Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 144)

Diese besondere Inhaltsbeziehung werden wir nicht aus den Augen verlieren dürfen, wenn wir nunmehr daran gehen, die neugewonnenen pathologischen Deutungsbegriffe - selbst ja nur eine Ausgestaltung der schon anfangs hier eingeführten - auf einzelne Epochen der mystischen Entwicklung anzuwenden.

In aller Kürze will ich dabei zunächst auf die einleitenden Stufen dieser Entwicklung zurückgreifen, - die Zeiten innerer Zerfallenheit-mit-sich vor dem Eintritt erwecklicher Erfahrungen, die Zeiten der 'Sündenangst', des unbefriedigten Verlangens nach der 'Fülle neuen Lebens', - um zu fragen, ob die erweiterten Begriffe unserer früheren Deutung dieser Stufe etwas hinzuzufügen vermögen.

Daß die Psychologie des Sich-sündig-fühlens eine Lehre reizen muß, die sich auf den Begriff der Verdrängung stützt, liegt auf der Hand. In allgemeinster Weise dürfen wir ja jedenfalls die subjektive Erfahrung von 'Sünde' als eine Art des innerseelischen Druckes bezeichnen, einer Spannung zwischen der Vorstellung davon, was man ist oder tut oder getan hat, und der jenigen davon, was man sein, tun oder getan haben sollte; [1] eines 'Drängens' also von zwei Vorstellungsgruppen, von denen mindestens eine die andere zu verdrängen trachten muß.

Was uns aber hieran im Augenblick besonders fesselt, ist die Tatsache, daß sich die inneren Forderungen des gewissensgeängsteten 'Sünders' (wie wir wissen) hauptsächlich auf Unterdrückung der 'eigenen', 'niedern', 'fleischlichen' Natur richten.

Eben hier aber vermöchte die pathologische Deutung anzuknüpfen: offenbar sei unterdrückte oder ordnungswidrige Geschlechtlichkeit, wenn nicht bei allen, so doch bei vielen von denen anzunehmen, welche Zerknirschung und Reue als Zustand erfahren, und nicht als Einzelaffekt infolge einer Einzelhandlung.

Das Subjekt einer jener zahllosen 'Bekehrungen' der Pubertätsjahre stehe ja inmitten einer kritischen Entwicklung des Triebes, die sowohl mit mißbräuchlichen Verirrungen als auch mit inneren Gleichgewichtsverlusten verbunden sein dürfte.

Vollends das Subjekt einer religiösen Entwicklung höherer Art sei meist schon jener Verdrängung des Trieblebens unterworfen, auf der zwar ein großer Teil der menschlichen Kultur überhaupt beruht, die aber erst von den Offenbarungsreligionen mit besonderer Heftigkeit aufgegriffen, ja beinahe zu

[1] Dies Bewußtsein des Sollens wird als Bestandteil täglicher Erfahrung als jedem intuitiv verständlich vorausgesetzt.


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einem Selbstzweck erhoben worden ist. Daß solche Verdrängung aber, wie wir erfuhren, an sich zu Angst und angstverwandten Zuständen geneigt mache, ist das mindeste, was der Pathologe hier in Erinnerung bringt.

Mehr noch liegt ihm daran, die theologisch gefaßten Versündigungsvorstellungen, die den Reuekranken plagen, als Umdeutungen von Gewissensbissen zu verstehen, die sich ursprünglich auf weit konkretere und natürlichere Verfehlungen beziehen.

Dem Psychanalytiker von heute ist der Gedanke geläufig, daß verborgene Gewissensbisse über geschlechtliche Verirrungen irgendwelcher Art im Vordergrunde des Bewußtseins als unklares Versündigungsgefühl auftreten, als die Überzeugung, die 'Sünde wider den Heiligen Geist' begangen zu haben, zur Hölle verdammt, von der Gnadenwahl ausgeschlossen zu sein u.ä.m.

Dergleichen Maskierungen glaubte z.B. Pfarrer Pfister in dem Fall eines Sektierers erweisen zu können, bei dem eine innerliche Selbstanklage wegen regelwidrigen ehelichen Verkehrs einen leidenschaftlichen Hang zum Naturheilverfahren erzeugt - als Oberleitung der Gedanke:

"man muß alles normal treiben“ -, oder das Bedürfnis nach geschlechtlicher Ruhe (nach dem Tode der Frau) und nach späterer Wiederbefriedigung in einer zweiten Ehe sich zu starker Betonung der Lehren vom Schlaf der Toten und der Wiederkunft Christi 'sublimiert' hätte. [1] -

Wenige haben so ausdrücklich die Beschreibung der Erlösungsbedürftigkeit unter den Begriff der Angst gestellt, wie Kierkegaard, der von sich selbst bekannte, er sei von Kindheit an in der Gewalt einer ungeheuren Schwermut und seine einzige Freude die gewesen, daß niemand entdecken konnte, wie unglücklich er sich fühlte. Daß aber über Kierkegaards Geschlechtsleben ein unglücklicher Schatten lag, ist allgemein bekannt.

Ein beliebtes und sich geradezu aufdrängendes Beispiel für ähnliche Zusammenhänge bildet Luther, der ja wie wenige die Qualen des unerlösten Sünders erfahren hat. Bekannt sind die Angstzustände und Zwangsvorstellungen, die ihn von früher Kindheit auf verfolgten, unmittelbar anknüpfend an die Ängste und Verschüchterungen, die ihm der überheftige und trinkende Vater (kein Vermittler gesunden Erbguts!) verursachte.

Nach der Erlangung des Bakkalaureusgrades bietet er das Bild eines hoffnungslosen, unfrohen, menschenscheuen Melancholikers, der an seiner Seligkeit verzweifelt und versucht ist, Gott zu fluchen.

Die Anschauungen seiner Zeit lassen ihn vor diesen Qualen ins Kloster flüchten, und es kann nicht Wunder nehmen, daß die verschärften Anspannungen des Mönchslebens seinen Zustand verschlimmern. Luther selbst meinte später, er sei im Kloster um seines Leibes Gesundheit gekommen. [2] Die 'Anfechtungen' - er spricht von tentationes, tristitia, pusillanimitas, angustia circa pectus - verdoppeln sich.

Der Werkdienst des Mönches gibt den Skrupeln neue Nahrung; das Bildnis Christi flößt ihm Angst ein; bei der Messe bricht ihm der Angstschweiß aus; Ohnmächte, Weinkrämpfe beschließen die Anfälle. Sie sind so 'groß und höllisch,. .. daß deren Größe keine Zunge aussprechen, keine Feder beschreiben kann,. .. alsdann weiß man nicht aus noch ein. ..

In solchen Augenblicken kann die Seele nicht glauben, daß sie noch einmal erlöst werden könnte.' Er selbst kann sich der Erkenntnis nicht 

[1] Pfister 141f.
[2] WW (Er!. Ausg.) XLVIII 306.


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verschließen, daß der Teufel hier mehr Sünde erscheinen lasse, als wirklich da sei. [1] P. Smith, der hauptsächlich Freuds Begriffe auf Luthers Krankheit anwendet, [2] sieht ebenfalls die Hauptquelle seiner Qualen in der starken Geschlechtlichkeit des Mannes, gegen die er letzten Endes nicht angehen kann und der gegenüber er schließlich alle eigene Bemühung aufgibt und sich auf die 'Gnade' eines Andern wirft.

Daneben spielen bei Smith die in der Freud’schen Schule viel behandelten, hier gegen den gefürchteten Vater gerichteten geschlechtlichen Eifersuchtskomplexe eine Rolle, die sich in den bekannten zahllosen Erscheinungen des Teufels symbolisch verkleiden sollen, den Luther auf eine leidlich grobe Weise vertreibt (nämlich durch Zukehren des 'A--' und durch 'F--'), worin sich nach Smith zugleich eine kindliche Art, dem Vater Nichtachtung zu erweisen, und die Befriedigung eines primitiven Geschlechtsantriebes spiegeln soll. [3]

Man mag von solcher Einzelanwendung der Psychanalyse in Luthers Fall so gering denken, wie man will: daß hier eine erblich nicht makellose, dabei aber sinnlich gewaltige Natur unter der Knechtung von Erziehung und mönchischer Zucht bis zur Krankheit gelitten habe, wird heute kaum ein Vorurteilsloser bezweifeln. Selbst Hausrath urteilt, 'der letzte Grund der Schwermut' Luthers sei auch dem Staupitz 'unverständlich gewesen, weil er körperlich war'. [4]

Daß das bisher Angeführte einen Teilweg zu wahrer Einsicht andeutet, erscheint mir unbestreitbar; nur ist m. E. Vorsicht vor einseitigen Übertreibungen zu empfehlen. Wir dürfen nicht übersehen, daß selbst das völlig gesunde Subjekt durch Begehen persönlich verurteilter Handlungen in Zustände gebracht werden kann, die sich, außer dem Zusammenhang betrachtet, von neurotischen nicht unterscheiden lassen.

Man vergegenwärtige sich das Bild einer ruhe- und schlaflosen, angst- und qualvollen Reue über eine in heftiger Aufwallung verübte, nicht gutzumachende Untat. Und doch wird hier unter Umständen gerade die Stärke des zustande kommenden 'innern Druckes' ein Maß für die sittliche Gesundheit des Charakters abgeben; eine Gesundheit, die niemand zu bestreiten braucht, welcher Schule er auch angehöre.

Der Typ Mensch wird das Ideal der Wenigsten sein, der schlechterdings alles seelisch verdauen kann, weil er keinerlei letzte Wertungen hat (abgesehen eben von grenzenloser lchbetonung), auf Grund deren er gegebenenfalls mit sich selbst zerfallen könnte. Erst wo dergleichen Überlegungen nicht ausreichen, dürfen pathologische Erwägungen der Neurosenlehre ergänzend aufgerufen werden.

Dies scheint bei jenen Zuständen nötig zu werden, die unter dem Namen der geistlichen 'Nacht', der 'Dürre', Trockenheit oder Gottverlassenheit von so vielen Erfahrenen der mystischen Entwicklung beschrieben worden sind. Sie folgen zeitlich auf die Erfahrungen der Erweckung und ihrer ersten Ekstasen, stellen sich aber soweit als ein Rückfall in die

[1] Vgl. hierzu A. Hausrath, L.s Leben I; ders., L.s Bekehrung, in Neue Heidelberger Jahrb. 1896 163ff.; Dr. Berkhan, L.s Leiden, in APN XI 798ff.; M. Küchenmeister, L.s Krankengeschichte; K. Benrath, L. im Kloster (Halle 1905); Soury in L'encéphale 1884 Heft 4.
[2] Luthers early devel. in the light of Psychoanalysis, AJP XXIV (1913) 360ff.
[3] aaO. 365f.
[4] Hausrath, L.s Leben I 183. Vgl. auch Pfister 197f.


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Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 147)

Vor-Erweckungszeit der 'Gottferne' dar, daß sie mit Vorteil schon im augenblicklichen Zusammenhang erörtert werden dürften.

Diese Zustände der Dürre, ein anscheinend wesentlicher Bestandteil fast jedes bedeutenderen mystischen Lebens, wechseln mit den Zeiten ekstatischer Erhebung und überquellender Gottseligkeit ab, zu denen sie mit ihren Skrupeln, ihrer Glaubenslosigkeit und Gottverlassenheit, ihrer Unfähigkeit zu jedem Aufschwung den denkbar stärksten Gegensatz bilden.

Es ist diese gegenseitige Bezogenheit, woran die pathologische Deutung anknüpft und die uns sogleich an oben dargelegte Begriffe erinnert: in der Tat meinen wir in den reichlichen Schilderungen der Religiösen unschwer das klassische Bild der Psychasthenie wiederzuerkennen. - Auf dem Gebiete des Denklebens charakterisiert sich die Dürre der Mystiker durch eine quälende Unfähigkeit zu Aufmerksamkeit und Zusammenfassung, die bald durch Hemmungs-, bald durch Erregungsvorgänge gesetzt erscheint: Stillstand oder Flucht der Gedanken.

'Wenn ich', schreibt S. Teresa, 'dann etwa ein Buch in die Hand nehmen wollte, so verstand ich, obschon es in gemeiner Muttersprache geschrieben war, nicht mehr davon, als ob ich keinen Buchstaben hätte lesen können, weil der Verstand nicht dazu geschickt war.' Selbst im mündlichen Gebet verstand sie sich selber nicht. [1] -

'Die Bäche der Verstandestätigkeit sind so ausgetrocknet, daß man nicht imstande ist, irgendeinen Denkprozeß zu vollziehen; nicht einmal so viel bleibt übrig, um einen guten Gedanken von Gott zu fassen.' [2] 'In einer tiefen Geistesabwesenheit befangen, versagt das Gedächtnis häufig seinen Dienst, und lange Zeiten verstreichen, ohne daß man weiß, ob man dies oder jenes getan oder gedacht habe.

Ungeachtet aller Anstrengung könnte man den Geist nicht auf die augenblickliche Handlung, auf das, was einem obliegt, richten.' [3] Von solchen Zuständen sagt Maria Magdalena von Pazzi, 'sie wüßte nicht, ob sie noch eine vernünftige Kreatur wäre, oder nicht, sondern sie vermeinte vielmehr ein Stein oder dergleichen zu sein'. [4]

Anderseits wird eine zweck- und wertlose Übergeschäftigkeit des Vorstellungsablaufs mit gleicher Deutlichkeit angegeben.

'Der Verstand ist verwirrt und gleicht einem Wahnsinnigen, den niemand binden kann. Ich habe da über ihn nicht soviel Gewalt, daß ich ihn solange, als man das Symbolum hersagt, ruhig und still halten könnte.' [5] Diese Erregung nimmt dann häufig die Form des Zwangsvorstellens an.

'Die Nacht der Sinne verfinstert den Verstand', wie der scharfsinnige S. Johann vom Kreuze sagt, 'füllt ihn mit tausend Zweifeln, verstrickt das Urteil in tausend Schwierigkeiten, bis man schließlich in nichts mehr ein Genüge zu finden, noch sich auf jemandes Rat und Gefühl zu stützen vermag.'.[6] - Dieses Zwangsgrübeln erscheint dem Religiösen natürlich als Werk des Teufels. 'Der Versucher nimmt plötzlich den Verstand ein,

[1] S. Teresa IV Ilof.; vgl. I 276f.; vgl. Montmorand 39f. (üb. M. Olier).
[2] Molinos 20.
[3] S. Jean III 368 (N. 0., I. XI c. 8).
[4] David 80; vgl. Th. L. Harris, Arcana of Christianity (1867) § 100.
[5] S. Teresa I 279 (c. 30).
[6] S. Jean III 322  (N. 0., I, 14).


Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 148)

manchmal durch so geringfügige Dinge, über welche ich sonst nur lachen würde, und hält denselben auf, worin er will. Dann ist die Seele gleichsam in Ketten geschmiedet; sie kann über sich selbst keine Herrschaft ausüben, noch an etwas anderes denken, als nur an die ungereimten, unbedeutenden Dinge, die er ihr eingibt; sie vermag keinen Entschluß zu fassen und wird so geängstigt, daß sie sich gleichsam zu enge wird.' [1]

Schon damit ist das religiöse Leben zum Stillstand gekommen; denn diese 'Schwermut und Grübelei, worin die Seele .. über sich selbst nachgrübelt,' hindert die Versenkung in Gott, [2] das vorstellungslose Gebet. Sie zerstört zugleich die Beichte, jene gewohnheitsmäßige Reinigung des religiösen Innern, die dem Grübelsüchtigen natürlich zu einem verhängnisvollen Belebungsmittel seines Leidens werden muß.

In jener 'Nacht des Verstandes' quält man seine Beichtväter mit dem Verlangen nach häufiger Beichte, [3] und scheitert doch an den törichten Einfällen, die sich aufdrängen, oder an der Unfähigkeit, sich zu beobachten oder sich zu eröffnen, oder an der [eingebildeten] Furcht, den Hörer zu täuschen. [4]

Man beachte hier, als ein typisch psychasthenisches Merkmal, den Zwang zu einer Leistung, die dennoch nie zu Ende zu bringen ist: das quälende Besessensein von einem Bedürfnis, in dessen Befriedigung man aus dem Hundertsten ins Tausendste gerät, ohne sich je genugtun zu können. [5]

Aber aus keiner Form solcher Zwangsgedanken erwachsen dem Frommen größere Martern als aus jener, worin die Herabsetzung seines höchsten Selbst den Gegenstand des Zwanges bildet, eines Zwanges also zu gotteslästerlichen Bildern und Urteilen, zum Zweifel an den Geheimnissen des Glaubens, zu Spott und zu Leugnung.

In Zeiten, da die theologischen Begriffe noch zu den Selbstverständlichkeiten jedes Denkens gehörten, haben Personen von höchster und anerkannter Heiligkeit zeitweilig kaum der Versuchung widerstehen können, es laut herauszuschreien, 'daß kein Gott sei, noch ein anderes Leben'; haben 'mit leiblichen Ohren greuliche Lästerungen wider die göttliche Majestät und seinen Heiligen gehört und die Fürbitte ihrer Nächsten erfleht, daß sie nicht, anstatt Gott zu loben, ihn öffentlich verhöhnen möchten'. [6]

Aber erst die gleichzeitigen Hemmungen des Gefühls - und Willenslebens liefern das vollständige Jammerbild der religiösen Dürre. Sie ergreifen alles, was dem Frommen das Teuerste ist: seine Fähigkeit zum Aufschwung, zum Gebet, zur Liebe, zur Versenkung in Gott, zur Ekstase. [7] An die Stelle seiner starken und beseligenden Gefühle ist eine quälende

[1] s. Teresa I 275 (c. 30).
[2] Molinos 4.
[3] S, Jean III 269 (N. 0., I, 6).
[4] S. Teresa IV 110 (Mor. 6 c. I). Vgl. Molinos 75.
[5] Vgl. hierzu Janet, Obs. I 113ff. über les manies de l'au de là: de la précision, de la recherche, de la répétition, de la perfection etc.'
[6] David 66-68; vgl. S. Jean III 322 (N. 0., I, 14); Molinos 20. Eine Zusammenstellung von Bunyans glaubensfeindlichen Versuchungen z.B. bei J. Royce, Studies of Good and Evil (The case of J.B.) bes. 50ff. 64ff. Vgl. Fox, Autobiogr. 11.
[7] S. z.B. S. Teresa IV 112 (Mor. 6 c. I); vgl. S. Jean III 288 (N. 0., I, 9); Molinos 75 (Lektüre trostlos).


Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 149)

Gleichgültigkeit getreten, wenn nicht gar Trauer, Bedrücktheit, Müdigkeit, Ekel. Der Glaube ist verloren, [1] d.h. die religiösen Vorstellungen haben jene Spannung und Wärme eingebüßt, jene schwellende Erfülltheit durch Gefühl und Antrieb, die selbst den absonderlichsten Gebilden des Verstandes den Atem der Wirklichkeit einzublasen vermag.

Die frommen Werke der Liebe, in denen sich zuvor die Seele hingebend auslebte - Mildtätigkeit, Krankenpflege oder was sonst -, haben jeden 'Geschmack verloren'. [2]. Jede Geschicktheit zum Guten, jede tätige Tugend ist der 'Seele genommen' und selbst die Neigung dazu geschwunden. [3]

Dies entsteht teils aus dem Mangel eines Gefühls, dessen Glorienschein eine Zielvorstellung zum Motiv erheben könnte, teils - was ja im letzten Grunde auf dasselbe hinauskommt - aus dem allgemeinen Mangel an Drang und Spannung überhaupt: die Hemmung hat natürlich gleichzeitig auch den Willen ergriffen.

Wer in der Dürre steckt, ein Opfer von 'Kleinmut, Verwirrung und Erregtheit des Herzens', der findet in sich 'solch eine Kälte und Lässigkeit des Willens, Widerstand zu leisten, daß ein Strohhalm ein Balken scheinen kann'. [4]

Wie aber an die Stelle zielstrebigen Denkens der unbeherrschte Tanz der Vorstellungen tritt, so an die Stelle beherrschenden Wollens das unruhige Spiel der Launen. 'Hat man nicht seinen Willen, so grämt man sich wie ein Kind, schmollt und greint', [5] glaubt man doch noch immer ein Recht auf die himmlischen Tröstungen zu haben, die nun versiegt sind. [6]

An ihrer Stelle findet man, daß die innersten Feinde des Heiligungswillens, die vielleicht schon überwunden und abgestorben schienen, von neuem das Haupt erheben. Die 'Leidenschaft', die Sinnlichkeit, der 'alte Mensch' erwacht; die Neigung zum 'Fraß', vor allem aber das Geschlecht drängen wieder zum Licht, im Wachen und Traum, formen sich zu Bildern, selbst zu Halluzinationen. [7]

Und da natürlich für das sachliche Urteil Gut und Böse fortbestehen, so weiß sich der Leidende nunmehr als Verworfenen, und seine ohnehin lästige Neigung zu Schwermut und gedrückten Gefühlen läßt die Gelegenheit nicht unbenutzt, ihn auf 'Strömen der Bitternis' zur völligen Verzweiflung an sich und seiner Zukunft zu treiben.

Er erscheint sich 'selbst als das elendeste Geschöpf, als größter Sünder in der Welt, als der von Gott Verworfenste, aller Tugend beraubt und ledig', und dieser Glaube, 'Gott gänzlich verloren zu haben', ist ihm von allen 'die grausamste, schneidendste und bitterste Qual'. [8]

Und doch: es ist sehr charakteristisch und stimmt mit Beobachtungen an Psychasthenischen durchaus überein, daß diese neu erwachenden Versuchungen sich meist im Bereiche bloßer Vorstellungen halten, daß sie

[1] Molinos 75. 20f.
[2] Guyon, Opusc. 186 (Torr. I, 5, 14).
[3] Das. 221. 201 (Torr. I, 8, 4; I. 7. 21).
[4] Molinos 20.
[5] S. Jean III 268 (N.O., I, 6).
[6] Das. 269.
[7] David 72. 73; Labis 50. 51. 56; Guyon, Opusc. 182  (Torr. I, 6, 6).
[8] Molinos 73; vgl. S. Jean III 291 (N. 0., I, 10).


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Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 150)

überhaupt mehr den oben geschilderten Zwangsgedanken gleichen, denn als wirkliche sündhafte Triebe oder gar bösartige Zwangshandlungen auftreten.

'Ich hatte', schreibt Mme. Guyon, 'die Gefühle aller Sünden, ohne sie doch zu begehen... [Zwar] sobald ich das Glück oder die Schönheit eines Zustandes oder die Notwendigkeit einer Tugend sah, schien es mir, als fiele ich unablässig in das entgegengesetzte Laster:

alle meine Neigungen erwachten bei völliger Ohnmacht, ihnen entgegenzutreten; und doch war dies Erwachen nur ein scheinbares, denn: sobald ich [z.B.] Dinge aß, nach denen ich ein so heftiges Verlangen spürte, so fand ich keinen Geschmack mehr daran.' [1]

Ja häufig entspringt die Qual auch nur einem ganz allgemeinen und unbestimmten Versündigungswahn, [2] der sich durchaus nicht zu bestimmten Selbstvorwürfen verdichten läßt. [3] Bei aller Selbstverurteilung 'sah ich', schreibt Mme. Guyon, 'doch nichts Einzelnes, dessen ich mich hätte zeihen können'; [4] die Beichtiger haben denn auch reichlich zu tun gehabt, den Frömmsten diese Selbstanklage wegen nicht begangener Sünden auszureden. [5]

Indessen verschlimmert sich der Zustand der Dürre für den Betroffenen schließlich noch dadurch, daß die Hemmung des Gefühls auch auf die noch verfügbaren Erinnerungsbilder übergreift, so daß der Trost, der in der Vorstellung vergangener besserer Zeiten und in der Hoffnung auf künftige ähnliche liegen könnte, dem Leidenden versagt bleibt. [6]

S. Katharina von Siena, von der wir wissen, daß sie fünfzehn Jahre lang täglich wenigstens einmal auf eine Stunde oder länger in der 'Hölle' sich befand, war dann sogar außerstande, aus dem Umstande Trost zu schöpfen, daß auch 'gestern' die Qual vorübergegangen sei. [7]

Der Leidende meint denn auch wirklich, sein qualvoller Zustand müsse ewig dauern, [8] und es mag daraus jene Verzweiflung entstehen, die den Gedanken der Unsterblichkeit verwünscht, was selbst von einer so glühend Gläubigen wie S. Katharina von Siena berichtet wird.

Dies ist die Dürre, die mystische Nacht, der Tod der Seele, von dem in den Bekenntnissen der Heiligen soviel die Rede ist. [9] Daß damit nicht vorübergehende akute Krankheiten bezeichnet sind, beweist schon die nicht selten bedeutende Dauer dieses 'Sterbens', die für den Laien, der sich das Heiligenleben etwa als ein ununterbrochenes Jubilieren und Beten vorstellt, sehr überraschend sein mag.

Tatsächlich haben selbst die Ekstasefrohesten dieser Seligen oft Jahre in diesem Zustande zugebracht. Nicht jeder kam, wie S. Gregor, mit zwei Monaten ungewöhnlich leicht davon. Den Heiligen von Assisi hielten diese Teufel nach der Angabe des Molinos

[1] Vie I 224 (ch. 23 § 7f.); das. 225.
[2] une condamnation générale sagt Mme. Guyon.
[3] Z.B. das Abendmahl unwürdig genossen, gegen Gottes Willen ins Kloster gegangen zu sein u. dgl. m. - David 66. 70.
[4] Guyon, Vie I 25.
[5] Z.B. Labis 63.
[6] Molinos 20; S. Teresa IV 112; Deutsche Theol. 18.
[7] Vita S. Cather. Sien. c. XII (Görres II 286.287).
[8] S. Jean III 351 (N. 0., II, 6); Molinos 76.
[9] Zusammenhängende biograph. Darstell. der Dürre s. z.B. in Elsb. Stagels Leben Susos Kap. XXIII '(Suso 188); bei Chapot I 204-10; Reitz IV 148f.; Guyon, Vie I 200ff. 223ff. (ch. XXlff.); Leuret 330f. (Jeanne-des-Rochers). - Vgl. auch Suso 342ff. (Büchl. v. d. ewigen Weish. Kap. IX); S. Bernhard, In cant. serm. LIV; Münzer, bei Erbkam 515f.


Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 151)

zweieinhalb Jahre umklammert, die seI. Rosa von Peru ein Jahrfünft, Magdalena von Pazzi im ganzen 21 Jahre. Und Mme. Guyon, die selbst etwa 7 Jahre zu ihrem letzten 'Absterben' bedurfte, läßt diesen mystischen Tod in manchen Fällen gar eine Spanne von 20-30 Jahren währen. [1]

Aber dieser chronische Verlauf bildet nur eine weitere Übereinstimmung der Dürre mit jener Neurose, in welcher wir - der Leser wird es aus eigener Vergleichung geschlossen haben - jeden Zug der geistlichen Nacht wiederfinden. Auch in der Psychasthenie sind die akuten FäIle selten und zweifelhaft, sie ist in der 'ungeheuren Mehrzahl der FäIle' ein chronisches, durch Erblichkeit zu deutendes Leiden. [2]

Anderseits ist es zunächst natürlich nur mehr oder minder 'zufäIlig', wenn sich die Krankheitserscheinungen der profanen Psychasthenie gelegentlich auch an religiöse Inhalte heften, wiewohl dadurch zuweilen klinische Besserungen entstehen, deren Ähnlichkeit mit hagiologischen für den Laienblick etwas Verblüffendes hat. [3]

Für den modernen Psychologen aber ist jene Übereinstimmung der Merkmale die selbstverständliche Folge einer Übereinstimmung in den Leiden selbst: es gilt ihm als ausgemacht, daß die Mystiker, soweit sie solche Symptome darbieten, an Psychasthenie leiden.

Die maßvollste Form dieses Gedankens würde in dieser Psychasthenie der Mystiker ein ihnen nur 'zufällig' anhaftendes Sonderleiden erblicken, entstanden, wie so viele Psychasthenien, aus schlechter Erbschaft, aus Erschöpfung, durch irgendeine Krankheit, [4] oder - was uns näher liegt - durch die asketische Behandlung des Körpers.

Über die schwächenden Wirkungen der letzteren braucht ja kein Wort verloren zu werden; [5] und was das andere anlangt, so scheinen manche Angaben von Mystischen selber das seelische Elend als Folgeerscheinung gewisser Krankheiten aufzufassen.

S. Teresa meinte zu erkennen, daß ihre 'schwache Leibesgesundheit vieles beitrage' zu ihren Dürre-Leiden. [6]. Mme. Guyon erwähnt von einer ihrer ausführlich beschriebenen Dürren, daß sie zur Zeit in Umständen war, [7] wobei wir aus anderen Angaben wissen, daß ihre Schwangerschaften stets mit großen Schwächeanwandlungen, Schmerzen, Erbrechen usw. einhergingen. [8]

Zwar ist weder der gleichzeitige Eintritt von Schwangerschaft und Dürre zu ersehen, noch auch könnte eine Schwangerschaft für sich den jahrelangen Bestand der Dürre begründen. Aber wir wissen aus dem eigenen Munde der Frau von ihren häufigen schweren Krankheiten, z.B. ernsten Ernährungsstörungen, schweren Schwächeanwandlungen infolge chronischen Durchfalls, [9] sowie daß sie überhaupt schon als Kind von ärmlicher

[1] Guyon, Vie I 200; Opusc. 190 (Torr. 1, 7, 5).
[2] Janet, Obs. I 646.
[3] S. z.B. blasphemator. Zwangsvorstell: Janet, aaO. 10. 12. 116; Beicht- und Kommunionsskrupel: das. 19; allg. Versündigungsvorst.: daS.I23; Phobie in Verbindung mit jeder rel. Vorst.: 211; Unfähigkeit zu beten: 23; Lieblosigkeit gegenüber dem Nächsten: 24.
[4] Vgl. hierzu Janet, Obs. I 607-31.
[5] S. z.B. Vacandard I 231f.
[6] S. Teresa I 280 (c. 30); vgl. das. 91 f. (c. 11) und IV 55 (Mor. IV c. I: Witterungseinflüsse, Bewegungen der Körpersäfte). Vgl. auch Rogers 35. 39; Divine Cloud 135.
[7] Vie I c. XXIII § 11.
[8] Janet fand übrigens häufig Besserung der psychasth. Beschwerden während Schwangerschaft: Obs. I 649.
[9] Vie I 238. 241 (c. XXIV § 8; c. XXV § 3).


Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 152)

Gesundheit gewesen und als Kleine schon Gangrän an den Schenkeln, Fieber, Blutspeien u. a. gehabt. [1]

Aber über solche bescheiden äußerliche Einordnung der Dürre-Psychasthenie ins mystische Leben muß es den Pathologen reizen, hinauszugehen zu einer Deutung auch der positiven Erfahrungen der Mystiker, auch seiner reichen und glücklichen Flutzeiten, als psychasthenisch begründeter Vorgänge.

Es war die Entdeckung einer Ähnlichkeit auf diesem Gebiet, die Janet zum teilweisen Aufgeben seiner früheren hysteriologischen Deutung der Mystik überhaupt veranlaßte. [2] Diese Ähnlichkeit glaubte er in den von ihm als emotions sublimes bezeichneten Erfahrungen der Psychasthenischen zu finden.

Etwa der zehnte Teil seiner Patienten erlebte von Zeit zu Zeit 'eine außerordentliche Exaltation, die sie über ihre gewohnte Lage hinaushebt und ihnen auf einen Augenblick die Gefühle unaussprechlichen Glückes, die Empfindungen übermenschlicher Tätigkeit und vollständiger Intelligenz gibt.' Gs..., während er von der Höhe des Trocadero die Häuser von Paris betrachtet, wird von Begeisterung entflammt, hat Gefühle der Bewunderung und vergißt auf einen Augenblick sein ganzes Elend:

'All dies scheint mir zu schön, zu großartig, ich bin über mich selbst erhoben; für den Augenblick gewährt mir das ein außerordentliches Vergnügen, aber es erschöpft mich, meine Beine zittern und ich fürchte ohnmächtig hinzustürzen, außerstande, dieses Glück zu ertragen.' - Fy... ergeht sich auf dem Lande, fühlt sich von der frischen Luft wie berauscht, will vor Glück bersten, der Tag vergeht wie im Traum, die Zeit fliegt fünfzig mal so schnell als in der Stadt.

Alle Menschen erscheinen ihm gut, seelenverwandt, das goldene Zeitalter ist angebrochen... 'Ich, der ich den Mund nicht öffnen kann, wenn jemand zugegen ist, bin dann bereit, vor einer Versammlung zu reden.' -

Ein Dritter, Jean, wird von Zeit zu Zeit von ähnlichen Empfindungen ergriffen, wenn er von einer hohen und geistigen Beschäftigung träumt, die ihm wohl gefallen möchte, die aber im vollständigen Widerspruch zu seinem Charakter steht; z.B. wenn er träumt, daß er Abgeordneter sei und vor gefüllten Bänken eine große politische Rede halte.

Dann fühlt er einen kleinen Schauder über den ganzen Körper laufen,... sein Herz ruhig und langsam schlagen,... er reckt sich auf und geht mit großen Schritten und wichtigen Gebärden umher, sein Denken ist erregt, er versteht die Dinge und fühlt einen Durst zu lernen; endlich und vor allem: er hat ein Glücksgefühl, das er [sonst] nie empfindet.

'Dies sind göttliche Erfahrungen, die mir das Dasein der Seele im Leibe beweisen. [3] Endlich sei erwähnt, daß eine von Janets Kranken, Nadia, ihre emotions sublimes, wenn auch in unvollständiger Form, 'in Augenblicken ihrer Liebe zu einem großen Musiker' zu empfinden pflegte. Diese erhabenen Gefühle dauern (nach Janet) gewöhnlich nur kurze Zeit und werden fast immer von der Kranken teuer bezahlt.

Gs... verfällt sehr bald in eine schmerzliche Zwangsgrübelei über die unendliche Zahl der Häuser und fängt wieder an, mit seinen Fragen sich zu quälen. Fy... beschließt seine Idylle auf dem Lande mit einem kleinen Anfall mit Bewußtseinsverlust und Entweichen des Urins... Und beim armen

[1] Vie I 10f. 22f. Vgl. Molinos 29: Mattigkeit des Körpers, aufdringlicher Schlaf, melancholische Stimmung.
[2] Vgl. o. 143.
[3] Das. 380.


Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 153)

Jean wirft sich die Erregung auf die Geschlechtsteile und die unreinen Gedanken und alle Beängstigungen kehren schlimmer als je zurück. [1]

Man versteht sogleich, welcher Ausnutzung diese Berichte dienen sollen: der Beweis sei mit ihnen erbracht, daß die Psychasthenischen 'zum mindesten im Keime Anfälle von Ekstase haben', [2] daß also wohl auch die Ekstasen derjenigen, die darin über das Keimhafte hinausgehen, Begleitsymptome eines psychasthenischen Zustandes seien.

In der Tat ist ja ersichtlich, daß gewisse Merkmale der mystischen Ekstase, das Glücksgefühl z.B., die selbstlos-expansive Stimmung, in diesen Erregungszuständen 'keimhaft' wiederkehren.

Ich darf mir indessen wohl erlauben, die Deutung solcher Erlebnisse mit etwas größerer Allgemeinheit auszusprechen, als Janet in seinen bisherigen Werken Veranlassung hatte sie auszusprechen: der religiöse Zustand, sei es in der chronischen Form des Erlöst- oder Wiedergeborenseins, sei es in der akuten Form der Ekstase, entspringt stets einer 'willkürlichen oder unwillkürlichen Einengung des Bewußtseins' [3] als einem Mittel gegen die Störungen, die aus der seelischen Unterwertigkeit entstehen.

Die Wirkung des religiösen Heilmittels ließe sich durch jenes einfache quantitativ-dynamische Schema anschaulich machen, das dem einfacheren Begriff der Psychasthenie als einer bloßen Erschöpfungsneurose zugrunde gelegt wurde: dem Psychasthenischen stehe eine unzureichende Menge an 'psychischer Spannkraft' zur Verfügung:

gleichmäßig über sein ganzes 'psychisches Feld' verteilt, ergibt sie einen Zustand allgemeiner Schwäche; das 'Feld' im zeitlichen Sinn verstanden, ergibt sie also einen Dauerzustand der Unterwertigkeit; eine Annäherung an den gesunden Zustand oder gar eine Erhebung über diesen ist nur möglich durch zeitweilige Zusammenfassung eines Betrages an psychischer Kraft, der eigentlich einer größeren Zeitspanne hätte dienen sollen.

Der krampfhafte Aufstieg gelingt, aber erschöpft, weil er seine 'Umgebung' gleichsam drainiert; es folgt ihm also eine Spanne um so tieferer Kraftlosigkeit. Jeder der Kranken, an denen das Vorkommen von emotions sublimes aufgezeigt wurde, ließ diesen Rückschlag erkennen.

Es liegt nahe, in dieser Weise auch die Dürre der Mystiker in einen ursächlichen Zusammenhang mit ihren Ekstasen zu bringen, sie als den Rückschlag der Senkung aufzufassen, der ihren ekstatischen Erhebungen folgen muß. Der Mystiker wäre nicht nur ein Geschwächter, sondern auch vor allem ein in übermäßigen Ausschlägen Auf-und-nieder-Schwankender.

Schwäche bedingt ja oft die Neigung zur Ausschweifung, zum Krampf und Rausch, der die ungenügenden Mittel flüchtig zusammenrafft, um gleich darauf den Bankrott um so tiefer zu offenbaren. Auch den 'Zyklothymischen'

[1] Das. 381. Vgl. die ivresse émotionelle nach Féré 226ff., und allenfalls auch Th. Ziehen, über d. Affektstörung der 'Ergriffenheit' bei akuten Psychosen, in MPN X (1901) 310ff. Ähnlich Legrain, Le délire chez les dégénérés (Par. 1886) 124ff.
[2] Janet, Obs. I 382.
[3] Das. 661.


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Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 154)

der Irrenärzte wäre der Mystiker vergleichbar. Die gleichen erschöpfenden Ursachen, lehrt ja die Psychiatrie, die gleichen schmerzhaften Eindrücke, Enttäuschungen, Ausschweifungen im Trunk, in der Liebe oder Arbeit führen zu Manie nicht minder als zu Melancholie, und zu jener durch diese hindurch. [1]

Und dieser Vergleich würde auch darin stichhalten, daß die manische Periode bei solchen Kranken sich bekanntlich meist durch ein gewaltiges Anschwellen der selbstvergessenen und altruistisch-wohlwollenden Einstellung auszeichnet. [2]

Es begründet keinen stichhaltigen Einwand gegen diese Anschauung, daß die Mystiker so häufig mit großem Nachdruck ihren Ekstasen eine körper- und geiststärkende Wirkung zuschreiben. Teils handelt es sich nämlich bei diesen Angaben um Zustände der 'Ligatur', des mystischen Schlafes, der alle Muskel erschlaffen, die Sinne sich schließen läßt, das Denken anhält und die Seele mit Wonne erfüllt.

Daß dieser Zustand 'auch bei langer Dauer die Gesundheit nicht schwäche', vielmehr 'die Kräfte mehre und stärke', [3] darf bei seiner Verwandtschaft mit der Entspannung des normalen Schlafes am Ende nicht wundernehmen, und man mag die nachfolgende Erfrischung vielleicht mit jener vergleichen, die von schwächlichen Personen meist nach längerer Hypnose, selbst ohne alle Suggestion, empfunden wird.

Die alten Somnambulen behaupteten stets, daß eine kurze Zeit, im 'magnetischen Schlafe' verbracht, nachhaltiger stärke, als stundenlanger normaler Schlaf. - In andern Fällen wird die Stärkung Ekstasen zugeschrieben, die augenscheinlich auf dem gespannten Aufsteigen unterbewußter Vorstellungsgebilde beruhen: [4] der wohltuende Einfluß fällt dann offenbar unter psychologische Begriffe, die weit über unser einfaches quantitatives Schema hinausgehen. -

Auch die Stärkung, die von der Empfindung der 'Gegenwart Gottes' ausgeht - man fühlt sich kampffreudig, wie leicht berauscht, 'eine Empfindung großer Erquickung folgt nach' [5] -, dürfte nach dem, was über diese Erfahrungen früher gesagt wurde, in ähnlicher Weise zu erklären sein.

In andern Fällen ekstatischer Erlebnisse ist freilich die Verwandtschaft mit den echt psychasthenischen Gefühlsräuschen weniger leicht von der Hand zu weisen. So ist es häufig die Kommunion, die mit ihrem Freudenjubel den Mystischen in einem Maße 'sättigt' und stärkt, daß die Vorstellung von einer übernatürlichen Speisung entschuldbar erscheint, die selbst bei leiblich Schwachen freiwilliges Fasten aus 'Übersättigung' nach sich zieht. [6] Aber auch diesen Fällen gegenüber darf nicht übersehen

[1] G. Dumas, La joie et la tristesse (Par. 1900) 171f.
[2] Nicht immer, wie z.B. Mörchen erinnert (Psychol. d. Heiligkeit (Halle 1908) 20). S. Beispiele bei Dumas, aaO. 130. 139; Clouston, Clin. lect. on ment. dis., 6. Aufl., 156. Vgl. Godfernaux in RPh LIII (1902 I) 162. 164 über die oscillation constante du ton vital im mystischen Leben.
[3] S. Teresa I 148 (c. 18); 174 (c. 20).
[4] Visionen: das. 256 (co 28).
[5] Einer nennt die Wirkung so deutlich wie die von Tee oder Kaffee: Pratt 254. 257; vgl. 259 und Thorold 140f.
[6] Vgl. Görres I 375 (Rosa v. Lima); David 45.47; S. Teresa I 278 (c. 3).


Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 155)

werden, daß das dynamische Schema der Psychasthenie nicht einen sofortigen Rückfall nach der ekstatischen Erregung in die alte Schwäche fordert. Nach jenem Schema bedeutet die Ekstase eine zeitweilige Steigerung der synthetischen Leistungen; diese Steigerung mag längere Zeit anhalten und die Ekstase lediglich ihren Gipfelpunkt bilden.

Früher oder später freilich müßte die Rückwirkung einsetzen; es wird aber, soviel ich weiß, nie in den Berichten über kräftigende Nachwirkungen der Ekstase diesen ausdrücklich größere Dauer oder Ausbleiben jeden Rückfalles zugeschrieben. Mehr noch: sehr häufig gestehen die Ekstatischen ausdrücklich oder unwillkürlich zu, daß der religiöse Aufschwung eigentlich nur für die Dauer der Erregung ihnen Rettung von seelischem Elend bringe.

So preist Molinos das kontemplative Gebet, weil es - offenbar eben solange es dauert - 'von den Übertreibungen der Schwermut und Grübelei' entbindet, [1] und der Biograph der M. Magdalena von Pazzi, nachdem er einen regelrechten Erregungszustand inmitten 'Krankheit und Schwachheit' beschrieben, der in ein 'liebliches Rasen' übergeht, worin die Heilige ihre Bettsachen von sich wirft, ein Kruzifix umarmt und tränenüberströmt für alle Ungläubigen betet:

'0 Lieb, 0 Lieb nicht geliebt, noch erkannt!' - der Biograph muß gleich darauf bekennen, daß die Heilige, 'nachdem der Überfluß der Lieb sich geendet und sie wiederum zu sich selbsten kam, war sie so schwach und krank als zuvor, also daß sie ein anderer Mensch zu sein schien.' [2]

Selbst die beschönigende Beflissenheit der Hagiographie hat die Tatsache nicht zu verdecken vermocht, daß die göttlichen Erfahrungen dem Beobachter geradezu als die Ursache der Zerrüttung erschienen.

Es waren die inneren Flammen, die den Leib der hl. Katharina von Genua schwächten und ihr Gedächtnis versiegen ließen, und die starken Eindrücke der Gnade, mehr als ihre eigene Arbeit, warfen die Gesundheit der Maria von S. Teresa nieder. [3] Ja was schließlich mehr ist, das Zeugnis derer, die an sich selbst die fraglichen Zustandsfolgen wiederholt beobachten konnten, ist ebenso klar und ausdrücklich.

'Was meinen Körper anlangt,' sagt Marie de l'Incarnation nach einer Beschreibung ihrer Versenkung in Gott, bei der sie die süßen Qualen der mystischen Liebe genossen, 'so geht er aus diesem Gebetszustande mehr geschwächt hervor, als er durch die furchtbarsten Bußübungen hätte werden können.'

Und Mme. Guyon deutet an, daß wenigstens das Forcieren des geistlichen Genusses 'die Seele und ihre Liebeskraft erschöpfe und in umso hoffnungslosere und kraftlosere Zustände der Trockenheit versinken lasse; was sie besonders von Anfängern gesagt haben will'. [4]

                        Krankheit freilich bringt dir solcher Gotteszwang, singst wohl selbst dir, bald verzehrt, den Grabgesang. [5]

[1] Molinos 4f.; vgl. Guyon, Opusc. 167 (Torr. I, 5. 2.); Marg. Corton. 159; Pradel 56 (5. Vinzenz Ferrer).
[2] David 35.
[3] Lechner 119; vgl. Görres II 261 (Dominikus v. Jesu Maria); Phillips 86 (E. Roberts).
[4] Chapot I 91; Guyon, Opusc. 171. 175 (Torr. I, 5, 8f. 15). Vgl. die Traumhaftigkeit nach geistlicher Erregung: S. Teresa I 135 (c. 16); 174 (c. 20); Bougaud 240; Ruysbroeck 75; Lyonnard, not. biogr. § 11.
[5] Dschellal ed-din


Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 156)

Aber noch in einer andern Anwendung läßt sich die Formel unseres dynamischen Schemas aus den Erfahrungen des mystischen Lebens belegen. Im Bilde dieses Schemas gesprochen, muß nicht nur die zeitweilig geglückte Erhebung von einer umso größeren Erschöpfung gefolgt sein; auch der Versuch einer Erhebung, die mißlingt, kann oder muß dasselbe Ergebnis haben. [1] Und eben diesen Vorgang haben die Mystiker an sich beobachtet.

S. Alphonso Rodriguez, der nach mehreren Jahren ungetrübten geistlichen Glückes zehn Jahre der Dürre durchzumachen hatte, beobachtete, daß der allmorgendlich fällige Versuch zu beten seinen Körper alsbald mit Leiden und Schmerzen erfüllte.

'Je mehr ich mich versteifte und im Kampfe beharrte, desto mehr wuchs das Leiden; zu Beginn war ich auf den Knien; aber in der Folge ließ ich mich zur Erde fallen, wegen der Schwäche und des elenden Zustandes, in den ich geraten war.' [2] Auch Mme. Guyon beobachtete viele Jahre hindurch an sich, daß die großen Kirchenfeste, die ihr besonders lieb waren, ihr Zeiten besonderer innerer Verlassenheit bedeuteten, und daß sie sich am leersten und trockensten fühlte, wenn sie kommunizieren wollte. [3]

Trotz aller dieser offenbar möglichen Anwendungen des dynamischen Schemas der Psychasthenie auf das mystische Leben glaube ich, daß Janets Lehre, falls sie eine Gleichsetzung von Mystikern und Psychasthenischen bezweckt, nicht mehr enthalte als eine HaIbwahrheit, deren Grenzen nicht weniger wichtig sind, als sie selbst in diesen Grenzen sein mag; wobei ich einstweilen sogar voraussetzen will, daß die emotions sublimes der Psychasthenischen sich wirklich nach Art und Inhalt der mystischen Ekstase durchaus vergleichen lassen. -

Zunächst ist klar, daß Janets Anschauung zwar ein formales Schema gibt, aber natürlich keinen Höhen- und Wertmaßstab für die Vorgänge, die unter dieses Schema bezogen werden. Hebungen und Senkungen, Konzentration und Derivation können auf weit voneinander abliegenden Höhenlagen statthaben.

Mißlingen auf einer Höhenlage mag mitunter sogar bedeutsamere Ergebnisse liefern, als Gelingen auf einer anderen, wesentlich tieferen; wie die Trümmer großer Naturen zuweilen wertvoller sind als die Bauten der kleinen.

Ein gewisser Wellenrhythmus ist ja fast allen Leistungen des Lebens überhaupt eigen, und gerade Lebensabläufe von hoher geistiger Bedeutsamkeit, wie z.B. auch das geniale Schaffen, beherrscht er in besonderem Maße. - Sodann sagt natürlich der bloße Begriff der Wellenförmigkeit eines seelischen Ablaufs noch nichts über die zeitliche

[...] Rümi im Mesnevi, bei Tholuck 72. V gl. noch Noyes, Confessions 13; Chasle 97; Mystères 41; Suso 140f. (Leben c. III); Preger II 282 (Margar. Ebner); Starbuck 359; Erschöpfung nach der 'Bekehrung' des revival: Gibson 33. 38. 53. 57. 102. Vgl. James, Varieties 191 (über Bradley); in älterer Zeit schon bei Gregor d. Gr. betont: In Ezech. II 2, 12 (ERE IX 94).
[1] Vgl. profane Beispiele: Janet, Obs. I 241. 244. 282. 565f. 576.
[2] S. Alphonse Rodriguez 52. Ähnlich S. Teresa I 276; S. Jean II 196 (Sub. lI, 14); IlI 292 (N. O. I, 10).
[3] Vie I 202 (ch. XXI § 4).


Kap XIV. Mystisches Leben, Angstneurose und Psychasthenie.         (S. 157)

Spannweite der behaupteten Ausschläge: und in diesem Betracht bemerken wir einen immerhin bedeutsamen Unterschied zwischen den ekstatischen Erlebnissen der Psychastheniker und denen der Mystischen, in dem jene augenscheinlich nur seltene gelegentliche Unterbrechungen eines chronischen Krankheitszustandes bilden, während das ekstatische oder doch höchstgespannte Leben des Mystikers häufig als ein lange Zeit hindurch nicht unterbrochener Dauerzustand auftritt.

Mystiker berichten zwar, wie wir sahen, von Jahren der Dürre, und die in diesen auftretenden 'Gnadenerweisungen' gleichen in ihrem formalen Verhalten allerdings den 'erhabenen Stimmungen' der Psychasthenischen; sie berichten aber auch von monate- und jahrelangen Zeiten ungetrübten geistlichen Glückes, denen nicht nur jede Spur von Dürrebeschwerden gefehlt habe, sondern die mitunter so sehr das Gepräge dauernder geistlicher Exaltation tragen, daß der Vergleich mit den freilich ebenso ausdehnbaren vorübergehenden Besserungen der Psychasthenie sogleich wieder zur TeiIwahrheit wird.

So bezeugt der Biograph des Obr. Gardiner sieben Jahre geistlicher Seligkeit eines fast ununterbrochenen 'Himmels auf Erden', [1] und S. Alphonso Rodriguez erlebt 'acht bis zehn Jahre des gleichen Höhenschwungs'. - Endlich schließt auch die Wellenförmigkeit eines Ablaufs im Einzelnen nicht seine allmähliche Aufwärtsbewegung im Ganzen aus.

Gerade von den bedeutendsten Mystikern ist ein solcher allmählicher Aufstieg behauptet worden: die Depressionen entsprächen bei ihnen weder in Regelmäßigkeit noch in Ausschlagsweite den Erhebungen; einige Elemente der Erhebungen blieben vielmehr jedesmal als dauernder Charaktererwerb zurück; was nicht möglich wäre, wenn die Erhebungen bloße Überspannungen darstellten; ein letzter abschließender Zustand sei stets vom Charakter der Erhebungen: ganz expansiv, exaltiert und aktiv. [2]

Wir gelangen auf diesen Umwegen zu der Wahrheit, die freilich schon unmittelbare Beobachtung liefern konnte: daß zwischen den geschilderten Ekstasen der Psychasthenischen und den ähnlichen Erfahrungen der Mystiker die Unterschiede am Ende größer sind, als die Ähnlichkeiten.

In der Tat erscheint mir die Vergleichung der letzteren mit den Ekstasen der Hysterischen und dem Traumleben der Somnambulen und Medien weit näherliegend und natürlicher. Diesen gegenüber aber versagen wieder die engen Begriffe der reinen Erschöpfungsneurose durchaus, wie sie dem 'dynamischen Schema' schließlich allein zugrunde lagen.

Wir werden so ganz natürlich zu dem Versuch geführt, auch die mystische Dürre, den Gegensatz der Ekstase, soweit als möglich durch die reicheren und weit mehr psychologisch eingestellten Begriffe der Spaltungsneurose zu deuten.

[1] Doddridge 38; vgl. Delacroix 133.
[2] Vgl. W. E. Hocking, The meaning of mysticism as seen through its psychology, in Mind (new series) XXI (1902) 48; ders.: The meaning of God in hum. exper. (Lond. 1912) 392ff.; Flournoy, M. M. 175.

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