Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XIII. Theorie der Psychasthenie.         (S. 138)

Auch die andere Neurose, die uns Aufklärung verspricht, die Psychasthenie, birgt Probleme in sich, über welche volle Einigung noch nicht erzielt ist. Steht doch selbst ihre klinische Begriffsbestimmung noch nicht eindeutig fest.

Daß es Arten der Neurasthenie gebe, die mit unserem Problem wenig oder nichts zu schaffen haben, muß gleich betont werden. Von der modernen Ermüdungsneurasthenie des von Haus aus gesunden Hirnarbeiters und Geschäftsmannes werden wir kaum Erkenntnis des religiösen Lebens erwarten dürfen.

Dennoch hat, wie wir bald erfahren werden, in einer anderen Form der 'Seelenschwäche' einer ihrer besten Kenner das Deutungsmittel von Erscheinungen zu finden geglaubt, die im Mittelpunkt der religiös–jenseitigen Erfahrung stehen.

Auf eine zusammenhängende, ausführliche Beschreibung der Symptome dieser Neurose will ich zunächst verzichten. Wir werden uns mit einigen genauer befassen müssen, wenn die Anwendbarkeit dieses Krankheitsbegriffes in der Psychologie der Mystiker zu erörtern sein wird.

Ich beschränke mich daher einstweilen auf eine Aufzählung der Hauptbestandstücke in diesem klinischen Bilde: ZwangsvorstelIungen und Zwangsdenken mannigfachen Inhalts, Grübelsucht alIer Art, Zwangsbewegungen, zuweilen in krisenhafter Häufung; AngstvorstelIungen und Angstzustände (Phobien) von sehr verschiedener Anknüpfung; Gefühle der Gehemmtheit, des Ungenügens im Handeln, Denken und Fühlen, der 'Maschinenhaftigkeit'; Zurücktreten oder 'Verlorengehen' der Sinnenwelt, des Zeit- und Ichbewußtseins, gelegentlich aber auch Gefühle der Ichverdoppelung;

Gefühle der Gleichgültigkeit, der Unentschlossenheit, der Müdigkeit und Willensschwäche, der Widerstandslosigkeit, der Abneigung gegen alIes Neue; Störungen des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit; Neigung zur Träumerei; melancholische Verstimmung; Totheit des Fühlens überhaupt, neben übermäßigen GefühlswalIungen; Kopf- und andere Schmerzen; Störungen des Schlafes, der Verdauung, des Blutdruckes und der Absonderungen. [1]

Janets Theorie dieser Psychasthenie, die ich hier in den Vordergrund rücken möchte, arbeitet vor alIem mit dem Begriffe wechselnder Höhenlagen der psychischen Spannung: sie setzt eine Rangordnung der

[...] Villermays bei Richer 149; die Beobachtungen über Sichdoppeltfühlen Hysterischer: Sollier I 500; ders., Autosc. 20.
[1] Nach Janet?.


Kap XIII. Theorie der Psychasthenie.         (S. 139)

synthetischen Leistungen voraus und eine psychische Kraft, [1] deren Mehr oder Minder eine höhere oder niedere Stufe der Leistung ermöglicht. Die Tatsache dieser wechselnden Höhenlagen psychischer Spannung entdecken wir alle ja jederzeit mühelos in uns selbst; denn wir sind in jedem Augenblick des Lebens einer ganz bestimmten Höchstleistung gewachsen.

Die Möglichkeiten des Gelingens sind z.B. andere am Morgen als am Abend, andere vor als nach einer Mahlzeit; Erholung, Bewegung, äußere Anregung, Erregung u. dgl. m. begründen Unterschiede der Leistungsfähigkeit, der Fähigkeit zur Aufmerksamkeit, zum Schaffen, oder mit einem Worte: zur Synthese.

Dabei wird unter Synthese die seelische Funktion verstanden, die eine Mehrheit von Elementen zu einem einheitlichen Gebilde von neuen, neuartigen Eigenschaften und eigener Bedeutsamkeit zusammenfaßt. [2]

Der psychologische Rang einer Leistung aber bestimmt sich nach dem Maße ihrer Zusammengesetztheit, ihrer Verwickeltheit, ihrer 'Freiheit', d.h. ihres Entsprungenseins aus dem tiefsten und eigentlichen Charakter und der 'Persönlichkeit' des Leistenden, endlich nach dem Maße ihrer Neuheit - nicht nur für den Leistenden selbst, sondern auch für seine Umwelt.

Dies letztere drückt offenbar die Relativität aller Maße auch auf diesem Gebiete aus, ohne damit die Wichtigkeit des Prinzips zu verkleinern. Bei Kindern, Wilden, Idioten, Tieren usw. wird die höchste psychische Spannung nur eben leisten, was im geistig Höherstehenden längst mechanisch abläuft.

Denn aus dem Gebiete des Synthetischen findet ein beständiges Hinabsinken in das des Mechanismus statt; unter Aufwendung von Wille, Aufmerksamkeit, Anstrengung wird angebahnt, dann eingeübt, was schließlich ohne Beteiligung des Ich von neuem ablaufen kann. Dieses ichlose, 'gewohnheitsmäßige' Handeln aber, bestimmt durch den Grundsatz des geringsten Widerstandes und der geringsten Anspannung, ist vor allem das Gebiet der Niederen wie der Schwachen.

Die Grundanschauung einer Rangordnung psychischer Leistungen ermöglicht nun eine Theorie der psychasthenischen Krankheitserscheinungen vermittelst zweier weiterer Voraussetzungen: die eine stellt in dem Kranken einen Zukurzschuß an psychischer Kraft, an Spannung fest; die andere ein fehlerhaftes, zweckwidriges Wirken dieser Kraft, und zwar gerade infolge ihres Zukurzschusses.

Die erste Voraussetzung wird verwirklicht durch alles, was eine Schwächung des ganzen Menschen herbeiführt: erschöpfende Krankheiten, Ausschweifungen, Übermüdung; auch durch anhaltende oder übermächtige Gefühlserregungen, Störungen des Blutumlaufes und der Blutverteilung, Störungen des Wachstums, wie sie namentlich die Zeit der Geschlechtsreifung bringt, Entfaltung einer unglücklich

[1] Vgl. den so vielfach verwendeten Begriff der life energy, activité nerveuse, influx nerveux u. ä.: z.B. Bernheim, Hypnotisme, suggestion... 108. 112, und gewisse Wendungen bei Freud (Breuer u. Freud 73. 170. 171. 209).
[2] S. z.B. Janet, Obs. 1 4gl; Wundt 111 520ff. 778ft.


Kap XIII. Theorie der Psychasthenie.         (S. 140)

belastenden seelischen Erbschaft. [1] Alle diese Übel sind Ursachen einer Herabsetzung der nervösen Spannung überhaupt und liefern damit unmittelbar die Erklärung der soz. negativen Kennzeichen des psychasthenischen Zustandes: seiner Ausfallserscheinungen, der Herabsetzung der synthetischen Höhenlage: der Willensschwäche, der Unwirklichkeitsgefühle, des Ich- und Weltverlustes, der Gefühllosigkeit u.a.m.

Zur Deutung seiner soz. positiven Kennzeichen, wie namentlich der Zweifel, Zwangsgedanken und Angstzustände, geht erst die zweite Voraussetzung über, die hauptsächlich mit dem Begriff der Ablenkung (derivation) arbeitet. 'Wenn eine Kraft', so erklärt Janet, 'die ursprünglich bestimmt war, auf die Erzeugung einer bestimmten Leistung verwendet zu. werden, unbenutzt bleibt, weil diese Leistung unmöglich geworden ist, so entstehen Ablenkungen, d.h. diese Kraft wird dadurch aufgebraucht, daß sie andere, nicht vorgesehene und nutzlose Erscheinungen erzeugt.' [2]

Sie entgleitet (so könnte man erläutern) der zielbewußten Leitung durch den Willen, läuft auseinander wie eine Flüssigkeit, die gehoben wurde, aber vor Erreichung der geplanten Hubhöhe zu Boden sank, und sucht bei diesem Auseinanderstieben die Wege geringsten Widerstandes, der leichtesten Bahnung auf.

Das Einzelne der Richtung, die sie nimmt, der besondere Inhalt der Zwangsvorstellungen oder -handlungen z:B. hängt dabei wohl zum großen Teil von persönlicher 'Zufälligkeit' ab, etwa davon, bei welcher Handlung zuerst der psychische Zukurzschuß entdeckt wurde.

Ein Beispiel: die Anstrengung, bei der ersten Kommunion voll und ganz zu 'realisieren', zur Wirklichkeit des Gefühls zu gelangen, mißlingt; man ist aber durch die Erziehung auf die Wichtigkeit gerade dieser Handlung vorbereitet worden und das Fehlschlagen ihrer Realisierung bestimmt religiöse Zweifel und Grübeleien auf lange Zeit hinaus.

Hauptsächlich nun an solcherlei Vorgänge, wie sie Janet durch den Begriff der Derivation zu deuten suchte, haben sich beträchtliche psychologische Auseinandersetzungen geknüpft, an denen auch die deutschen Pathologen sich vielfach beteiligten, wobei auch zwei für die Religionspsychologie besonders belangreiche Erscheinungen behandelt worden sind: die Angstzustände und die Zwangsvorgänge.

Bezüglich der ersteren ist uns die Entdeckung wichtig, die Freud und seine Schüler unter dem Namen der Angstneurose bekanntgemacht und mehr oder weniger auch zur Anerkennung gebracht haben.

Dieser Begriff behauptet den Ursprung von Angstzuständen aus Unterdrückung und Verdrängung geschlechtlicher Triebkräfte und Begehrlichkeiten. Die dafür gegebene genauere Deutung, daß nämlich 'die von der Psyche abgelenkte körperliche Geschlechtserregung sich 'subkortikal' [3] in durchaus inadäquaten Reaktionen verausgabe, [4] ist offenbar eng verwandt mit dem Begriff der Derivation: die Angst ist eine von ihrer normalen

[1] Vgl. Janet, Obs. I 514ff. 619f.
[2] aaO. 555.
[3] D.h. vermittelst Hirnzentren und -bahnen außerhalb der Rinde.
[4] So zit. Loewenfeld 468.


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Kap XIII. Theorie der Psychasthenie.         (S. 141)

Verwendung abgelenkte Libido. [1] Die Seele gerate soz. neurotisch in Angst, wenn sie ihre Unfähigkeit merkt, die innerlich entstandene Geschlechtserregung auszugleichen, wie sie in normale Angst gerät, wenn sie sich unfähig fühlt, eine von außen nahende Aufgabe - eine Gefahr - durch entsprechendes Handeln zu erledigen. [2]

Daß die Freud’sche Ableitung das ganze Gebiet der Angstzustände decke, ist mit guten Gründen bestritten worden. In manchen Fällen scheint eine besondere Erblichkeit für Angst gegeben zu sein. In andern sind die Ursachen augenscheinlich anstatt in unterdrückter Geschlechtlichkeit vielmehr in geschlechtlicher Ausschweifung zu finden.

Oder, wo eine Aufspeicherung von Geschlechtserregung wirklich gegeben scheint, fehlt doch die Ablenkung von der Psyche, die Verdrängung, deren Anzeichen nach Freud die Abnahme oder das Schwinden bewußter Libido ist: man findet also Angst zugleich mit Libido.

Ferner ist bekanntlich oft das Auftreten spezialisierter Angstzustände, der sog. Phobien, beliebig lange durch bloßes Vermeiden des besonderen Anlasses zu verhindern: z.B. durch Umgehen offener Plätze bei sog. Agoraphoben, geschlossener Räume bei sog. Klaustrophoben u. dgl. m. Endlich finden sich auch inhaltlose Angstzustände, wo eine geschlechtliche Begründung sich ausschließen läßt.

Sind aber somit auch andere Ursachen gegeben, so wird damit die Richtigkeit der Freud’schen Angaben in gewissen Grenzen nicht bestritten. Ja Loewenfeld, dem ich die vorgebrachten Einwände entnehme, gibt mit seiner eigenen physiologischen Theorie - Abfließen von Erregungsspannung aus den kortikalen Sexualzentren in subkortikale und kortikale Substrate der Angst - geradezu eine Umschreibung des Begriffs der Derivation.

Und jedenfalls haben für uns die angeführten Beobachtungen wie auch Theorien angesichts der Geschlechtsfeindlichkeit des mystischen Lebens eine naheliegende Bedeutsamkeit.

Aber vor allem in der Deutung der Zwangsvorgänge und Zwangsvorstellungen hat die neuere 'Tiefenpsychologie' den ganzen Spürsinn ihrer methodischen Denkweise geltend gemacht und damit auch offenbart, wieviel Gemeinsamkeit der Ursprünge und Grundverhältnisse die großen Neurosen verbindet.

Gewiß sind Ursachen allgemeiner Natur auch hier im Spiel, wie etwa Willensschwäche aus Erschöpfung überhaupt, die mit den sich aufdrängenden Inhalten, z.B. Sorgen, nicht 'fertig zu werden' vermag; oder assoziative Verknüpfung gewisser Vorstellungen mit physiologisch bedingten Organgefühlen oder Schmerzen, wodurch jene Vorstellungen Zwangscharakter erhalten; auch hat die einmal eingewurzelte Zwangsvorstellung entschieden die Neigung, ihren Charakter durch eine Art von Ansteckung auszubreiten, [3] indem sie sich z.B. verallgemeinert, oder im

[1] S. Freud, üb. d. Berechtigung... in NC XIV (1895) soff.; W. Strohmayer, Üb. d. ursächl. Bezieh. der Sex. zu Angst- und Zwangszuständen, in JPN XII 69ff.
[2] Vgl. hierzu Loewenfeld 468-72.
[3] Ausbreitung 'gleich einem Ölfleck': Janet, Obs. I 596f.


Kap XIII. Theorie der Psychasthenie.         (S. 142)

Gegenteil spezialisiert, oder auf erklärende oder gegensätzliche oder verwandte Vorstellungen den Zwangscharakter überträgt.

Tiefer schürfende Deutungen der Zwangsvorgänge dagegen verdanken wir der Psychanalyse, namentlich Freuds. Danach wäre die Zwangsvorstellung etwa der Ausdruck einer eigenartigen Abwehrbestrebung, indem z.B. eine sich aufdrängende peinliche Vorstellung oder ein verurteilter Trieb zur zwanghaften Beschäftigung mit möglichst abliegenden Vorstellungen oder Handlungen führt, z.B. zu Zwangsgrübeln über Probleme allgemeinster Natur, zu lebhaftem Vorstellen gewisser Phantasiebilder, zu zwanghaftem Zählen, zu den verschiedensten Ticks u. dgl.;

oder indem unerträgliche und darum verdrängte Vorstellungen sich von ihrem zugehörigen Gefühlston trennen und diesen an andere, ihrem Inhalt nach erträglichere Vorstellungen anhängen, die zu jenen in gewissen stellvertretenden, gleichsam symbolisierenden Beziehungen stehen. [1]

Der Zwangsvorgang würde hiernach gleichsam eine Schutzmaßnahme gegen die verurteilten Gedanken oder Handlungen darstellen: der Trieb zur Selbstbefleckung etwa oder zur ehelichen Untreue würde in gewisse an sich harmlose Zwangsbewegungen oder übersinnliche Grübeleien abgelenkt, auf die damit meist auch der peinliche Affekt des Zweifels und der Angst, der in der Abwehr wurzelt, übertragen wird. [2]

Die Verwandtschaft dieser Deutung mit derjenigen der Hysterie durch Freud springt in die Augen, und in der Tat stehen wir hier an einem Punkte, wo die Begriffe der Hysterie und der Psychasthenie ineinander überfließen und ihre Verwandtschaft bedeutsamer erscheint, als ihre Unterschiedenheit.

Einer der besten Kenner beider Krankheiten, Pierre Janet, weiß bezüglich ihrer theoretischen Unterscheidung schließlich nicht mehr anzuführen, als etwa dies: die Hysterischen charakterisieren sich durch das vollständige Abhandenkommen gewisser psychischer Tatsachen (Empfindungen, Erinnerungen, Bewegungsvorstellungen usw.) und die Übertreibung anderer:

Zwangshandlungen, Halluzinationen, die der Wirklichkeit gleichkommen, Zwangsvorstellungen. [3] In all diesem bestehe die hysterische Einengung des Bewußtseins. Der Psychasthenische dagegen zeige, statt dieser Art der Einengung, eine Abnahme des Bewußtseins in seiner Ganzheit.

Schließlich gebe aber diese allgemeine Herabstimmung, die nicht durch eine Einengung des Bewußtseinsfeldes ausgeglichen wird, ihnen ein viel stärkeres Gefühl der Unvollständigkeit, als in der Hysterie die Regel ist. Der Hysterische empfinde übertrieben stark in der einen oder anderen Richtung, der Psychasthenische in keiner. [4] Janet verrät die Verwandtschaft beider Krankheitsbilder aber auch praktisch durch

[1] Ein Beispiel bei Jung in JPN VII 22.
[2] S. den Fall bei Strohmayer, aaO. 94; vgl. Freud, Weitere Bemerk. üb. d. Abwehr-Neuropsychosen, NC XV (1896) 434ff.; eine Sonderanalyse solcher Übertragung s. bei Jung in JPN VII 18.
[3] Des convictions irrésistibles.
[4] Janet, Obs. I 67Sf. 734f.


Kap XIII. Theorie der Psychasthenie.         (S. 143)

das seltsame Schwanken, in das ihn die Frage ihrer Anwendbarkeit gerade auf religiöse Erfahrungen stürzt. Während er in früheren Arbeiten die Mystiker - denn nichts anderes wohl sollen seine extatiques sein - ohne Bedenken den Hysterischen zugeordnet hatte, gelangt er in seiner ausführlichen Behandlung der Psychasthenischen 'nicht ohne einiges Erstaunen' zu dem Schlusse, daß sie sich 'weit eher der Gruppe der scrupuleux anschließen lassen', und stellt eine Arbeit in Aussicht, die den Beweis dieser Behauptung führen soll [1] - aber meines Wissens bis heute nicht erschienen ist.

Die Freud’sche Schule vollends hat natürlich diese Beiordnung der Krankheitsbilder weit schärfer betont. C. G. Jung glaubt die obsedes, die zwangsvorstellungskranken Psychastheniker Janets, von Hysterischen nicht unterscheiden zu können und verweist sie, gleich den Hysterischen, ins Gebiet der Introversionspsychosen. [2]

Binswanger seinerseits findet Janets Krankheitsbild der Psychasthenischen auch in den milderen Formen der Hysterie wieder. [3] Und jedenfalls gibt es ja sehr zu denken, daß das Bewußtsein des seelischen 'Doppelt’-, also Gespaltenseins zu den gewöhnlichen Merkmalen des psychasthenischen Zustands gehört. [4]

Entsinnen wir uns endlich, daß auch die wichtigsten der religionspsychologisch bedeutsamen 'Geisteskrankheiten', die Paranoia und Demenz, nach den gleichen Grundbegriffen gedeutet wurden, [5] so erhalten wir eine leidlich einheitliche Formel des krankhaften Zustandes, der die augenscheinlichen Abnormitäten des krassem religiösen Lebens erklären soll:

jener Brüchigkeit der Seele, die bei gegebenem Anlaß ihren Zerfall in unterschiedliche Herde und Ströme herbeiführt; jener Möglichkeit zu selbständigem Leben verdrängter Komplexe und ihrer mannigfaltigen Maskierung und Vertretung im Bereiche der seelischen Oberfläche; jener Neigung zu unterbewußtem Treiben und Knospen und dadurch bewirkter Störung der normalen Anpassung an die Außenwelt, alles vielleicht auf dem Grunde einer Erschöpfung, eines Niedergangs der 'Spannung', einer Verflüssigung des seelischen Kitts. -

Ich wiederhole: die Verwandtschaft dieser Anschauungen mit den Begriffen einer Mehrheit von Energiezentren und des erwecklichen Komplexes, zu denen die Beobachtung der mystischen Entwicklung unmittelbar hinführte, läßt von vornherein eine gewisse Fruchtbarkeit der neueren Neurosenlehre für unsere Probleme erwarten;

zugleich aber entdecken wir in der hier beliebten Betonung der Geschlechtlichkeit, ihrer Verdrängung und Maskierung ein mögliches Moment der religiösen InhaItsdeutung, das wir bei dem vielempfundenen und -behaupteten Zusammenhang von Geschlechtlichkeit und Religiosität aufs genaueste werden erwägen müssen: stoßen

[1] aaO. 381 f.; weniger radikal das. 660; vgl. 676.
[2] Jung, Dementia 83 Anm. I; JPPF 1911 159 Anm. I.
[3] Binswanger 307ff.; vgl. 326ff.
[4] Näheres und Beispiele (auch von Moreau de Tours, Krishaber u. Séglas) bei Janet, Obs. I 312ft.
[5] S. bes. Jung, Dementia 78; Sidis, Suggestion c. XXV.


Kap XIII. Theorie der Psychasthenie.         (S. 144)

wir hier doch auf eine wirkliche Urkraft des Lebens, und ist doch Religion - was sie auch sonst noch sein mag - jedenfalls einer der Versuche, Leben zu erhalten und - vielleicht - zu steigern.

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