilung Moreaus, die sich auf eine junge Person aus sehr guter Familie in der Anstalt von Ivry bezieht, bietet überdies den Vorzug, daß sich in ihr offen-geschlechtliche Erregungen nicht nur mit idealisierender Menschen-, sondern auch mit Gottesliebe von gewisser Art verbinden.

Jene Erregungen - impulsions utérines - verknüpften sich hier mit entsprechenden deliranten Vorstellungen: die Kranke glaubte, daß ihr von allen Seiten her unerlaubte Anträge zukämen, von Männern wie von Frauen. Anderseits erschien sie 'sehr religiös', hatte seit langem den Wunsch, in einen Orden einzutreten, und fürchtete so sehr, durch die angeblichen sexuellen Verfolgungen ihren religiösen Gedanken abspenstig gemacht zu werden, daß sie Selbstmordversuche unternahm.

Ihr seelischer Zustand wird durch einen uns mitgeteilten Brief charakterisiert: sie behauptet darin, sich endlich klar geworden zu sein über die in ihr bestehende Gleichzeitigkeit eines angeblich ausschließlichen Verlangens nach Gott und jener 'immerhin vorhandenen Bevorzugung eines einzigen Mannes [2]  vor allen anderen'.

'Ich bedarf', schreibt sie, 'einer ziemlich starken, festen, innigen Umarmung, um mein Herz ein Herz werden zu fühlen mit demjenigen, dessen Arme mich umfangen,... sonst sind die Männer mir dermaßen gleichgültig und ich habe so viel natürlichen Hochmut, daß ihre Mühen, ihre Leiden, ihre Gedanken mir Verachtung und Spott einflößen.

Gott allein, den ich in ihnen sehe, läßt mich sie - selbst den Geringsten - und den Geringsten vor allem - über mich selber stellen. Gottes unendliche Überlegenheit mir gegenüber,... das Bewußtsein, daß er vom ersten Erwachen meines Lebens an mir von seinen göttlichen Schönheiten mitteilte, haben mich frühzeitig gelehrt, ihn zu lieben,. .. mich selber völlig zu vergessen, nur ihn noch zu sehen.

Das glühende Ungestüm seiner Liebe hat mich oft meine Arme weit öffnen lassen, um sie dann mit ganzer Kraft auf meiner Brust zusammenzudrücken. Ich preßte nichts Körperliches, aber mein verklärter Herr, der sich dann mir

[1] Das 74. 39.
[2] homme (Menschen?).


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vereinigte, schenkte mir unfaßliche Wonnen. Nach und nach hat das leibliche Herz an den glühenden Ergießungen des Herzens der Seele teilgenommen und mir ist das Bedürfnis nach einem Bruder, einem sichtbaren und faßbaren Freunde gekommen, der mir der lebende Ausdruck meines angebeteten Herrn wäre...

Wenn ich dabei geneigt bin, mich Jedem anzuvertrauen, der mir genügendes Vertrauen und Zuneigung einflößt, so leitet mich der Gedanke, daß in Gott alle Menschen Brüder sind und daß, da ich lediglich die Ausgießung der göttlichen Liebe suche, ich sie in allen denen finden kann, die für mich Gottes Stelle einnehmen. Ich muß also denjenigen finden, der sein Dasein dem meinigen opfern will. Und diesen habe ich gefunden.. .' [1]

Was mich diesen Bericht anführen läßt, ist die Offenheit, mit der das geschlechtliche Element sich in ihm ausspricht und damit die Wurzel des ganzen Romanes andeutet. Von diesem Bestandteil abgesehen, befinden wir uns einerseits noch in genügender Nähe von typischen Fällen der Erotomanie, von denen wir uns höchstens in unmerklichem Übergang ein wenig entfernt haben;

anderseits tatsächlich schon inmitten von Erscheinungen, die den Akten der Hagiologie und zumal des Klosterlebens entnommen sein könnten. Was die erstere 'Nähe' anlangt, so muß ich hier nachtragen, daß auch die durchaus 'keusch' Liebenden des klassischen Esquirol’schen Typs mitunter im Schlafe Träume von offen-geschlechtlichem Inhalt haben. [2]

Anderseits haben wir im Rahmen unserer Betrachtung der religiösen Automatismen [3] etwas von der Art erfahren, wie der Gott – der Heiland, sein Engel oder sonst eine der jenseitigen Gewalten – dem Frommen einwohnt, ihn führt, sich mit ihm unterredet, ihm erscheint, ja völlig zum ständigen Genossen seines Lebens wird.

Bei christlichen Männern ist es vielfach die Gottesmutter, zuweilen die Sophia; bei christlichen Frauen meist der Heiland. Schon dies deutet auf ein erotisches Element. Im übrigen stellt sich dieser innere oder visionäre Verkehr ohne weiteres als ein Verhältnis glühender Liebe dar.

Jesus ist der 'Bräutigam der Seele'; er 'verlobt' sich seiner Geliebten, zuweilen in ausführlichen Visionen eines zeremonieIlen Ringwechsels, er 'vermählt' sich seiner Erwählten und läßt sie die Freuden der Vereinigung kosten, er führt nicht- endende Unterredungen zärtlichsten Inhalts mit ihr, er lockt und martert sie, straft und lohnt sie, wie nur je ein eifersüchtiger Liebender getan;

bald zieht er sie an seinen Busen, bald verbirgt er sein Antlitz vor ihr; durch Wonnen und Qualen spinnt sich ein lebenslängliches LiebesspieI, und die ehelich-sexueIle Ausdrucksweise ist dabei aIlen SelbstdarsteIlungen dieser mystischen Erlebnisse natürlich. [4] 'BrautenthüIlung Frommen die

[1] Moreau 200ff. Ich empfehle noch den Fall der Therese M... bei H. Ellis, Geschlechtstrieb u. Schamgefühl 335ff. (nach Sérieux).
[2] Es muß auch erwähnt werden, daß mehrere Beobachter sich gegen die strenge Ausschließung der offenen Sexualität von der Erotomanie
erklärt haben: Bouchereau, aaO.; H. Tuke in JMS III 359 (angebl. sogar mit Nymphomanie verträglich). Masturbation ist häufig, auch wenn das paranoische Liebesverhältnis durchaus platonisch ist (Krafft-Ebing, aaO. 406: Bouchereau, aaO.).
[3] Oben Kap. VIII.
[4] Fast alle ekstatisch veranlagten Nonnen wären hier zu nennen. S. z.B. Görres I 322ff. 490.


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Kap XXIV. Erotomanie und mystisches Leben.         (S. 218)

Verzückung ist, Brautgenuß den Frommen die Entrückung ist', singt Dschelal ed-din Rumi. [1] Zuweilen nehmen die Besuche unirdischer Persönlichkeiten so sehr an Häufigkeit und Bildhaftigkeit zu, daß etwas wie ein ununterbrochener Umgang zustande kommt.

Von S. Katharina von Siena berichten die Biographen, daß der Herr sie besuchte, 'wie ein Freund den andern zu besuchen pflegt', zuweilen allein, zuweilen in Gesellschaft seiner Mutter und anderer Heiligen, und sich mit ihr unterhielt wie der Freund mit dem Freunde;... ja er ging mitunter mit ihr im Zimmer auf und ab, die Psalmen hersagend, 'als wären sie zwei geistliche Personen, die ihr Offizium zusammen beteten', so daß die Heilige beim Gloria die Worte veränderte: Gloria Patri et Tibi et Spiritui Sancto, sich an den Gegenwärtigen wendend. [2]

Die Analogie dieser göttlichen Liebesromane mit dem menschlichen Eheleben ist dabei oft eine sehr weitgehende, für ihre Deutung belangreiche. 'Jeder Psychiater kennt die Delirien unverheirateter Frauenzimmer, welche Verlobung, Hochzeit, Koitus, Schwangerschaft und Geburt aufführen.' [3]

Selbst dieser äußerste Fall nun findet sich in den Annalen der Mystik, z.B. im Leben der Margarete Ebner († 1351), die in einem halluzinierten Roman vom Heilande umfangen wurde, ein Kind von ihm empfing und gebar, das sie ihm dann 'zeigte' usw. und auf die gleichen Zusammenhänge deutet die Tatsache, daß sich diese Romane häufig in einem Alter anspinnen, in dem man das Erwachen der Geschlechtlichkeit ansetzen darf, bei südlichen Naturen also leidlich frühzeitig. [4]

Als Gottgeliebte der männlichen Heiligen stellt man sich mit Recht vielfach die himmlische Jungfrau-Mutter vor. [5] Diese Verkörperungen indessen beiseite lassend, will ich auf eine andere Gestalt des mystisch-visionären Romans der Männer etwas näher eingehen, die schon oben erwähnt worden ist: die göttliche Weisheit, das edle Weib Sophia, von dem schon der apokryphe Dichter gesagt hatte,

daß er sie geliebt und ersehnt habe von seiner Jugend an und danach gestrebt, 'sie als Braut für sich heimzuführen, und ein Liebhaber ihrer Schönheit geworden sei, ja daß sie mit Gott zusammenlebe und der Herr des Alls sie liebe. [6] Unter den Jenseitigen, denen sie die liebende Genossin des mystischen Weges wurde, ragt früh schon der dichterische Seuse hervor, der in ihrem Umgange den größten Teil seines dornigen Pfades verschwelgte.

'Er hatte' - nach der blumenreichen Erzählung seiner bewundernden Schülerin - 'von Jugend auf ein minnereiches Herz. Die ewige Weisheit aber wies ihn darauf hin, wie betrüglich alle Minnerinnen seien, wie recht lieblich und stet sie aber sei'.

[1] Tholuck 77; vgl. das. 31. 32 üb. Rabia. Liebe zum Jesuskindlein (nach heutiger Anschauung eine nicht ungeschlechtl. Form der Erotik): S. Elisabeth; S. Armelle; Angela 145ff.; Labis 71; indisch: R. Otto, Vishnu-Näräyana 149.
[2] Drane I 57f.; vgl. II 41 und d. Fall der span. Dominik. Tertiarierin bei Calmeil I 232. Berühmt ist der Jesus-Umgang der hl. Gertrud (z.B. I 170f. 174). Vgl. auch Imbert II 100ff.
[3] Jung, Dementia 94.
[4] Daminica deI Paradiso (Florenz) mit 10, Columba v. Rieti mit 12 Jahren (Görres I 342. 433).
[5] Indisch z.B. Kali, bei Ramakrishna 39 (vgl. o. S. 92 f.).
[6] Weish. Salom. 8, 2. 3.


Kap XXIV. Erotomanie und mystisches Leben.         (S. 219)

Davon ward sein junger Mut gezogen... 'Diese reizliche Weise hatte sie gar oft und ein minnigliches Locken zu ihrer geistlichen Minne, sonderlich in den Büchern, die da heißen der Weisheit Bücher'. Wenn man die zu Tische las und er dann solch Minnekosen daraus lesen hörte, so war ihm viel wohl zumut. Hiervon begann er 'ein Elend (Sehnsucht) zu haben und zu gedenken in seinem minnereichen Mute also:

Du solltest doch recht dein Glück versuchen, ob dir diese hohe Minnerin möchte werden zu einem Lieb, von der ich so große Wunder höre sagen, weil doch dein junges, wildes Herz sonder Lieb nicht wohl die Länge mag bleiben'...

Da er sich aber mühte, ' inwiefern er sie in den ausgelegten Kundschaften der Schrift mit den innern Augen ersehen möchte, da zeigte sie sich ihm also: sie schwebte hoch ob ihm in einem gewölkten Chore, sie leuchtete als der Morgenstern und schien als die anbrechende spielende Sonne; ihre Krone war Ewigkeit, ihr Kleid Seligkeit, ihr Wort Süßigkeit, ihr Umfangen aller Lust Genugsamkeit; sie war fern und nahe, hoch und nieder; sie war gegenwärtig und doch verborgen; sie ließ mit sich umgehen, und mochte sie doch niemand begreifen...

Wie oft das minnigliche Bild mit weinenden Augen, mit ausgebreitetem grundlosem Herzen ward umfangen und in das Herz lieblich gedrückt', das wäre unsäglich.. . Sein Herz fuhr oft in seinem Leibe 'gen der ewigen Weisheit lustreicher Gegenwärtigkeit in einer empfindlichen Durchflossenheit'... Sein Antlitz war so fröhlich, seine Augen so gütlich, sein Herz ward jubilierend...: 'Glück ist mir mit dir gefolgt und alles Gut hab ich mit dir und in dir besessen!' -

Einst, da er in seiner Kapelle 'den aufbrechenden Morgenstern, die zarte Königin vom Himmelreich grüßte, wie die kleinen Vöglein im Sommer den lichten Tag', hörte er einen süßen Gesang 'in seiner lnwendigkeit'. 'Da ward ihm ein unsäglicher Umfang und in dem ward zu ihm gesprochen also:

So du mich je minniglicher umfangest und je unmaterlicher (geistiger) küssest, so du in meiner ewigen Klarheit, desto wonnesamer und minniglicher wirst umfangen. .. Da ward des himmlischen Getöns die Seele so voll, daß es der kranke Leib nicht mehr erleiden mochte, und gingen ihm die Augen auf und das Herz ging über und flossen die inbrünstigen Zähren über die Wangen ab.' [1] -

Durch die Seltsamkeit der altertümlichen Sprache hindurch erkennen wir doch deutlich gewisse Züge des erotomanischen Typs: die abstrakte und doch halluzinatorisch ausgebeutete Idealgestalt des Liebesobjekts, den Überschwang der Schwärmerei, hier mit einer starken Wendung ins Rühr- und Tränenselige, und - worauf ich noch ausführlich zu sprechen komme - ein überaus heftiges organisches Genießen.

Einige Jahrhunderte nach Seuse finden wir die himmlische Jungfrau eine nicht unbeträchtliche Rolle im mystischen Leben des Görlitzer Schusters spielen. 'Die Jungfrau,' schreibt Boehme, (der gute Geist in uns), vermählt sich wieder mit uns, wenn wir uns entschließen zur Wiedergeburt.' 'Als ich lag am Berge gegen Mitternacht und alle Bäume über mich fielen und alle Sturmwinde über mich gingen, da kam sie (die Jungfrau) zum Trost und vermählte sich mit mir.'

Gichtel endlich, der Boehme so vieles verdankt, übernahm auch diese mystisch-erotische Verkörperung und scheint sie sowohl visionär als auch theoretisch über die Maße seines Meisters hinaus gefördert zu haben.

[1] Suso 142. 144f. 148.


Kap XXIV. Erotomanie und mystisches Leben.         (S. 220)

Ihm 'geschahe im Geist eine Bewegung’, sagt seine Biographie, 'und nachdem zuerst eine schwartze, hernach eine schneeweiße Wolke geöfnet worden, erschien ihm aus der weißen Wolke die edle himmlische Jungfrau Sophia JESU, mit verklärtem Angesicht, als seine getreue Gehülfin und Gespielin, die er vorhin unerkannt, so hertzlich geliebet, im Geiste des Gemüts, und zwar von Angesicht zu Angesicht, da Gott ihm also sein ewiges Wort Jesum, zur lieben Gespons und Braut, in jungfräulicher Gestalt, heraus in seine Menschheit sandte...

Diese taht sich nunmehro ehelich zu seinem Seelen-Feuer, als ihrem Feuer-Mann. 0, wie freundlich hat Sie seine Seele umhälset. Keine eheliche Matron kan mit ihrem Ehegatten liebreicher spielen, als Sophia mit seiner Seelen taht... (in) unaussprechlicher Süßigkeit.' 'Ihre Figur,' sagt Gichtel selbst, 'ist wie der Engel und Menschen, von solchen Gliedern als wir Menschen, aber ohne thierische Glieder, ohne Sie kann sich der H. Geist an uns nicht offenbaren, Sie ist sein Leib.' [1]

Der Grundsatz, beim männlichen Mystiker einen weiblichen, beim weiblichen einen männlichen Gegenstand des mystischen Liebesromans vorauszusetzen, darf indes nicht überspannt werden; wir haben uns bereits über die Häufigkeit eines starken gegengeschlechtigen Einschlags gerade bei Religiösen verständigt; es würde daher einer sexualistischen Theorie des mystischen Liebeslebens keineswegs widersprechen, wenn wir homosexuelle Neigungen auch in den sublimierten Formen des mystischen Liebeslebens ausgedrückt fänden.

Von Ramakrishna lesen wir, daß er im Verlauf seiner langwierigen Bemühungen um Nacherleben aller geschichtlichen Formen der Gottesverehrung auch die der Hindulegende geläufige Liebe der Râdhâ zum Gotte Krishna zu erleben suchte und daß er zu diesem Behuf 'sich tagelang in weibliche Kleider hüllte, sich selbst als Weib vorstellte' und so zuletzt ans Ziel gelangte: er sah 'in einer Ekstase die herrliche Gestalt Sri Krishnas und war befriedigt. [2]

Es steht uns offenbar frei zu vermuten, daß ein weiblicher Einschlag im Wesen des Heiligen ihn zum erotischen Ausleben gedrängt habe. - Ebenso mag man eine homosexuelle Note zu vernehmen meinen, wenn ein Begnadigter, der das Angesicht Jesu schaut, ihm entgegenruft: 'Wende deine Augen von mir, denn sie machen mich brünstig'. [3] -

Besonders in der Jesusliebe des Grafen Zinzendorf hat man homosexuelle Triebelemente aufzudecken gesucht. Pfarrer Pfister, der ihm eine ausführliche Studie widmet, macht auf die Ähnlichkeit gewisser Bilder der hermeneutischen Jesuslyrik mit homosexuellen Akten aufmerksam. Auch das Abendmahl war in der Sprache dieses Frommen die 'Umarmung des Mannes'.

Aber die üppige Erotik des mystischen Grafen scheint noch weit deutlicher gewisse andere wohlbekannte Schattierungen des Geschlechtstriebes in sublimierter Form zu zeigen. Auf das nekrophile Element, welches Pfister hervorsucht, will ich dabei den mindesten Nachdruck legen. Mehr hervorstechend ist jenes, das man neuerdings als das algolagnische bezeichnet hat, dessen passive Seite die sexuelle Lustbetonung des Leidens

[1] GichteI, Leben 142f.; Theos. IV 2950. (1800).
[2] Ramakrishna 50.
[3] Kanne I 89 (nach Porst).


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Kap XXIV. Erotomanie und mystisches Leben.         (S. 221)

und Schmerzes - Masochismus -, dessen aktive diejenige der Grausamkeit, den Sadismus umschließt.

Das, 'Blutgelalle' der älteren hermeneutischen Dichtung und Schriftstellerei, ihr Wühlen in den Wundmalen, zumal in der vom Grafen so glühend besungenen Seitenwunde, als möglicher Vertreterin der weiblichen Geschlechtsteile, ist allerdings in einen Dunstkreis schwüler Lüsternheit eingetaucht, worin dann auch die 'bis zur Schmutzigkeit' gehende Vergleichung der Ehe Christi und der Seele mit menschlichen Verhältnissen nicht mehr wundernimmt.

Diese Note der Schmerzlust, der passiven oder aktiven Grausamkeit erklingt nun aber vielfach im Leben der Mystischen und ist ein nicht zu vernachlässigender Hinweis auf geschlechtliche Untergründe ihres erhöhten Liebens.

Denn masochistische und sadistische Neigungen fehlen nach heutiger Auffassung fast keiner sexuellen Persönlichkeit vollkommen, so sehr ihr Überwiegen die Ausnahme sein mag. Eine schmerzselige Seite des mystischen Liebeslebens verrät sich nicht nur unmittelbar im charakteristischen Gefühlston seiner beherrschenden Leidenschaft, sondern auch in einem Teil jener asketischen Bedürfnisse und Übungen, die dieses Liebesleben fast immer umlagern.

Damit soll natürlich nicht das Ganze dieses weitschichtigen seelischen Erscheinungsgebiets gedeutet sein. Es ist uns bereits bekannt, daß der introvertierte Liebestrieb, die heiße Liebe Gottes, ohne weiteres den zuvor gewerteten äußeren Gütern das Interesse entzieht, gerade wie sie fast immer die nackte GeschlechtIichkeit zum Erlöschen bringt.

Mme. Guyon ist ganz deutlich darüber, daß es der auch nur mäßig von Liebe ergriffenen Seele einfach unmöglich sei, die Annehmlichkeiten des Äußern irgendwie auf sich wirken zu lassen. [1] Aber diese natürliche Gleichgültigkeit gegen den äußern Genuß geht unmittelbar und mit der gleichen Natürlichkeit über in das Bedürfnis nach positivem Schmerz.

'Das Kreuz,' fährt Mme. Guyon an der eben benutzten Stelle fort, 'das ich bis dahin aus Ergebung getragen hatte, wurde mein Entzücken und der Gegenstand meines Wohlgefallens.' Die Liebe zum Kreuz nahm mit dem Fortschritt im 'innern Gebete' zu, und zumal wenn Gott ihr 'Liebkosungen' erwies, so erschien es ihr als das grausamste aller Martyrien, nicht zu leiden. [2]

Wir stoßen hier auf eine positive Gier nach Leiden, die zuletzt nachgerade für nichts anderes mehr Auge und Ohr hat; eine Paradoxie der Wertung, eine Umkehrung aller 'Vernunft', wie die Jenseitigen mit Bewußtsein sagen, eine Weisheit der 'Toren und Narren der Welt, aber der Lieblinge Gottes, weiseste Tollheit und tollste Weisheit', die ihre Anhänger als 'Sonderlinge, Heuchler, mangeurs de crucifix, Phantasten, Bigotte, Verführer und Verführte' erscheinen läßt. [3]

[1] Guyon, Opusc. 163 (Torrens I, 4 § 15); Vie I 87. 118; vgl. S. Teresa I 133f. (c. 16).
[2] Guyon, Vie I 87.119. 139. Vgl. Drane II 128 (55. Brief).
[3] Nach Mysteres 20.52.60.


Kap XXIV. Erotomanie und mystisches Leben.         (S. 222)

Zu leiden wird 'das eigentliche Wesen des Christseins', [1] Demütigung jeder Art eine Gnade, die kein Schatz der Welt aufwiegt, kostbar über alle Worte. [2] Trauer und Schmerz sind jetzt von Gott dem Herzen befohlen, noch vor aller Tugend, [3] und je vollkommener der Mensch, desto mehr soll er nach Tod und Leiden trachten. Nichtig der Mensch, welcher nicht duldet. [4]

Liebe kennst du, springt vor Schmerzgewalt dein Herz,
wo ist Schmerz, der, ach so tief wie Liebesschmerz.
[5]

'Ich betrachte', sagte eine, die vielleicht mehr als andere im glühenden Ofen der Gottesliebe geweilt hatte, 'ich betrachte alle Stunden als für mich verloren, die ich ohne Leiden verbracht habe... Ich sehe nichts, was die Länge des Lebens so sehr versüßt, als jederzeit zu leiden, während man liebt...

Es ist nur der Schmerz, der mir das Leben erträglich macht.' Und den Grund für diesen Leidensdurst sieht sie selbst in gewissen großen Gnadenbezeugungen, in denen ihr der Heiland über das Geheimnis seines heiligen Sterbens und Leidens Erkenntnisse zuteil werden ließ. [6]

Hier stoßen wir auf etwas Wesentliches: die Leidensgier ist aufs engste vergeschwistert mit dem Liebeserlebnis selbst. Zunächst mit der Gestalt des Geliebten, der ein Leidender, Schmerzenreicher ist und eben als solcher geliebt wird; in den sich hineinlebend, hineinliebend man also selbst die Wollust der Leiden nachzukosten vermag. [7]

In der Art andächtigen 'Betrachtens' Jesu und seines Werkes, das ja auch eine Quelle religiöser Kunst geworden ist und darum an dieser ermessen und studiert werden kann, klingt häufig eine grausame, in Blut und Schmerzen wühlende, klingt die sadistische Note des Liebesdranges kaum überhörbar vor.

'Er trug sein Kreuz', schreibt Ruysbroeck, 'unter vielen Schmerzen auf den höchsten Platz der Erde. Er ward ganz splitternackt entkleidet. Nie sah Mann oder Weib einen so schönen Leib so schwer mißhandelt. Die Haare flogen ihm in seine Wunden. Er ward mit groben Nägeln an das Holz des Kreuzes genagelt und dann aufgerichtet, daß ihm die Adern zerrissen.

Er ward aufgerichtet und dann niedergestoßen, daß ihm von der Erschütterung seine Wunden bluteten.' - S. Angela wurde durch den bloßen Anblick eines Passionsbildes schließlich so sehr in Fieber versetzt, daß ihre Genossinnen derartige Bilder vor ihr verbergen mußten. [8]

Aber dieser Mann der Schmerzen ist auch der Geliebte, der die verlobte Braut umfängt und küßt, ihr tausend Liebkosungen zuflüstert und sie mit unendlichen geheimen Wonnen überschüttet. Eine mächtige Wurzel asketischen Dranges steigt hier auf.

'Man soll Gott so sehr auf Golgatha wie auf dem Tabor lieben.' [9] 'Es ist eine Schande, ein Christ zu heißen und nicht gekreuzigt zu sein mit Christo.' [10] Man weiß, daß dies gelegentlich wörtlich genommen worden ist und daß mehr als ein Jesusliebender für

[1] M. Olier, bei Joly 167 (aus Lettres I 276).
[2] Chapot II 251.
[3] Ruysbroeck 29.
[4] Molinos 84f.; vgl. Suso 143.
[5] Tholuck 54.
[6] M.-M. Alacoque in ihrem Mémoire und Briefen; bei Bougaud 170f. 386f. 155. Ganz ebenso Labis 127.
[7] Vgl. Görres II 424 über Marg. Ebner (1291-1351).
[8] Ruysbroeck 15; Angela 97f.
[9] Guyon, Opusc. 24 (Moyen Court c. VII § I).
[10] Bernières-Louvigni 106. Üb. Armut und Entbehrung als masochist. Bedürfnis vgl. einen Fall von Dr. Strohmayer in JPN XII (1908) 84. 86.


Kap XXIV. Erotomanie und mystisches Leben.         (S. 223)

seinen Gott sich freiwillig ans Kreuz hat heften lassen. Die dazu nicht den Mut fanden, haben wenigstens eifrig die Geißel geschwungen, und ich brauche nicht an jene allzu populäre Literatur zu erinnern, die sich mit der masochistischen Bedeutung dieses weit verbreiteten religiösen Leidensinstrumentes befaßt. [1]

Doch führe ich einen wenig gekannten kleinen Zug aus dem Leben des berühmten Lacordaire an, der am Tage seiner Bekehrung ! sich von dem 'seltsamen Drang' verfolgt fühlte, einen kleinen Savoyardenknaben - er selbst trägt unverkennbar weibliche Züge - zu mieten, um sich von ihm durch die Straßen von Paris peitschen zu lassen. [2]

Auch Selbstverwundungen aller Art sind bekanntlich ein viel geübtes Mittel, dem Gotte Liebe zu erweisen.

Der wehleidige Seuse, um nur ein Sonderbeispiel aus zahllosen zu geben, schneidet sich den Namen Jesu mit einem Griffel in die Brust. 'Von den scharfen Stichen fiel das Blut stark aus dem Fleisch und rann über den Leib ab in den Busen. Das war ihm so wonnesam anzusehen, von der feurigen Minne, daß er des Schmerzens nicht viel achtete.

Da er dies getan, da ging er also versehrt und blutig aus der Zelle auf die Kanzel unter das Kruzifix, kniete nieder und sprach: Eya Herr, meiner Seele und meines Herzens einige Minne, nun sieh an meines Herzens große Begierde: Herr, ich kann noch mag dich nicht fürbaß in mich drücken; o Herr, ich bitte dich, daß du es vollbringest und daß du dich nun fürbaß in den Grund meines Herzens drückest.' [3]

Auch mag im Hinblick auf gewisse asketische Handlungen der Heiligen darauf verwiesen werden, daß ein so gewiegter Kenner des Geschlechtslebens wie Krafft-Ebing allerhand ekelhafte, auf Selbstdemütigung gerichtete Gelüste, wie z.B. das Genießen von Kot, Urin und Menstrualblut oder das Lecken an den Geschwüren von Kranken, als Äußerungen masochistischer Triebe auffaßt. [4]

Dies asketische Nachleben der Qualen des Geliebten ist die eine Verwirklichung der Schmerzliebe. Eine andere, auf die wir oben bereits hingeführt wurden, weist uns noch unwiderstehlicher als die asketisch-masochistische Praxis auf das sexualpsychologische Problem der Gottesliebe hin:

das organische Genießen des Gottes, die eigentliche Wollust der Gottesliebe bekennt sich selbst häufig zu der schmerzseligen Note. Wie oft nicht ist die Wollust der Vereinigung mit Gott als eine Verwundung durch den Geliebten beschrieben und besungen worden!

'Von der Minne verwundet sein ist das süßeste Gefühl und das schwerste Weh, das man ertragen kann', sagt Ruysbroeck. [5] Und Mme. Guyon spricht von einer 'tiefen Wunde, die sie im Innersten ihres Herzens empfangen und die so wonnevoll sei, daß sie in ihrem Schmerze ruhe und aus ihrer Qual ihre Lust mache'. [6] - Zumal die hl. Teresa hat von diesen 'bittersüßen Martern' die anschaulichsten

[1] Einiges Geschichtliche bei Zöckler 528f. 610f. Literaturangaben bei A. Eulenburg, Sexuale Neuropathie (Lpz. 1895) 86.
[2] GreenweIl, Lacordaire 144.
[3] Suso 146. Ähnlich A. de Musset, zit. bei Bloch 639.
[4] Ref. in ZR IX 104.
[5] Ruysbroeck 66.
[6] Opusc. 169 (Torr. I, 5, 5); vgl. Vie II 38 (II, 4. 7).


Kap XXIV. Erotomanie und mystisches Leben.         (S. 224)

Schilderungen hinterlassen, deren berühmteste sich auf das wiederholte Gesicht des 'sehr schönen' Engels bezieht, mit 'entzündetem Angesicht', der einen langen goldenen Pfeil, an dessen Spitze ein wenig Feuer zu sein schien, [1] ihr 'einigemal durch das Herz drückte, bis ins Innerste desselben; und wenn er ihn wieder herauszog, so war mir eben, als ziehe er einen Teil davon heraus, dann ließ er mich in heftiger Liebe gegen Gott ganz entzündet... Dabei war die Wonne, welche mir dieser ungemeine Schmerz verursachte, überschwänglich.' [2]

Die gleiche schmerzliche Note beherrscht dann den Zustand des dem Liebesrausch Entronnenen.

Ein Stachel sitzt ihm in der Seele. Das Herz ist 'von dem brennenden Pfeil verwundet geblieben, und zu jeder Zeit, an jedem Orte martern die Seele ihre Begierden ohne Unterlaß, und der mächtige Stachel, der sie verwundet, läßt ihr keine Ruhe.' [3] Es ist ein Zustand, der (nach einem Worte Ruysbroecks) des Menschen 'Blut trinkt' und seine 'leibliche Natur heimlich plagt und verzehrt ohne äußere Arbeit'. [4] 'Der nie ganz vollkommene Besitz verzehrt ihr Dasein.'

In diesem languir, diesem Schmerzschmachten, klingt der Ton der masochistischen Schmerzlust unverkennbar nach. Es ist ein Nachhall der göttlichen Wollust selbst. Dieser Zustand schmerzlicher Gier nach der Süße aber ist gerade ein Zug, der aus der Pathologie vertraut ist: die Unbefriedigung, welche der Unfähigkeit entstammt, mit einer Empfindungssteigerung zum Abschluß zu gelangen, den Rhythmus von Spannung und  Entspannung restlos zu durchlaufen.

Und zwar ist dies insonderheit ein sexualpathologisches Symptom; denn diese Unfähigkeit des Auskostens beobachten wir nicht zuletzt auf dem Gebiete des Liebesempfindens im weiten und im engeren Sinne. [5]

[1] Für den modemen Psychanalytiker ein durchsichtiges Symbol.
[2] S. Teresa I 267f. (c. 29).
[3] S. Jean III 393 (N. O. I. II c. II).
[4] Ruysbroeck 67; vg1. Tholuck 33 (über Rabia).
[5] Molinos 80. Vgl. Lombroso über 'paradoxe Nymphomanie' (größtes Verlangen nach Geschlechtsgenuß bei Unfähigkeit, die vorgestellten Genüsse in der Empfindung zu erreichen) bei Féré 444.

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