Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XII. Theorie der Hysterie     (S .128)

Befassen wir uns zunächst mit dem Krankheitsbilde der Hysterie, unabhängig von religiösen Parallelerscheinungen, so brauchen uns die allgemeinsten Angaben über ihre leidlich bekannten Merkmale nicht lange aufzuhalten. -

Unter die seelischen Erscheinungen des hysterischen Zustandes zählt die herkömmliche Psychiatrie gewisse Störungen im Zusammenhang und in der Folgerichtigkeit des Denkens; unentwickelte Wahnvorstellungen im Sinn einer unbestimmten Verfolgung, z.B. erotischen Inhalts;

Erinnerungsentstellungen; eine krankhafte, zu Überspannungen neigende Veränderung der Gefühlstöne und Stimmungen; Abneigungen und Hinneigungen in der übertriebenen Form der Idiosynkrasien; auf geschlechtlichem Gebiet abwechselnde Lüsternheit und Kälte; gelegentliche Halluzinationen; in schweren Fällen auch Dämmerzustände mit


Kap XII. Theorie der Hysterie     (S .129)

romanhafter Färbung der Sinnestäuschungen und nachfolgender teilweiser Erinnerungslosigkeit. Endlich erwachsen zuweilen auf dem Boden der Hysterie chronische Psychosen im Sinne der einfachen chronischen Paranoia. [1]

Was die körperlichen Merkmale anlangt, so kennt ein jeder die mannigfaltigen Über-, Unter- und Unempfindlichkeiten der hysterischen Sinne, einschließlich des Schmerz- und Geschlechtssinnes, [2] Sinnesstörungen von häufig örtlich strenger Umgrenzung - als halbseitige, oder fleckenhaft verteilte, oder 'manschettenförmige' -, ferner konzentrische Einengung des Gesichtsfeldes u.a.m., wozu sich noch sog. Parästhesien gesellen:

Empfindungen, die vom Sinnesgebiet des auslösenden Reizes abliegen oder doch zu diesem in keinem unmittelbaren qualitativen Verhältnis stehen. Nur zu erinnern brauche ich ferner an die hysterischen Lähmungen, meist auch von räumlicher Begrenzung, an die hysterischen Verkrümmungen (Kontrakturen), endlich an die Krampfanfälle und ihre häufige Auslösbarkeit und Unterdrückbarkeit vermittelst hysterischer 'Druckpunkte' oder 'hysterogener Zonen'. [3]

Diese Krampfanfälle sind bekanntlich zuweilen klonischer oder tetanischer Art (d.h. sie bestehen mehr in Zuckungen oder aber dauernder Zusammenziehung gewisser Muskelgruppen); oder sie arten, in schweren Fällen, in allgemeine und anhaltende Krampfbewegungen aus (Clownismus); [4] oder sie verdichten sich zu bestimmten ausdrucksvollen KörpersteIlungen, den attitudes passionées der Franzosen.

Vor allem - und dies geht den ReIigionspsychologen besonders an - finden wir im Bilde der Hysterie auch den körperlich-seelischen Zustand der 'Ekstase' in einer Mannigfaltigkeit von Formen. In ihr tritt die hysterische Unempfindlichkeit der Sinne mehr oder weniger akut und umfassend auf, und an die Stelle der verloren gegangenen äußeren Welt tritt die der 'subjektiven' Vorstellungen - nicht selten stark verengt und bis zur Halluzination gesteigert - und einer sie umwogenden heftigen Gefühlsflut.

Auch hier leiten mildere Formen - des bloßen träumerischen Dämmerzustandes, der Verschleierung der Welt, der bloßen Gehemmtheit der Bewegungen [5] - zu den mehr entwickelten über. Dabei scheint mit der Tiefe der Sinnenabkehr von der Außenwelt, die meist von krampfhaftem Verharren in bestimmten Stellungen begleitet ist, die Intensität des innern Schauens und Fühlens zuzunehmen.

Zugleich steht die KörpersteIlung meist im Zusammenhang mit den Vorstellungen. Die Bilder, die uns die Hysteriologen von dieser entwickelten Ekstase liefern, gleichen zuweilen denen der hagiologischen in einer Weise, die für unsere Betrachtungen sehr lehrreich sein müßte.

[1] Vgl. Th. Ziehen, Psychiatrie (Berl. 1894) 243f.; über Vorherrschen verinnerlicht-phantastischer Apperzeption, gesteigerte Intensität der reproduktiven Erlebnisse bei Hysterischen s. Hellpach 286f. 289.
[2] Näheres bei Binswanger 238f.
[3] Näheres bei Richer 30ff.
[4] Richer 69ff.
[5] Vgl. Sollier I 265-9.


Kap XII. Theorie der Hysterie     (S .130)

Eine von Janet beschriebene Kranke hatte die Überzeugung, daß sie im Begriff stehe, zum Himmel aufzufahren, und glaubte mit der Erde nur unter fortwährender Anstrengung in Berührung bleiben zu können. Sie stand und ging dementsprechend krampfhaft und ununterbrochen auf den Zehenspitzen.

Zu gewissen Zeiten nun wurden, nach Janets Auffassung, gewisse für gewöhnlich unterbewußte religiöse Vorstellungen bewußt, mehr noch: sie beherrschten und füllten das Bewußtsein bis zum Ausschluß jeder andern Vorstellung, so daß die Kranke, meist in kataleptischer Erstarrung oder nur passiv bewegbar, mit ausgebreiteten Armen auf den Spitzen stehend, längere oder kürzere Zeit hindurch in der seligen Anschauung ihrer phantastischen Bilder verharrte.

Und doch war die Abschließung der Sinne in diesem Falle keine völlige. Madeleine 'fühlt Dinge, die man ihr in die Hand legt; sie hört; und wenn sie dazu gebracht wird, die Augen zu öffnen, so sieht sie auch.' Im übrigen werden ihre Bewegungen durch den Gang ihrer Vorstellungen bestimmt, so daß sie z.B. zeitweilig Gebetsstellung einnimmt, aufsteht, sich niederlegt, die Arme ausbreitet u. dgl. m.

Diese Vorstellungen sind religiöser Natur: sie sieht z.B. den Heiland oder die Muttergottes. Und manchmal nehmen ihre Gedanken und Gesichte einen noch höheren Flug.

'Ich verstehe,' sagt sie z.B. (denn sie kann nicht nur während der Ekstase reden, sondern sich auch nachträglich an die Vorgänge derselben erinnern), 'ich verstehe das Dogma von der Dreieinigkeit und von der unbefleckten Empfängnis; denn ich sehe und fühle es...

Gott erscheint vor meinen Augen wie eine himmlische Sonne. Unbeschreiblichen Glanz erblicke ich; eine Sonne folgt der andern, immer leuchtender und schöner; es ist ein wahrer Abgrund von Licht, blendender als die Sonne, strahlender als Diamant - und eine Stimme sagt mir: So läßt mich Gott etwas von seiner Glorie, vom Glanze des Himmels sehen.' [1]

Neben der zunehmenden Fixierung der ekstatischen Körperhaltung bemerkt man eine zunehmende Einschränkung der Atmung, des Pulses, der Ausscheidungsvorgänge. Die Gliedmaßen sind häufig merklich abgekühlt, der Kopf dagegen stark blutgefüllt. [2] Im tiefem Trans - wie man wohl sagt - erscheinen dagegen alle Körperverrichtungen nahezu oder völlig erloschen.

Der Kataleptische gleicht dann häufig dem Toten, indem kein Puls und Herzschlag und keine Regung der Atemmuskeln an ihm wahrzunehmen ist, der Körper starr und kalt, alle Reflexe erloschen sind.

Und doch ist das bewußte Leben in solchen 'leblosen' Körpern häufig völlig erhalten, indem das Subjekt hört, sieht, fühlt, denkt; oder aber alle Wahrnehmungen sind völlig erloschen, dafür aber, wie in Janets Falle, ein lebhaftes Innenleben anscheinend 'halluzinatorischer' Art von blendender Helligkeit und außerordentlichem Überschwang der Gefühle eingetreten; oder endlich es läßt sich weder durch unmittelbare Feststellungen während des Trans, noch nachträglich durch die Erinnerung ein seelisches Leben während desselben feststellen. [3]

[1] BIPI I No. 3 (Une Extatique).
[2] Richer 211; T. E. Clarke, Trance and Catalepsy, in Quart. Journ. of psychol. Med. et med. Jurispr. III (1869) 652f.
[3] Weitere Beispiele: Richer 216ff.; Sollier I 265ff.


Kap XII. Theorie der Hysterie     (S .131)

Das Besondere der körperlichen Erscheinungen der Hysterie liegt nun darin, daß sie nicht, wie die 'echten' Sinnesausfälle, Lähmungen, Verkrümmungen und Krämpfe, durch Veränderungen in den nächsten physiologischen Unterlagen, den Nervenzentren und -strängen, Sinnesorganen und Muskeln entstehen, sondern weiter zurück bis zu mehr 'zentralen', oder sagen wir geradezu 'seelischen' Ursachen zurückverfolgt werden können.

Die Hysterischen haben - dies bezeichnet ein Kenner geradezu als ihr beherrschendes Kennzeichen - neben der Übererregbarkeit des Gefühlslebens und der Übermäßigkeit seines Ausdrucks einen übergroßen Trieb, seelisch Erlebtes zu 'realisieren', auch physiologisch zu realisieren. [1]

Um ein Beispiel zu geben, verweise ich auf eine 12jährige Kranke Gorodichzes, die so 'suggestibel' ist, daß eine unvorsichtige Äußerung über Lähmung in ihrer Gegenwart sogleich die Unfähigkeit zu stehen und zu gehen (Astasie und Abasie), eine andere über zu starken Fleischgenuß nicht nur völlige Nahrungsverweigerung, sondern auch Zusammenziehung der Speiseröhre, die irrtümliche Diagnose eines Spitzenkatarrhs sogleich Husten und Blutspucken hervorruft. [2]

Suchen wir unter dem reichlichen Dutzend von Theorien der Hysterie, die sich anbieten, [3] nur die namhaftesten zu einem kurzen Überblick heranzuziehen, so lassen sich alsbald solche, die mehr von physiologischen Gesichtspunkten ausgehen, von andern unterscheiden, die sich mehr psychologisch einstellen.

Unter jenen wäre Solliers Vorstellung von einem teilweisen Lähmungsschlaf (engourdissement) des Gehirns zu nennen, der vor allem die hysterischen Ausfälle der Empfindung, der Bewegung, der Erinnerungen erklären soll, deren Ausfallen in streng biographischer Schichtung Sollier an seinen Kranken nachzuweisen sucht.

Die Hysterischen unterscheiden sich ihm also nur dem Grad nach von Schlafwandelnden; je mehr die Hysterischen 'schlafen', desto mehr sei deshalb ihr natürlicher Schlaf unterdrückt.

Und eine Bestätigung dieser Anschauung erblickt Sollier auch in den Heilerfolgen, die er durch sein Verfahren des 'Aufweckens' erzielt habe, bestehend in starker Erregung der schlafenden Hirnteile durch 'Befehle oder örtliche Einwirkung auf diese Zentren'.

Das Erwachen der hysterisch schlafenden Hirnteile sei dann auch von bestimmten charakteristischen Empfindungen begleitet: Fadenziehen, Kribbeln, Entladungsgefühlen, Kälte, An- und Abschwellungen u.a.m. [4]

Der hysterische 'Anfall' anderseits führe genau, auch der Reihenfolge nach, alle Bewegungsreaktionen vor, die das allgemeine Erwachen der Empfindungsfähigkeit begleiten, sei also wohl ein Anzeichen zeitweiliger Wiedererregung der hysterisch schlafenden Gebiete. -

Erst wenn nicht nur die 'organischen' Teile des Gehirns vom hysterischen Schlaf ergriffen würden, sondern auch das

[1] 'Psycho-physische' Disproportionalität als Grundphänomen der Hysterie: Hellpach, z.B. 76. 320.
[2] In RH X 152-4; ref. in ZH IV 178.
[3] Hellpach. - Nach 'jahrhundertelangen Bemühungen' 'keine auch nur einigermaßen befriedigende... Lösung’ des Rätsels dieses 'Schmerzenskindes der Nervenpathologie': Binswanger I.
[4] Fadenziehen, Kribbeln, Entladungen, Kälte, Flüsse, Verschiebungen usw.: Sollier I 53.62. 130f.
[5] Das. 149. 254f.


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Kap XII. Theorie der Hysterie     (S .132)

'psychische Gehirn' (welches Sollier natürlich in der Stirngegend sucht), treten geistige Störungen auf. [1] Diese Störungen seien meist die zuletzt zu heilenden, indem nach Wiederherstellung der Körperempfindlichkeit auch die Eigenempfindlichkeit des Gehirns erweckt werde.

Diese 'Erweckung beginne mit einer Rückversetzung des Subjekts in eine mehr oder weniger vergangene Epoche seines Lebens und lasse es in ihrem Fortschreiten 'nach und nach alle seine Erinnerungen, alle Abschnitte seines Lebens noch einmal durchlaufen', bis die Ankunft in der Gegenwart im ganzen Körper neue 'verallgemeinerte' Reaktionen mit sich bringe, die schließlich in das völlige Erwachen der Gesamtpersönlichkeit übergehen. [2]

Dieser Theorie hat man nicht ohne Berechtigung vorgeworfen, [3] daß der Begriff schlafender Hirnteile über unbestimmte Voraussetzungen ('Erfindungen') und anfechtbare Gleichnisse nicht hinausgelange.

Läßt man selbst die angenommenen 'Hirnteile' gelten, so bleibt die Frage nach Ursache und Art ihres zeitweiligen 'Einschlafens' doch brennend. In der jetzigen Fassung der Theorie scheinen überdies gewisse unabweisbare Schlußfolgerungen ihr Schwierigkeiten zu machen. Je mehr die hysterische Schlafhemmung um sich greife, desto mehr, sagt Sollier, verringere sich das Schlafbedürfnis; seien alle Hirngebiete gelähmt, so herrsche voller Vigilambulismus (d. i. Somnambulismus). [4]

Die Tatsache, daß man doch eher Koma erwarten sollte, ein völliges Aufhören alles Seelenlebens, einen Tiefschlaf aller Fähigkeiten, scheint zu jener Umprägung des Begriffes des engourdissement zu zwingen, die eben die gleich zu besprechenden psychologischen Theorien vornehmen.

Als vollends schlagender Einwand gegen Solliers Theorie erscheint mir aber die Beobachtung eines andern französischen Hysterieforschers, daß Eindrücke, welche die hysterisch-unempfindlichen Gebiete treffen, nicht völlig verloren gehen (wie es gegenüber 'schlafenden' Organen der Fall sein müßte), sondern außerhalb des erhaltenen Bewußtseinsumfangs aufgenommen, aufbewahrt und verarbeitet werden.

Pierre Janet erwies dies teils durch Versuche, welche jene 'nicht-bewußten' Gebiete zur Äußerung brachten - durch automatische Zeichen, Schriften u. dgl. -, teils durch die tatsächlich vollzogene Wiederverknüpfung aller von jenen 'nicht-bewußten' Gebieten gemachten Erfahrungen mit dem persönlichen Gedächtnis, durch die Heilung der Hysterie.

Diese erwies sich ihm damit als eine krankhafte Sondererscheinung der seelischen Spaltungen und Zerklüftungen, von denen oben ausführlich gesprochen wurde, bedingt, wie Janet es ausdrückt, durch eine Schwäche - eine misere psychologique- des Organs, einen Mangel an Kraft zu alles umfassender Synthese. [5] Die

[1] Das. z.B. 473ff.
[2] Das. 489f. Über Solliers physiol. Standpunkt nicht wesentlich hinaus gelangt Binswanger 9. 13f. (Ablehnung getrennter Funktionen und unterbew. Vorstellungen.) Etwas feinere Fassungen ähnlicher Begriffe bei O. Vogt ('partielles systematisches Wachsein' einiger, Schlafhemmung der übrigen assoziativen Systeme).
[3] Hellpach 18.
[4] Sollier I 38.
[5] Janet, Etat; Aut. u. sonst. Janet spricht von einem retrécissement du champ de conscience durch désaggrégation infolge von insuffisance cérébrale.


Kap XII. Theorie der Hysterie     (S .133)

teilweisen Empfindungsausfälle und Lähmungen der Hysterischen deuten natürlich nach dieser Anschauung erst recht nicht auf wirkliche Störungen nächstbeteiligter nervöser Elemente - können doch diese vielmehr auch im hysterischen Zustande selbständige Lebenszeichen von sich geben -;

vielmehr auf eine Unterbrechung der Verknüpfung dieser psycho-physischen Elemente mit anderen, vor allem mit den physiologischen Grundlagen der bewußten Persönlichkeit; die seelischen Ausfälle (der Erinnerung, des Urteils usw.) aber würden ihrerseits durch die Störungen der Sinnesgebiete bedingt.

(Ob man hierbei den abgespaltenen Bezirken eigene Bewußtseinserlebnisse zuschreiben will oder nicht, ist eine Frage von zweiter Wichtigkeit für die Theorie, so wichtig sie auch vom philosophischen Gesichtspunkt aus sein mag.) Endlich kann eine Lähmung auch durch eine zentrale Anästhesie gesetzt sein, indem der Ausfall des Sinnesgebiets auch die Erinnerungen der Bewegungsvorstellungen unzulänglich und damit die Bewegung unmöglich macht. [1]

Daß diese Theorie, von wesentlich stärkerer psychologischer Einstellung, beträchtliche Einsichten erschließt, ist unbestreitbar. Die erhobenen Einwendungen [2] beschäftigen sich denn auch nicht so sehr mit der Tatsache der funktionellen Spaltungen, als mit dem Begriff der 'psychischen Schwäche' als Grundlage jener Spaltungen, indem sie eine - freilich selbst wieder erst zu erklärende - 'Anlage' zu seelischer Spaltung für das Erstgegebene, die psychische Schwäche aber für ihr Erzeugnis halten, das gelegentlich sogar fehlen könne; andernfalls wäre durch die Theorie nicht so sehr die Hysterie, als vielmehr die Neurasthenie erklärt und ein Unterschied beider nicht mehr zu entdecken. [3]

Wie dem auch sei: es ist klar, daß eine solche Problemlage die Aufforderung zur Beschreitung ausgesprochen psychologischer Deutungswege enthalten mußte, und die Freud’sche Theorie der Abspaltung infolge seelischer 'Verdrängung' hat dies mit einem Nachdruck und einer Fülle beziehungsreicher Andeutungen getan, die dieser Betrachtungsweise der rätselhaften Seelenkrankheit die umfassendste Wirksamkeit verbürgen. [4]

Suchen wir die Anschauungen des Meisters und seiner bedeutendsten Schüler kurz zusammenfassend zu bezeichnen, so scheint mir der Nachdruck etwa auf folgendes fallen zu müssen: Alle neurotischen, also in erster Linie auch hysterischen Krankheitserscheinungen entstammen der Unterdrückung - 'Verdrängung' - eines Luststrebens (Libido), das sich ausleben will, aber von einer innerseelischen 'Zensur' daran gehindert wird. Meist - nach Freud selber stets - ist dieses Luststreben

[1] Janet, Aut. 347.
[2] Z.B. von Möbius und Hellpach.
[3] Ich bitte das letztere im Auge zu behalten.
[4] Ich bespreche nur stärkst ausgearbeitete typische Theorien, übergehe also weniger durchgeführte oder sich anlehnende Gedankengänge (Möbius, Bernheim, Babinski, Breuer, Jung, Myers, Gurney, Sidis, Prince u. a.).
[5] Freud in MPN XVIII (1905) 461; dagegen u. a. Hellpach 369ff.; L. Franck in JPN XIX 305f.


Kap XII. Theorie der Hysterie     (S .134)

ein erotisches im engen Wortsinn, das von der Zensur verdammt wird, entweder aus allgemeiner (anerzogener oder angeborener) Schamhaftigkeit, oder weil es in irgendeinem Sinne pervers oder ungeheuerlich erscheint, oder weil die äußern Lebensumstände seine Erfüllung verbieten.

Die ersteren Gründe sind die häufigeren, weil offenbar unmittelbar in der Natur des Neurotikers selber angelegten. Sie hängen überdies auch unter sich zusammen, sofern beide im beherrschenden Wesenszug des Neurotikers verwurzelt sind: seinem Hängenbleiben im Kindheitszustande oder seiner Sehnsucht nach diesem zurück.

Die erotische Anlage des Kindes nämlich [1] ist eine vielgestaltige (polymorphe), auf sehr verschiedene Gegenstände sich richtende, und erwartet erst von der Entwicklung im Verlauf des Lebens eine größere Vereindeutigung.

Insonderheit aber wendet sie sich im frühen Beginn ihrer Äußerung, d.h. schon in den ersten Kindheitsjahren, fast immer an die Eltern oder dieselben gleichsam vertretende Personen, d.h. meist an den andersgeschlechtigen Teil des Elternpaares, welcher die aktiven und passiven Ansprüche auf Zärtlichkeit zu erfüllen hat.

Die Kehrseite dieser einseitigen Liebesansprüche sind Eifersuchtsregungen gegen den andern Teil des Elternpaares, die sich bei der moralfreien Ursprünglichkeit des Kindes leicht bis zu Tötungswünschen und -phantasien fortspinnen: dem berühmt gewordenen 'Ödipuskomplex' des neurotischen Mannes bzw. dem 'Elektrakomplex' des neurotischen Weibes, wobei die DoppeIgeschlechtigkeit des Kindes natürlich auch den Ödipuskomplex bei Mädchen, und umgekehrt, ermöglicht. [2]

Von diesen ursprünglichen Haftstellen der frühesten Libido also, die dem Kinde eine hemmungslos-sprudelnde, wohlig-warme Quelle der Lust bedeuten, fällt es dem Neurotiker schwer sich zu lösen, um in die schwierigere, kämpfereichere Geschlechtsbetätigung des wirklichen Lebens überzugehen: dieser innere 'Infantilismus', diese 'Regression' der Libido ist der eigentliche Ausdruck seiner 'Introversion': der Nachinnenkehr seiner Lebenszielrichtung, der Abkehr von der Welt.

Nie gewährt ihm das Leben draußen so leichten Liebeserfolg, wie dem Kinde bei Mutter oder Vater; hieran bricht sich der Neurotiker und treibt zurück in Phantasie und Sehnsucht und damit in den Widerstreit von Traum, unbewußtem Wunsch und Wirklichkeit. -

Es war Freuds ursprüngliche Annahme gewesen, genährt durch Angaben seiner Kranken selbst, daß ein frühes 'Sexualtrauma', d.h. eine schwere seelische Verletzung auf geschlechtlichem Gebiet, etwa ein Versuch der Vergewaltigung oder eine überraschende und erschreckende Beobachtung geschlechtlicher Vorgänge der Ursprungspunkt jeder Hysterie sei. Verschärfte Beobachtung offenbarte bald, daß diese angeblichen Traumen fast immer nur in Phantasien

[1] Diese Frühzeitigkeit ist großenteils eine Entdeckung der Freudschen Schule.
[2] Für erweiterte Fassung dieses Inzestkomplexes als bloß regressiver Phantasiebildung: Jung, Versuche. Darstell. d. psychoanaI. Theorie, JPPF V (I) 384.


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Kap XII. Theorie der Hysterie     (S .135)

der Kranken bestanden, also bloß auf Gehörtes und Gesehenes zurückgingen. [1] Immerhin blieb bestehen, daß diese Phantasien ihrerseits der Ausdruck von Introversion seien, d.h. einer Wunscherfüllung lediglich durch Traum und Phantasie.

Fand sich aber, daß ein bestimmtes Erlebnis der Anlaß der Neurose war, so fiel diesem nur die Rolle zu, die bestehende FehleinsteIlung der Seele zu offenbaren und gleichsam zu kristallisieren, die Krankheit also nur auszulösen, nicht zu schaffen. Oder, wie Jung es einmal ausdrückt: Im spätern Verlauf einer Neurose arbeiten zufälliges Erleben und Regression auf dem Wege des circulus vitiosus zusammen. [2]

Die Einzeldeutung der hysterischen Krankheitsmerkmale gewinnt dann die Theorie durch eine Reihe besonderer Begriffe, von denen der wichtigste derjenige der Konversion [3] sein dürfte, d.h. etwa: der Umsetzung des verdrängten Inhaltes in Symptome, die ihn 'symbolisieren' oder in sonst einem mittelbaren vorstellungsmäßigen Zusammenhang mit ihm stehen.

So übersetzt sich z.B. ein während des Essens entstandener, aber unterdrückter schmerzlicher Affekt zunächst in Übelkeit und Erbrechen, welches als hysterisches Erbrechen etwa monatelang andauert; oder das zufällige 'Einschlafen' eines Armes während eines angsterfüllten Dämmerzustandes bewirkt eine Parese (unvollkommene Lähmung) dieses Armes mit Zusammenziehung und Empfindungslosigkeit; oder das zufällige Einfallen eines englischen Kindergebets in einer angst- und qualvollen Stunde übersetzt sich in längere Erinnerungslosigkeit für die deutsche Muttersprache, während deren die Kranke nur englisch sprechen und schreiben kann. [4]

Oder es werden z.B. hysterische Schmerzen 'autosuggestiv' erzeugt, um bei der Umgebung gewisse Erfolge zu erzielen, [5] – offenbar ein Verfahren, das dem Infantilismus der Hysterischen vorzüglich entspricht. - Alle solche Fälle zeigen leicht durchschaubare assoziative Zusammenhänge zwischen Anlaß und Symptom.

Dagegen ist deren Zusammenhang ein soz. symbolischer, 'wenn etwa zu seelischen Schmerzen sich eine Neuralgie gesellt, oder Erbrechen zu dem Affekt moralischen Ekels.' [6]

Auf eine noch andere mittelbare Art des Zusammenhangs deutet Freuds Beobachtung, daß ein bestimmter überstarker Gedankenzug des Neurotikers, der sich für die Denkarbeit als unauflöslich erweist, seine zwingende Kraft von einem unbewußten verdrängten Gedanken beziehen könne, der sein gerades GegenteiI darstellt: denn die Verdrängung ist 'häufig in der Weise bewerkstelligt worden, daß der Gegensatz des zu verdrängenden Gedankens übermäßig gestärkt wurde'. [7]

In Form von 'Anfällen' aber treten die hysterischen Symptome dann hervor, wenn der verdrängte Komplex durch

[1] Vgl. Bertschingers Beobachtung in JPPF III 98f.
[2] Jung, Versuch... aaO. 395.
[3] Breuer u. Freud 158f.
[4] S. den Fall bei Breuer u. Freud 2.
[5]) Jung, aaO. 378. Ähnl. Funktion der hyst. Anfälle nach Freud, JPPF II 31.
[6] Das. 3.
[7] Reaktionsverstärkung: Freud in MPN XVIII 419.


Kap XII. Theorie der Hysterie     (S .136)

eine Anknüpfung des bewußten Lebens (assoziativ) 'angespielt' wird; oder rein organisch dann, wenn die Libido keine Abfuhr findet. [1]

Eine Bestätigung des Wahrheitsgehaltes ihrer Theorien haben Freud und seine Schüler darin erblickt, daß die hysterischen Symptome zum Schwinden gebracht werden können, wenn die ins Außerbewußte verdrängten Wurzelvorstellungen und -gefühle durch die' Analyse' ins Licht des Bewußtseins gehoben und dort gewissermaßen zum 'Abreagieren' durch Aussprache gebracht werden.

Die verdrängten Inhalte müssen dem Kranken etwa als harmlos, 'natürlich' oder verzeihlich ausgeredet werden, was ihre Entspannung und damit das Absterben der Symptome bewirkt, in denen sich die unausgeglichenen Spannungen aussprachen.

Oder es muß eine Überleitung der verdrängten Wünsche auf. aussichtsreichere Gegenstände versucht werden. Die Bindung der Libido an die Eltern z.B. läßt sich während der Behandlung zunächst auf den Arzt und auf diesem Wege auf die wirkliche Welt übertragen. [2]


Zeigen die aufgestellten Theorien der Hysterie nun auch eitle beträchtliche Spannung von rein physiologischen bis zu rein psychologischen Gesichtspunkten, so ist ihnen doch allen die Umgehung einer ins Letzte dringenden Auseinandersetzung mit dem psycho-physischen Problem gemeinsam: der Frage nach Sinn und Wirkung des Bewußtseins innerhalb seiner sog. materiellen Grundlagen.

Daß dem hysterischen Zustande objektive physiologische Veränderungen entsprechen, erscheint unleugbar. (Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Tatsache der 'paradoxen' Reaktion der Hirngefäße, die sich bei Hysterischen wie bei allen Erschöpften feststellen läßt, wonach geistige Arbeit eine Abnahme des Hirnumfangs bewirkt, anstatt, wie bei Gesunden, eine Zunahme; [3] oder auf die Behauptung Solliers, daß jeder Empfindungslosigkeit eines Gliedes oder Organes ein Schmerzpunkt in unmittelbarer Nähe des funktionellen Hirnzentrums des betreffenden Gliedes oder Organes entspreche, der dann auch gleichzeitig mit jener Empfindungslosigkeit schwinde. [4] 

Anderseits drängen sich, wie wir sahen, Tatsachen auf, die sowohl für die Entstehung wie für die Heilung der Krankheit rein 'seelische' Bedingtheit zu erweisen scheinen. Bezüglich der letzteren hat selbst Sollier bekennen müssen, daß sein 'Erweckungsmittel', neben wenigen physiologischen Maßnahmen, [5] vor allem ein psychisches sei, nämlich der einfache wiederholte 'Befehl' zu erwachen, [6] in älteren und hartnäckigen Fällen unterstützt durch den rätselvollen Zustand der Hypnose [7] oder durch die

[1] JPPF 11 31. - über somatisches 'Entgegenkommen" normaler oder krankhafter Organvorgänge s. Freud, MPN XVIII 409.
[2] Jung, Versuch... JPPF V (I) 406.
[3] E. Weber, ref. in JPN XVII (1910-1) 173.
[4] Sollier I 71. 478 ('in unmittelbarer Nähe' - au niveau).
[5] Z.B. Duschen, Massage, passive Bewegungen, Faradisierung (I 25).
[6] I 9 und oft.
[7] I 25. 154.


Kap XII. Theorie der Hysterie     (S .137)

Lenkung der 'Aufmerksamkeit' auf die unempfindlichen Körperteile. Binswanger, der das Wesen der 'hysterischen Veränderung' in krankhaften Verschiebungen der Hirnrinden-'Dynamik' sucht, in 'Störungen des Gleichgewichtes zwischen den erregenden und hemmenden Vorgängen innerhalb der Zentralnervensubstanz', teilt ihr doch - als Unterscheidungsmerkmal von Neurasthenie und Epilepsie - die hohe Beeinflußbarkeit aller nervenbedingten Vorgänge [1] durch psychische Einwirkungen zu:

Diese Suggestibilität sei bei der Hysterie begründet durch die Störungen, die der normale Parallelismus zwischen den materiellen Hirnrindenprozessen und den psychischen Vorgängen erlitten habe. [2]

'Auf der einen Seite fallen für bestimmte Reihen materieller Rindenerregungen die psychischen Parallelprozesse aus oder werden nur unvollständig durch jene geweckt; auf der andern Seite entspricht einer materiellen Rindenerregung ein Übermaß psychischer Leistung, das die verschiedenartigsten Rückwirkungen auf die gesamten Innervationsvorgänge, die in der Rinde entstehen oder von ihr beherrscht werden, hervorruft.' [3]

Diese Sätze scheinen mir die Lage der Theorie dem 'Schmerzenskinde der Nervenpathologie' gegenüber nicht übel zu bezeichnen. Denn welchen Sinn wohl sollte man ihnen beilegen, wenn nicht diesen, daß Neurasthenie und Epilepsie rein physiologische Erkrankungen seien, deren Theorie die Lehre vom psychophysischen Parallelismus unangetastet lasse, die Hysterie dagegen eine teilweise seelische Krankheit, die zu einer dualistischen Anschauung zwinge?

Ich merke hier dieses Bekenntnis bloß an, das sich seiner Tragweite vielleicht selbst nicht ganz bewußt ist, um später darauf zurückgreifen zu können, und fasse inzwischen die angeführten Begriffe ihrer allgemeinsten Bedeutung nach folgendermaßen zusammen:

Die hysterische Anlage entsteht aus der normalen durch Störung des funktionellen Gleichgewichts aller Teile. Die Einheitlichkeit des Gesamtzusammenhangs ist verletzt, eine funktionelle Zerklüftung des Baues eingetreten oder angelegt.

Die Teile arbeiten nicht mehr im Einklang mit der obersten verbindenden Instanz, vielmehr entstehen Sonderherde seelischer Wucherungen von wechselnder Ausdehnungsfähigkeit. Aus diesem Tatbestand ergibt sich dann wohl auch jene formale Verschrobenheit, [4] jene scheinbare Disproportionalität zwischen Reiz und Wirkung, Vorstellung und Gefühl, von der oben die Rede war.

Die Hysterie ist also im allgemeinsten Sinne ein Sonderfall der seelischen Spaltungsvorgänge und aufs engste verwandt mit den Erscheinungen der doppelten oder mehrfachen Persönlichkeit. Ja die Beobachtungen über diese letzteren betreffen in manchen Fällen augenscheinlich 'Hysterische', und umgekehrt. [5] Wir begreifen demnach schon hier, daß die Neurosenlehre

[1] Innervationsvorgänge.
[2] S. Ref. in ZPPS XXXVII (1905) 466ff.
[3] Binswanger 15.
[4] 'Ataxie der Lebensgeister' war schon eine ganz alte Begriffsbestimmung der Hysterie (Hellpach 11).
[5] Vgl. z.B. Janets Lucie, Leonie u.a.; die Angaben Louyer-Villermays bei Richter 149; die Beobachtungen über Sichdoppeltfühlen Hysterischer: Sollier I 500; ders., Autosc. 20. 


Kap XII. Theorie der Hysterie     (S .138)

mindestens eine natürliche Verwandtschaft mit der Deutung des mystischen Entwicklungsganges habe, die ja nach den früheren Ausführungen durchaus auf der Anerkennung einer Mehrheit seelischer Herde beruhen muß.

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