Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 43)

Wir haben jetzt die Erfahrungen des mystischen Lebens wenigstens in einer ihrer Entwicklungslinien bis zum Abschluß verfolgt: nämlich von der lchförmigkeit bis zur angeblichen Gottförmigkeit des Willens, und die alte Frage drängt sich um so gebieterischer auf, was es denn sei, das in steigendem Maße hier hervortritt, sei es, daß die Entichung es erzeuge, oder daß sie es bloß entbinde.

Und sodann: wie mit diesem Inhalt jenes wechselseitige Verhältnis zusammenhänge, vermöge dessen die Abnahme oder Zunahme des einen Wesens das Wachstum oder die Schwächung des andern bedingt.

Es könnte freilich scheinen, die Antwort sei schon gegeben. Denn haben wir es in den erwecklichen Erfahrungen nicht angeblich mit Vorgängen zu tun, die sich in gerader Linie aus dem Kampf des Altruismus gegen den Egoismus entwickeln; die das angestrengte Überwiegen des ersteren in unwillkürliches Überwuchern steigern?

Gibt es aber etwas banal Durchschaubareres, als Eigensucht oder Güte, oder selbst den Glauben an einen Gott, welcher Güte und Hingabe fordert? Und kann etwas selbstverständlicher sein, als daß diese bei den wesentlich entgegengesetzten Einstellungen in jedem Augenblick soz. in einem Schaukelverhältnis gegenseitiger Ausschließung stehen? Ich glaube wohl, daß die Antwort auch im bisher Gesagten schon vorbereitet sei (und wie hätte es wohl anders sein können?), aber eben nur vorbereitet.

Denn vorausgesetzt auch die Wesensverwandtschaft des vorerwecklichen Strebens und der erwecklichen Gnadenerlebnisse: begreifen wir damit schon die ungeheuere Gewaltsamkeit dieser Einbrüche und ihrer verwandelnden Wirkungen? Ist uns die sinnenhafte Erlebnisglut dieser Ekstasen damit schon verständlich?

Nicht zu reden von den Gesichten, den angeblich metaphysischen Einsichten, den Erfahrungen der unmittelbaren Nähe und Heiligkeit Gottes, die doch allem vorher Erlebten gegenüber etwas durchaus Neues und noch Unverstandenes zu bedeuten scheinen.

Ist es dieses Neue, was die gesunde Diesseitigkeit der moralischen Regungen zur radikalen Jenseitigkeit verfälscht, wie durch eine äußerlich hinzutretende Krankheit? Oder sollen wir den Spieß umdrehen und die Frage stellen, ob nicht die gesteigerte Ekstatik der mystischen Liebe uns über die eigentliche Natur jener 'gesunden moralischen Regungen' aufkläre?

Wie man sieht, sind infolge der inneren Verbundenheit, in welcher die Stufen des mystischen Weges sich darstellen, die Fragen eher vermehrt, als vermindert. Das Hervorwachsen der großen Gnadenerfahrungen und ihrer gesteigerten Jenseitigkeit aus den soviel banaleren Anstrengungen des Frommen ist durchaus ein Problem. Immerhin könnte man nach dem eben Gesagten versuchen (und hat es auch versucht), die Außerordentlichkeit der späteren Stufen des mystischen Weges nicht so sehr durch neue Inhaltseigentümlichkeiten, als durch neue formale Verhältnisse, durch dynamische Be-


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 44)

sonderheiten in der Auswirkung der schon vorher wirksamen Inhalte zu erklären: das gewaltsam Hereinbrechende der Gnadenerfahrungen käme etwa daher, daß seelische Tendenzen außerhalb des bewußten Ich unter Druck gehalten worden seien und nun mit einem Male diesen Druck überwinden. Gerade daß jene Erfahrungen Wandlungsrucke seien, erkläre somit ihre sonderbar explosiven Begleiterscheinungen, und etwa auch die scheinbare Neuartigkeit ihrer Inhalte.

Für den Psychologen von heute kann es keinen Augenblick fraglich sein, welche Beobachtungen und Begriffe geeignet sind, dieses Unterdrucksetzen und nachfolgende Explodieren seinem Verständnis näher zu bringen.

Die weiten Forschungsgebiete des sog. Außer- und Unterbewußten haben ihm einen so großen Zuwachs an Einsichten gerade in die sonderbareren, gewaltsameren, vollends die krankhaft anmutenden Arten des Erlebens gebracht, daß der Versuch ihrer Anwendung auch auf die 'krasseren' religiösen Erfahrungen von vornherein eine Vorahnung bedeutender Einsichten wecken mußte.

Gegenüber einem älteren Bewußtseinsintellektualismus haben diese erweiterten Anschauungen die tiefe und ständige Abhängigkeit verstehen gelehrt, in welcher die bewußten Vorgänge gegenüber ihren zahllosen Verwurzelungen im Nichtbewußten, im Nichtklarbewußten, im Außerbewußten sich befinden. An jedem Wahrnehmen läßt die heutige Psychologie 'unbewußte Schlüsse' oder 'Urteile' beteiligt sein, die auf langsam aufgespeicherte Erfahrungen zurückgehen.

In zahllosen bewußten Urteilen und Schlüssen verbergen sich ihr Mittelglieder, die nicht als solche zum Bewußtsein kommen und deren Verborgensein das Endergebnis wie im Sprunge erhascht erscheinen läßt, während in Wahrheit der Gedanke - tauchergleich, wie ein moderner Psychologe sagt - nur eben eine Strecke weit unter der Oberfläche sich fortbewegt hat.

An allem Bemerken und Meinen, an allem Werten, Fühlen und Handeln beteiligen sich die unabsehbaren Massen versunkenen, doch nicht toten seelischen Besitzes. Aber mehr noch: wir haben begriffen, daß diese Massen des Außerbewußten nicht bloß den Boden abgeben, von dessen Säften sich das Gewächs am Lichte der Sonne nährt; vielmehr, daß jene Massen selbst ein beständig Lebendes, Wachsendes

und sich Umgestaltendes sind; daß die Welle des Erlebens, die wir so oft im Lichte des klaren Bewußtseins erglitzern sehen, auch ebensogut in den unterirdischen Kanälen fortströmen kann, die den ganzen Bau unserer Seele durchziehen; daß sie nicht nur eine Geschichte hinter sich hat, wenn sie aus den QuellIöchern des Bodens ans Tageslicht dringt, sondern auch in jenen verschütteten Gegenden selbständige Ströme bilden kann, die dennoch unabtrennbar zum Ganzen der Flutbewegung gehören, die wir - leichtsinnig genug - als Individuum bezeichnen.

Der Bau unserer Seele ist demnach nicht die Ebene, als die er manchen unserer wissenschaftlichen Vorfahren galt, sondern ein Bau von mehrfachen Stockwerken; ein Leben von mehrschichtigem, geteiltem, gespaltenem Verlauf.


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 45)

Es sind augenscheinlich die zuletzt bezeichneten Betätigungsweisen des Außerbewußten, die für unser Problem einer abgesonderten, Ich-fernen Reifung des geistlichen Energiezentrums besonders große Hoffnungen in sich tragen, und ich beabsichtige daher soz. einen Stollen der Tatsachenbeschreibung zunächst in diese Tiefen vorzutreiben, und zwar, nachdem sein Bau einmal begonnen, sogar weiter, als dem Leser auf den ersten Blick notwendig erscheinen dürfte; ich verspreche ihm, daß das zutage Geförderte uns nachträglich reichen Nutzen bringen wird.

Bei der Schilderung dieser Mehrstöckigkeit des Seelenlebens können wir von gewissen leicht beobachtbaren Spaltungen der Leistung ausgehen.

Wer, in einer bestimmten Tätigkeit begriffen, dabei abgelenkt wird, fährt oft in jener Tätigkeit halb mechanisch fort. Der 'zerstreute' Leser z.B. - der Ausdruck ist psychologisch fein -, der mit seinen Gedanken 'wo anders' ist, kann unter Umständen bei späterer Besinnung noch manches von dem 'unbewußt' Gelesenen für die Erinnerung retten: das soz. am Rande des geistigen Sehfeldes Aufgenommene läßt sich nachträglich noch in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit rücken.[1]

Auch kann diese zufällig entdeckte Fähigkeit gleichzeitiger Doppelleistung durch Übung etwa zu einer willkürlich verwendeten gesteigert werden: der routinierte Korrektor unterhält sich bei der Durchsicht des Satzes mit seinem Nachbar; der Vorleser hängt beim Lesen seinen Gedanken nach; ein Anderer lernt es, während lebhafter Debatte große Zahlenreihen schnell und richtig zusammenzuzählen.[2]

Sogar eine gewisse Selbständigkeit wird man jenen Leistungen des Bewußtseinsrandes vielleicht zugestehen. Es kommt vor, daß ein Zerstreuter, der ein vermeintlich wertloses Stück Papier zerreißen oder verbrennen will, seine Finger rätselhaft angehalten fühlt und erst durch diese seltsame Lähmung darauf aufmerksam wird, daß er etwa Banknoten in der Hand hält. [3]

Oder jemand fühlt beim Schreiben mit der Maschine plötzlich große Schwierigkeit, eine bestimmte Taste zu drücken, sieht darum näher zu und 'bemerkt' erst jetzt, daß sein Finger auf einer falschen Taste lag, die übrigens nicht schwerer, als alle anderen geht.

Die 'Randzone', die hier vermutlich 'das Nichtwahrgenommene wahrnahm', rief offenbar auch die Hemmung hervor. Die gegenseitige 'Nähe' solcher gleichzeitiger Doppeltätigkeit und ihre Zugehörigkeit zu einem Bewußtseinsfelde wird zunächst wohl danach geschätzt werden, ob nachträgliche Erinnerung an die eine seitens des Subjektes der andern möglich ist.

(Der Zerstreute z.B. kann sich später auf das in der Zerstreutheit Getane besinnen.) Häufig fehlt diese Möglichkeit, und dies Fehlen zeigt eine wachsende gegenseitige 'Ferne' der 'Bewußtseinslagen' oder -phasen an, in denen einerseits die vergessenen, anderseits die erinnerten Handlungen vor

[1]  S. die ergötzlichen Beispiele bei Jastrow 316f.
[2]  M. Dessoir, Das Doppel-Ich (Lpz. 1890). 3. Arithmetische Wunderkinder unterhalten sich lebhaft während erstaunlich schneller Lösung schwieriger Rechenaufgaben: E. W. Scripture in AJP IV 54.
[3]  Ein solcher Fall, von Mrs. E. K. Elliot berichtet, Pr VIII 344f.
[4] Als ständige Erfahrung berichtet von Mrs. A. W. Verrall, einer Beobachterin ersten Ranges, Pr XI 191. Ein eigenes Beispiel wirklicher Gleichzeitigkeit zweier Leistungen gibt R. Tischner, Einf. in den Okkultismus... (Münch. 1921) 33.


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Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 46)

sich gingen; und mit dieser Ferne wachsen zugleich die Grenzen der Zusammengesetztheit, die der zweiten Handlung gesteckt sind.

Solche gegenseitig ferne, disparate Zustände sind z.B. Wachen und Hypnose, und tatsächlich sind verwickelte gleichzeitige Leistungen häufig im Rahmen des hypnotischen Versuches beobachtet worden.

Edmund Gurney, ein Bahnbrecher auf diesem Gebiete, gab seinen Versuchspersonen im hypnotischen Schlaf arithmetische Summen auf, weckte sie sofort und nahm alsbald ihre Aufmerksamkeit völlig in Anspruch, indem er sie laut lesen oder rückwärts zählen ließ, etwa noch mit Überspringen jeder zweiten Zahl; während dessen schrieb die rechte Hand, den Blicken der Versuchsperson entzogen, die Summe nieder, und es ließ sich feststellen, daß das Subjekt sich des Schreibens und des Geschriebenen so wenig bewußt war, als der Vorgänge in der Hypnose überhaupt. [1]

Dies ist schon beinahe was man einen posthypnotisch (also im Wachen nach Beendigung der Hypnose) ausgeführten Befehl genannt hat. Die Ausführung solcher Befehle auf ein bestimmtes Signal hin kann man nun wohl meist dadurch erklären, daß der Befehl eben eine Assoziation zwischen den Vorstellungen des Signals und der aufgegebenen Handlung geschaffen hat, die eben wirksam wird und zur Handlung führt, sobald das Signal von außen gegeben wird.

Schwieriger aber ist die Deutung schon, wenn die Auffassung des Signals als solchen gewisse geistige Leistungen voraussetzt, wie etwa ein Zählen und Rechnen; wenn die Handlung z.B. erst 'beim so– und sovielten Händeklatschen' ausgeführt werden soll (von welchem Zählen das wache Bewußtsein doch nichts spürt) oder 'am soundsovielten Tage um soundsoviel Uhr' oder 'nach soundsoviel tausend Minuten', wobei das 'Ausrechnen' der Aufgabe durch sofortiges Wecken anscheinend dem Außerbewußten und doch Bewußtseinsgleichzeitigen aufgezwungen wird. [2]

In einer Reihe solcher Versuche gab Dr. T. W. Mitchell seiner Somnambulen F. D. in der Hypnose den Befehl, bei der späteren Einhändigung von Bleistift und Papier, die als Signal dienen sollte, die Zahl der inzwischen verflossenen Stunden und Minuten oder Minuten allein niederzuschreiben.

Selbst nach mehreren Tagen wurde ein solcher Befehl vollständig fehlerfrei ausgeführt: die Niederschrift des Ergebnisses – z.B. 94 Stunden 10 Min., oder 7315 Min. - fand augenblicklich statt und wurde (wie gewöhnlich die Ausführung posthypnotischer Befehle) vom Subjekt geleugnet - d.h. sie war ihm selber unbewußt erfolgt - und nicht einmal in ihrer Bedeutung verstanden.

Wie die Zahl erlangt worden war, konnte nicht einmal in einer neuen Hypnose angegeben werden. Nur in sehr 'tiefer' Hypnose - sagen wir: in einer besonders 'fernen' Bewußtseinslage - fanden sich Anhalte für die Annahme, daß im Falle der 7315 Min. z.B. der Verlauf der Zeit halbstündig gemerkt und der letzte Schlußzeitraum von 25 Min. zu der laufend gefundenen Summe schnell hinzuaddiert worden war. Aber selbst wenn man als das Gewöhn-

[1] Pr V 5 ('secondary intelligence'). Ähnliche Versuche bei Bramwell 139f.
[2] Ich will die weitläufige Frage nicht erörtern. S. hierzu Gurney in Pr IV 288f.


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 47)

lichere eine Gesamtberechnung der Minutenzahl nach Anfangs- und Endpunkt sogleich nach Erfolgen des Signals annehmen wollte, müßte man zugeben, daß diese nicht ganz einfache Rechnung ohne jedes Wissen des wachen und in 'unbehinderter und verständiger' Unterhaltung begriffenen Subjektes stattgefunden habe. [1]

Hieran schließe ich zwei Feststellungen, welche die spätere Verwendbarkeit des Dargestellten im Sinne unseres Problems erhöhen sollen. Die erste besagt, daß die Ausführung eines posthypnotischen Befehls, vollends wenn sie nicht an ein äußeres Signal, sondern an den Ablauf einer bestimmten Zeit geknüpft wurde, das Bewußtsein des Subjektes selber überraschen, ihm als etwas Hervor- oder Hereinbrechendes erscheinen muß, gleichsam als die unverständliche Eingebung eines in seinem Innern verborgenen fremden Wesens.

Der posthypnotisch Gehorchende mag unter Umständen seinen Mund reden hören, seine Hand schreiben, seine Glieder sich bewegen sehen, ohne zugeben zu können, daß 'er' diese Handlungen ausführe. Er mag auch (halluzinatorische) Bilder sehen und Laute hören, die ihm 'aufgetragen' wurden, ohne daß er die entsprechenden Wirklichkeiten in seiner ihm bekannten Umgebung zu entdecken vermag.

Die Handlungen und Halluzinationen des posthypnotischen Gehorsams sind - der Ausdruck ist schlecht, aber eingebürgert - 'automatisch', Automatismen, d.h. sie gehen nicht vom wachen Ichbewußtsein aus, wiewohl sie das Ergebnis eines vernünftigen Bewußtseins zu sein scheinen; auch werden die automatischen Handlungen nicht erinnert, falls sie nicht soz. von außen, d. h. vom wachen Ich während der Ausführung beobachtet wurden. -

Die zweite Feststellung besagt, daß jenes anscheinend verborgene 'vernünftige Bewußtsein' seinerseits zutage gefördert werden kann, nämlich in einer neuen Hypnose, also einer ungewöhnlichen, anscheinend dem Schlaf verwandten, dem Wachen gegenüber eingeengten Bewußtseinslage; das neuerdings hypnotisierte Subjekt entsinnt sich dann des Befehls, entsinnt sich der Denkverrichtungen, die der Befehl entfesselte, und entsinnt sich seiner Ausführung, die dem wachen Subjekt als das Werk eines Andern erscheinen mußte.

Hierin sah übrigens schon Gurney einen Beweis für die bewußte Natur der automatischen Vorgänge [2] im Unterschiede zu 'unconscious cerebration', [3] und man kann wohl ganz allgemein sagen, daß die gelegentlich erhobenen Einwände gegen solche 'zweite' Bewußtseinsvorgänge bei gleichzeitig erhaltenem Hauptbewußtsein sich mehr oder minder leicht widerlegen lassen.[4]

[1] S. die zahlreichen bemerkenswerten Einzelheiten Pr XXI 2ff., bes. 31f. (On the Appreciation of Time by Somnambules.) Vgl. auch Janet, Aut. 260ff.
[2] Pr V 5. Vgl. Myers' Begriffsbestimmung des Bewußten als potentially memorable (Myers I 36f )
[3] Carpenter, Mental Physiology ch. XIII; Tb. Ribot, Les Maladies de la memoire, 20. Aufl. (Par. 1907) 25f.
[4] Einwände und Alternativdeutungen z.B. I) v. Schrenck-Notzing, Über die Spaltung der Persönlichkeit (Wien 1896) 23 (gegen ihn z.B. Moll 255). - 2) F. Podmore in Pr XI 325ff. (gegen ihn Beobachtungen wie Janet, Aut. 244. 261f. 263; PS XXIV 535; Myers II 442) - 3) A. H. Piexce, Pr XI 317ff.


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 48)

Im Falle der soeben besprochenen Leistungen mußte es dahingestellt bleiben, ob sie vereinzelte Rinnsale seelischer Betätigung darstellten oder Teile von größeren Bewußtseinszusammenhängen. In anderen Fällen dagegen lassen sich solche Zusammenhänge von sehr verschiedener Umfänglichkeit und Entwicklungshöhe unschwer feststellen, und unsere nächste Aufgabe ist es, diese Wachstumsmöglichkeiten des 'andern', abgesonderten, Seelenlebens kennenzulernen.

Von locker gefügten 'zweiten' Zuständen ist jedermann zum mindesten der Traum bekannt, dessen Wesen meist in einer 'Dissoziation' der geistigen Vorgänge, in der Herrschaft ihrer niederen Gattungen, in der Losgelöstheit von den Anforderungen der Wirklichkeit gesucht wird. Eine ständige, in sich geschlossen zusammenhängende Traumpersönlichkeit beobachten wir nicht.

Immerhin zeigen sich geringe Vorstufen dazu in dem inhaltlichen Zusammenhang, der zuweilen zwischen zeitlich getrennten Träumen besteht, und ein für uns besonders bedeutsames Merkmal der Dauer kann vielleicht in jenen Nachwirkungen gefunden werden - Stimmungen und unbestimmte Vorstellungsneigungen -, mit denen die Erlebnisse des Schlafenden zuweilen sich schüchtern in das Getriebe des Tages mengen. -

Größere Möglichkeiten geistiger Zusammenballung und Verdichtung außerhalb des Wachseins scheinen die bereits gestreiften mannigfaltigen hypnotischen Zustände zu bieten, die nach der Meinung Vieler! sich vom Schlaf hauptsächlich durch ihre künstliche Erzeugung und geringere 'Tiefe' unterscheiden, d. h. durch weniger weit gehenden Verschluß der Sinne und Hemmung der Denkvorgänge wie der Aufmerksamkeit, neben besserer Orientiertheit über Raum und Zeit u.a.m. [2]

Daher der sog. 'Rapport' mit einzelnen Personen, meist dem Hypnotiseur - die Folgsamkeit auf ihre Befehle - (eine Beziehung, die sich indessen auch beim gewöhnlichen Nachtschlafenden mit einiger Geschicklichkeit herstellen läßt, wenn man seine soz. besonders zugänglichen Vorstellungskomplexe zu beschleichen versteht); [3] daher auch die Möglichkeit weit verwickelterer Leistungen in der Hypnose, als der Schlafende meist zustande bringt: lauter Dinge, die in groben Zügen zu bekannt sind, als daß sie der Ausführung bedürften.

Wichtig aber ist für uns hier vor allem, daß aus Schlaf sowohl wie aus Hypnose durch zunehmende spezialisierte Erweckung und innere Organisation jene meist als 'somnambul' bezeichneten Zustände hervorgehen können, in denen uns zuerst das Bild einer 'zweiten', abnormen Persönlichkeit von leidlich eindrucksvoller Geschlossenheit und Tätigkeit geboten wird. Wie man durch geschickte Einflüsterungen ins Ohr des Schlafenden nicht nur seine Träume lenken, sondern ihn auch allmäh-

[1] Forel, O. Vogt, Liebcault, Kräpelin, Moll, Bernheim, Delboeuf u. a.
[2] Döllken (in ZH IV 80ff.), Hirsch, Hirschlaff.
[3] Vgl. Vogt in ZH VI 87.


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Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 49)

lich zu sinnentsprechenden Bewegungen veranlassen kann; [1] wie man auch den Hypnotisch-passiven oder bloß Redenden durch vorsichtige Stachelung in einen tätigen somnambulen Zustand überführen kann; [2] so geht bekanntlich der Träumer häufig von selbst zu Ausdrucksbewegungen der TraumerIebnisse, zu Reden und Gesprächen, schließlich zu körperlichen Handlungen über, die zwar häufig nur die automatenhafte Wiederholung von Reden und Handlungen des eben verflossenen Tages sind, zuweilen aber, wenn man gewissen berühmt gewordenen Berichten glauben darf, beträchtliche Unternehmungslust und Originalität zeigen, wenn auch im Rahmen von Tätigkeiten, die dem Subjekte wohlvertraut sind.

Ich erinnere z.B. an den Apothekergehilfen, von dem Prof. Soave berichtet [3], welcher schlafwachend Rezepte schrieb und ausführte, in Büchern anscheinend nachlas, über das Gelesene mit seinem Herrn sich besprach, Pflanzen mit ihren Beschreibungen zu vergleichen suchte, ja sogar imstande war, gemachte Zahlungen und eingereichte Rezepte auf ihre Richtigkeit zu prüfen; und der wieder in ruhigen Schlaf verfiel, wenn man ihm die Gegenstände seiner Tätigkeit entzog.

Oder an den durch viele Bücher schlafwandelnden Negretti, Bedienten des Marquese Sale in Vicenza, der einen Schlag ans Bein, den man ihm versetzte, für den Biß eines Hundes hielt, das eingebildete Tier mit einem Stück Brot heranlockte und in Gestalt eines ihm hingeworfenen Muffes mit einer versteckt bereitgehaltenen Peitsche bearbeitete. [4]

'Wie solche Anfälle des Nachtwandelns durch eine Erweiterung des Traumlebens zustande kommen, so werden andere ähnliche und 'von innen' gesehen wahrscheinlich ihnen völlig gleichende Zustände vom Wachen her durch Einschränkungen und Abzüge erreicht.

In vielen Fällen handelt es sich um 'teilweises' Wachbleiben eines Gesunden inmitten allgemeiner Schlafhemmung: wie wenn ein Marschierender, Kutschierender, Vorlesender oder gar Musizierender übermüdet einschläft und doch in seiner Beschäftigung fortfährt. [5] Andere ähnliche Einengungen bis zum tätigen Traume kommen auf krankhafter Grundlage zustande.

So war Mesnets berühmt gewordener Sergeant bei Sedan schwer verwundet worden und zeitweilig gelähmt gewesen, ehe jene Anfälle einsetzten, in denen er, bei stark beschränktem Sinnenleben, wie ein Träumender, aber mit offenen Augen und erweiterten Pupillen, besonders unter äußerer Anregung Begebenheiten seines früheren Lebens handelnd wiederholte, Bittgesuche schrieb, als Kaffeehaussänger auftrat u. dgl. m. [6]

[1] S. Marcinowski, Selbstbeobachtungen in der Hypnose, ZH IX (5ff. I77ff.) 17; Abercrombie S.78f (Fall des jungen Botanikers).
[2] Vogt erzielte in 119 Fällen von Hypnose 99 von Somnambulismus. Moll 60.
[3] Aus Opusc. scelti III (1780) bei Perty, Myst. Ersch. I 147f.
[4] Sorgfältige Beobachtung der Ärzte Steghellini und Pigatti, u. a. bei du Prel, Entd. I 62ff. - Beob. von Macnish, Binn, Horstius u. a. bei King I 156; Hack Tuke 14; Dendy 3I3f.; Desvine II5f. 117.
[5] Carpenter, Jessen u.a. Vgl. King I 155; W. Hamilton, Lectures on logics and metaphysics (1859f.) 336; Esdaile 17f.; Vogt in ZH IV 45.
[6]  Aus De l'automatisme de la memoire (Union Médicale, Juli 1874) gekürzt bei Binet 42-61.


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Vom Wachenden unterscheidet sich in solchen Fällen der Somnambule immer noch durch tiefe Hemmungen und Ausfälle. Selbst wenn seine Außensinne nicht aufgehoben sind, scheint er zumeist nur wahrzunehmen - oder doch zu beachten -, was mit seinen Traumgespinsten in unmittelbarem Zusammenhang steht; was ihnen nicht dient - Personen oder Gegenstände -, wird meist illusionierend verwandelt. [1]

Es ist nun zwar verständlich, daß man den Somnambulen psychologisch dem 'Zerstreuten' verglichen hat, der ja auch gekennzeichnet wird durch krampfhaft lokalisierte und spezialisierte Aufmerksamkeit und Erinnerung sowie Hemmung vieler Kanäle der äußeren Anpassung. Tatsächlich erwachen ja manche Somnambule, wenn man sie allzu gewaltsam über den Vorstellungskreis ihrer Träume hinausführt. [2]

Dagegen darf nicht übersehen werden, daß die somnambule Hemmung häufig Reizen standhält, die jeden normal Zerstreuten schleunig zu sich selber bringen würden: Peitschenhiebe, Ohrfeigen, Nadelstiche, Anschreien, Chinin, Schwefelflamme, Salmiak unter der Nase u. a. Gewaltmittel sind schon an manchem Nacht- und Tagwandler ergebnislos versucht worden. [3]

Umso deutlicher erkennen wir schon hier, wie stark der innere Zusammenhalt somnambuler Ichphasen ist; wie verständlich im selben Maße ihr Wiederauftreten in gleicher Art, ihre Neigung zur Bildung dauerhafter Komplexe - gleichsam von Personen innerhalb der Person.

Es fehlt nur noch der Nachweis eines gewissen lebendigen Fortbestehens dieser Komplexe auch während der Zeit ihrer anscheinenden Aufgehobenheit, also in den Pausen zwischen einem ihrer Auftritte und dem folgenden, um die äußersten Möglichkeiten jener Mehrstöckigkeit des Seelenlebens in unmittelbare Nähe zu rücken.

In der Tat teilen alle 'zweiten Zustände' mit dem normal-wachen Ich die Neigung zur Selbstvervollständigung und zum inneren Ausbau. Kehrt ein hypnotischer Zustand häufig wieder und dauert er an, so strebt er leicht dahin, sich persönlich auszudehnen und in sich zu festigen: Sinnesöffnungen, Muskeln, Vorstellungen, Erinnerungen; Selbstbestimmung zu erwerben und durch solches Wachstum seine frühere Lenksamkeit (Suggestibilität) zu vermindern. [4]

Selbst Tagträume zeigen oft eine gefährliche Neigung, sich in solcher Weise gleichsam zu Persönlichkeiten auszuwachsen, und man kennt Fälle, in denen sie wie wahre halluzinatorische Traumdelirien das normale Leben von Zeit zu Zeit vollständig unterbrechen, wobei ihre einzelnen Auftritte, wie kapitelweise erlebte Romane, den innigsten Zusammenhang des Inhalts und der Erinnerung bewahren, während das wache Ich von alledem nicht das Mindeste weiß. [5]

[1] Beispiele für (das Letztere bei Rieger u. Virchow, Der Hypnotismus (Jena 1884) 24: Hack Tuke 22.
[2] Vogt in ZH IV 39f.
[3] Vgl. Hammond, Mental Derangement 4; Despine 100 Anm. (Knochenbruch ohne Erwachen); Passavant 145.
[4] Janet, Aut. 175ff.; Moll 94. Zunehmende Eigenwilligkeit gegenüber Suggestionen das. 72. 3I5ff.; ZH IV 117; vgl. Aberorombie 326f. [5] S. z.B. den merkwürdigen Fall bei Ch. Féré, Note sur leg rapports de l
'imagination et du delire, in Rev. de Medecine VII (1887) 881ff., S. ]acksons Beobachtung Amer. ]oum. of the Med. Science, ]an. 1869 17ff. (ref. AZP XXVI 582f.). 


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 51)

Noch von anderer Seite her können wir den Zugang zu solchen zweiten Persönlichkeiten gewinnen: nämlich ausgehend von jenen Zuständen verworren-dämmerhaften Umherirrens, die bei Epileptikern und anderen Belasteten beobachtet werden, vermischt mit deliranten Wahnvorstellungen über das eigene Ich und gefolgt von Erinnerungslosigkeit. [1]

Der seelische oder körperliche 'Schock', der solche Zustände meistens einleitet, mag als nächste Ursache des geistigen Auseinanderfalls angesehen werden. Anderseits finden wir es natürlich, daß die Handlungen einer solchen 'Flucht' (Iugue) hinterher im Schlaf oder Halbschlaf oder in der Hypnose erinnert werden, d.h. nach Herbeiführung einer einigermaßen entsprechenden 'zweiten' Bewußtseinsphase;

gehen doch ähnliche 'Fluchten' zuweilen - wie gute somnambule Anfälle - aus dem Nachtschlaf hervor: wie wenn z.B. ein strebsamer Arbeiter träumt, daß ihm an anderem Orte günstige Arbeit geboten werde, dann 'erwacht', aber in einem abnormen Zustande, und sich nunmehr aufmacht, um Wochen und Monate hindurch mit gewaltiger Eile weite Länder zu durchstreifen, auf einer Jagd soz. nach der Erfüllung seines Traumes. [2]

Aber ob nun aus epileptoiden oder anderen Zuständen des inneren Zerfalls entstehend: jedenfalls sehen wir diese Fluchten häufig einen inneren Umfang und Zusammenhalt gewinnen; die den Ausreißer kaum oder gar nicht mehr vom normal Wachen unterscheiden lassen: er ist imstande, ein vollständiges zweites bürgerliches Leben durchzuführen.

Der bekannte Ansel Bourne z.B., ein 60jähriger Tischler in Neu-England, dessen 'Flucht' als postepileptischer teilweiser Gedächtnisverlust eines fraglos erblich Belasteten gedeutet worden ist, 'verschwand' am 17. Januar 1887 während einer kleinen Geschäftsreise in eine benachbarte Stadt, und tauchte zwei Jahre später unter dem Namen A. J. Brown in einer kleinen Ortschaft Pennsylvaniens auf, wo er ein Gemischtwarengeschäft eröffnete und das sparsame und ordentliche Leben eines kleinen Kaufmanns und Mitgliedes der Methodistenkirche führte, allen seinen Verpflichtungen pünktlich nachkam und allgemein für einen völlig gesunden Menschen gehalten wurde.

Am 14. März in der Frühe hörte er, wie er sagt, ‚eine Explosion wie den Knall einer Flinte oder Pistole', und erwachte, um sich als Ansel Bourne in einem ihm fremden Hause und Ort unter fremden Menschen und in einem Berufe zu finden, von dem er nichts wußte und verstand. Seiner Überzeugung nach war es der 17. Januar und er in Providence, wo er zuletzt

[1] Beispiele: Friedrichs BI. f. gerichtl. Medicin, 4. Heft 1881 (ref. AZP XXXVIII (1882) 436f.; Höfelt in AZP XLIX 251; Krafft-Ebing in AZP XXXIII 111ff.; ders., Über Dämmer- und Traumzustände, ref. in ZH IX 243ff.; Ganser in AP XXX 633; Näcke in NC XVI (1897) 24, ref. in ZH VIII 126f.; Ribot, Mal. de la mem. 54f.; F. Raymond, Leçons sur les mal. du syst. nerv. (Par. 1896) 591-637 (lec. XXXI u. XXXII).
[2] Ph. Tissie, Les aliénés voyageurs (Thèse), ref. bei M. de Manassein, Sleep... (Lond. 1897) 137f. Vgl. den Begriff der epileptischen Träume (Hughlings ]ackson)


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Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 52)

einige Expreßwagen der Firma Adams gesehen haben wollte. Es gelang, seine Verwandten aufzufinden, und er kehrte in sein früheres Leben zurück. [1]

Ansel Bournes Flucht blieb die einzige, und diese Einzigkeit ist nicht gerade selten, aber auch nicht die Regel. [2] Wiederholt sie sich oder dehnt sie sich lang genug aus, so wird sich der 'zweite' Zustand durch innere Organisierung vollends die seelische Wertigkeit einer ebenbürtigen 'zweiten' Persönlichkeit erwerben.

Wir haben dann jene voll ausgebildeten Fälle von 'alternierendem' Ich, in denen das normale Ich mit seinen Gewohnheiten und Erinnerungen von Zeit zu Zeit durch ein anderes Ich abgelöst wird, wobei eine jede dieser miteinander abwechselnden Persönlichkeiten ihre Eigenheiten, Gewohnheiten, Kenntnisse und vor allem Erinnerungen hat, so daß das Leben der bürgerlichen Person aus zwei geschiedenen, je in sich zusammenhängenden und bruchstückweise ineinandergeschachtelten Persönlichkeiten besteht.

Ich will mich nicht mit der Beschreibung von Dingen aufhalten, die ja schon durch Roman und Bühne allgemein bekannt geworden sind, und nur eine besonders fesselnde Beobachtung zunächst in Umrissen verzeichnen, weil ich auf sie zurückzukommen haben werde; wiewohl gerade sie die Vollständigkeit der bei den Persönlichkeiten infolge besonderer Verhältnisse nicht von Anfang an, sondern erst allmählich entstanden zeigt.

Th. C. Hanna, ein gesunder, begabter und gebildeter junger Geistlicher, kam nach einem heftigen Fall auf den Kopf in einem Zustande zu sich, der am kürzesten und schlagendsten dem eines eben geborenen Kindes verglichen worden ist: er besaß weder ein Verständnis seiner Körperempfindungen und damit den Gebrauch seiner Glieder (ohne im mindesten gelähmt zu sein),

noch irgendwelche Fähigkeiten apperzipierender Wahrnehmung - wie der Unterscheidung von Dingen, der Schätzung von Größen, Entfernungen und Farben, der Beurteilung der Zeit -, noch überhaupt irgendwelche Vorstellungen, die ihm die Umwelt hätten deuten können (er konnte z.B. Menschen von Dingen, Männer von Frauen, seine nächsten Verwandten von völlig Fremden nicht unterscheiden), noch irgendwelche Erinnerungen an seine Vergangenheit, z.B. auch nicht den mindesten Gebrauch der Sprache.

Vom Zustand eines Ebengeborenen unterschied ihn also nur der Besitz eines vollentwickelten Nervensystems, und dies scheint die Ursache gewesen zu sein, daß seine zweite Erziehung, beginnend mit Gehen-, Greifen-, Essen- und Sprechenlernen, außerordentlich schnell vonstatten ging.

Die ersten Hinweise darauf, daß die Erinnerungen seines früheren Lebens nicht völlig vernichtet waren, bestanden in gewissen besonders lebhaften 'Bilderträumen', in denen sich Erlebnisse seiner Vergangenheit reproduzierten, ohne indes vom Träumer selbst als solche erkannt zu werden. Oder es kam vor, daß Hanna ein hebräisches Zitat, dessen Anfang ihm vorgesagt wurde, mechanisch zu Ende sprach, ohne aber die gesprochenen

[1] Pr VII 221-37. Ähnliche Fälle von J. M. Bolteau in AMP Jan. 1892; Dr. W. Drawey in Med.-Legal Journ., Juni 1896; (beide auch kurz bei Myers I 317ff.); Dr. C. Lloyd Tuckey in Pr XVIII 412f.; Fall des Charles Du Bois aus N. Y. Herald (25. Dez. 1903) in ÜW XII 117ff.; Raymond aaO. 734f.; Despine 94f.
[2] Ein Fall mehrfach wiederkehrender 'fugue' von Dr. Proust in RH 1890 267ff.


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 53)

Worte zu verstehen oder auch nur als bekannt zu empfinden. (Hypnose ließ sich nicht erzeugen.) Sechs Wochen nach dem Unfall wurde Hanna nach Neuyork gebracht, weil die behandelnden Ärzte von den Anregungen der Großstadt einen günstigen Einfluß erhofften.

Während der Nacht, die den ersten, an neuen (und doch alten) Eindrücken reichen Stunden folgte, kam Hanna in einem Gasthaus mit der vollen Erinnerung an sein vergangenes Leben zu sich, glaubte, es wäre der Tag jenes Unfalls, und wußte nichts von den inzwischen verstrichenen sechs Wochen, selbst nicht die letzten Ereignisse vor diesem Zusichkommen, erkannte also weder seinen Arzt, noch das Zimmer.

Diese Rückkehr ins alte Leben hielt etwa 3/4 Stunden an, worauf Hanna in 'Schlaf' versank und nach einigen Stunden wieder als Hanna II erwachte, d. h. im Besitze nur derjenigen Erinnerungen und Fähigkeiten, die er seit dem Unfall erworben hatte.

Solche Rückfälle in den ursprünglichen Zustand fanden in der Folge mit zunehmender Häufigkeit und Dauer statt, wobei jedesmal die Erinnerung außer dem ursprünglichen Leben bis zum Augenblick des Unfalls auch noch die inzwischen beobachteten Rückfallsperioden umfaßte; bei der Rückkehr in den 'zweiten' Zustand dagegen erinnerte sich Hanna stets nur an die ganze Zeit seit dem Unfall, mit Ausschluß jener eingeschobenen Abschnitte des 'ersten' Zustandes. [1]

Wir haben jetzt die 'zweiten Zustände' bis zu ihrer Blüte in völlig wachen zweiten Persönlichkeiten verfolgt, jedoch immer nur als zeitliche Alternativen des normal-wachen Ich. Man entsinnt sich aber, daß die Anregung zum Aufwärtsverfolgen dieser Bildungen von Tatsachen ausging, die eine außerbewußte Leistung gleichzeitig mit dem Wachbewußtsein verlaufend zeigten.

Es blieb damals dahingestellt, ob jene Leistungen vereinzelte Rinnsale seelischer Betätigung darstellten, oder Teile von zusammenhängenden Bewußtseinskomplexen. Jetzt haben wir solche zusammenhängende Bewußtseinskomplexe in größter Fülle der Ausbildung kennengelernt; dagegen fehlt uns nun wieder, was diese Tatsachen uns wertvoll machen könnte: die Gleichzeitigkeit solcher Komplexe mit dem Haupt-Ich und außerhalb desselben; wertvoll aber wäre uns gerade diese Gleichzeitigkeit der seelischen Vollbildungen, weil sie am ehesten deutende Analogien für die außerbewußte Reifung eines hereinbrechenden 'Heiligungskomplexes' verspräche.

Diese Gleichzeitigkeit nun, die lebendige Fortdauer des einen Zustandes während seiner anscheinenden Ausschaltung, könnte in der Tat nach den bisher gebuchten typischen Fällen fraglich scheinen. Ansel Bourne und Hanna vernahmen zwar in dem einen Zustand gewisse verworrene Echos aus dem andern, in Gestalt vereinzelter Erinnerungsbruchstücke; aber selbst diese - wie Hannas Bilderträume - traten vorzugs-

[1] Das Tatsächliche des Falles Hanna bei Sidis u. Goodhalt 9Iff. Verwandte Fälle (soweit nicht später zu erwähnen) bei H. Mayo, Outlines of Hum. Physiol., 4. Aufl. (1837) 195f.; H. Taine, De l'intelligence I 165; Abercrombie 327f.; Winslow 335; Dr. Mitchell in ATM III 1. St. 167f.; Dr. Dunn in The Lancet, 1845 16. Nov.; Dr. Dana bei Sidis u. Goodhalt 368ff. (nur Sprache und wenige sehr eingeübte Handgriffe in den 2. Zustand hinübergerettet); v. Hartmann 420f.


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 54)

weise in einem Zustande auf, der eben nicht mit dem andern Wachzustande identisch war: im Schlaf oder in der Hypnose. Was aber vor allem gegen die fragliche Gleichzeitigkeit spricht, ist der Umstand, daß bei jedesmaligem Umschlag aus dem einen in den andern Zustand der jeweilig 'auftauchende’ genau dort anzuknüpfen scheint, wo er bei seinem letztvergangenen Auftreten abbrach: die inzwischen verflossene Zeit ist für das 'auftauchende’ Bewußtsein so gut wie nicht dagewesen: es hat nichts erlebt und nichts gelernt, wenn auch nichts vergessen seit dem Augenblick, da es 'versank'.

Dieses Wiederanknüpfen des ersten Augenblicks der auftauchenden Teilpersönlichkeit an den Augenblick ihres letzten Versinkens geht mitunter so weit, daß das erwachende Ich bei dem Wort eines Satzes, dem Ton eines Liedes, dem Teilakt einer Handlung einsetzt, bei dem es durch sein Versinken unterbrochen wurde.[1]

Dies könnte den Eindruck hervorrufen, als läge die eine Phase während des Wachseins der anderen gleichsam erstarrt da und gewänne erst Leben, wenn sie die andere an der Sonne des Ichbewußtseins verdrängt. Und dies mag auf viele Fälle zutreffen, wenn es auch nicht völlig die Regel bildet.

Aber wir sind auf Ausnahmen nicht angewiesen. Vielmehr ist es an der Zeit zu bemerken, daß der bisher besprochene Typ alternierender Persönlichkeiten tatsächlich eben nur ein Typ ist, und daß ihm ein anderer gegenübersteht, dem das fraglose 'Fortleben' der einen (beim Auftreten der andern, versunkenen) Phase eigentümlich ist.

Meine Beschreibung der seelischen Teilbarkeit ging von solchen hypnotischen Befehlen aus, deren Ausführung sich nur während eines nachfolgenden Wachseins und gleichzeitig mit ihm erfolgend denken ließ. Erst indem wir dazu übergingen, das Anwachsen solcher kleinen hypnotischen Phasen zu Somnambulismen und zweiten Persönlichkeiten zu verfolgen, verloren wir die Tatsache der lebendigen Gleichzeitigkeit zweiter Phasen aus den Augen.

Tatsächlich aber läßt sich dies Anwachsen der hypnotischen Phase bis zur 'Persönlichkeit' auch unter Wahrung der Gleichzeitigkeit, also des seelischen Doppellebens verfolgen. Zwar ist, bevor eine solche Gleichzeitigkeit zweier reicher und dauernder seelischer Strömungen erreicht wird, immer ein 'kritischer Punkt' zu überwinden, diesseits dessen vielmehr die Neigung zu bestehen scheint, daß, wenn die versunkene Phase sich zu regen und äußern beginnt, die andere, augenblicklich 'wache', sich gehemmt und verdunkelt fühlt, und häufig nahe daran ist, ihrerseits in Nichts zu versinken und dem Automatismus das Feld zu überlassen. [2]

[1] s. z.B. Prof. Lebret in ATM 11 2. St. 115. Das Umgekehrte (von Wachen zu Wachen) s. Janet, Actes 261; W. Preyer, Der Hypnotismus (1890) 127; F. v. Baader, WW IV 41f.; nach Delirunterbrechung: Griesingers Fall bei du Prel, Ph. d. M. 337; Prichards Fall bei Abercrombie 329 (vgl. das. 155 ); Fall eines Organisten in JMS XI 342; von Delir zu Delir, Dendy 317f. Vgl. noch Luys 114; Manassein, aaO. 111f.
[2] VgL Pr XX 14; XXI 323 (Abs. 3) 247 (Abs. 4); Binet 197.


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Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 55)

Prof. Flournoys berühmte Somnambule Mlle. Smith vermochte halluzinierte Worte, d.i. Mitteilungen des somnambulen Ich, nur in verzerrter Schrift niederzuschreiben, es sei denn, daß der Arm ihr 'genommen' wurde und nun gut, aber mit veränderter Handschrift schrieb. [1]

Vollends wenn ihre phantastischen Traumpersönlichkeiten automatisch zu reden oder zu schreiben begannen, erschien Mlle. Smith 'zerstreut, wie geistesabwesend', und kehrte erst beim Schweigen der Automatismen ganz zu sich selbst zurück. [2]

Aber wie gesagt, dieser 'kritische Punkt' läßt sich häufig glücklich umschiffen, ohne daß die innere Entwicklung der zweiten Phase deshalb gehemmt wäre, und wir haben dann 'unter', 'außer', dem tätig-bewußten Ich eine 'andere' Persönlichkeit, die ihr selbständiges Leben dadurch erweist, daß sie das Leben der 'wachen' Persönlichkeit wie ein fremdes beobachtet und beurteilt und mit selbständigen automatischen Äußerungen aller Art sich in dieses hineinmischt.

Von dem oben beschriebenen Typ der alternierenden Persönlichkeit unterscheiden sich diese Fälle sehr wesentlich: während dort das Leben soz. in eine doppelte Reihe von 1 und 2 Zuständen zerfiel, die je für sich geschlossene Erinnerungszusammenhänge bildeten, umfaßt hier die Erinnerung der einen Reihe auch die Abschnitte der anderen, nicht aber umgekehrt.

Mit andern Worten: die Phase 1 besteht als lebende Persönlichkeit ohne Unterbrechung, aber bald als waches, bald als verdrängtes, unterdrücktes, 'somnambules' Ich; die Phase 2 dagegen besteht überhaupt nur zeitweise und erinnert sich bloß dieser einzelnen Zeitabschnitte, nicht aber der Wachzustände der andern Phase. [3]

Einer der in der Fachliteratur meist angeführten Fälle dieses Typs ist die Felida X. in Bordeaux, über die zuerst Dr. Azam berichtet hat. Nach normaler Jugendentwicklung hatte sie mit 13 Jahren Anzeichen beginnender 'Hysterie' gezeigt, und Dr. Azam lernte sie 1858 als leidlich gebildetes und fleißiges, aber mürrisches und schwermütiges Wesen kennen.

Jeden Tag fast wurde sie plötzlich mitten in der Arbeit von einem eigentümlichen 'Schlaf' überfallen, aus dem nichts sie erwecken konnte, aus dem sie aber von selbst in einem Zustande fast völliger Gesundheit und Schmerzfreiheit erwachte. Ihre Stimme war dann fröhlich, die Sprache lebhaft, ihr Fühlen von gesunder Stärke, das Benehmen völlig normal, die Kranke allen Lebensverrichtungen gewachsen.

Alle Fähigkeiten schienen mehr entwickelt und vollständiger zu sein. In diesem Zustand umschlossen ihre Erinnerungen ihr ganzes Leben: die kranken wie auch die gesunden

[1] Vgl. auch E. Gurney über das Subjekt P-ll in Pr IV 3I9f.
[2] Flournoy, Des Indes 51. 116. Überwältigende Schläfrigkeit: Fall Tout, Pr XI 310; Fall Schröder ÜW XIV 376. Vgl. Schläfrigkeit und Gähnen zur gewohnten Stunde somn. Anfälle nach deren Aufhören: ATM IV 3. St. 132. - Bei Anwachsen der automatischen Tätigkeit - 'Umschlagen' in ein 'waches' somnambules Ich: Janet, Aut. 329; Binet 196; du Prel, Ph. d. M. 365. 367; Pr XVII 70. Analog bei Ausführung verwickelter posthypnotischer Befehle: Gurney in PrI Va 73 ; Janet , Aut . 268 . [3] Graphisch etwa so darstellbar : 1 ) -_-__-_-


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 56)

Abschnitte. War sie aber durch einen neuen Anfall jenes 'Schlafes' in ihren früheren elenden Zustand zurückgekehrt, so hatte sie keinerlei Erinnerung an alle jene gesunden Zwischenzeiten, die sie durch die Pforte dieses 'Schlafes' betrat und wieder verließ.

Bekanntschaften, die sie in jenem Zustande gemacht, Arbeiten, die sie in ihm angefangen hatte, waren ihr im ersten, d. i. hypochondrisch-verstimmten Zustande völlig fremd. Die Perioden des zweiten Zustands nahmen mit der Zeit an Länge zu: vom 24. bis 27. Lebensjahre war die Kranke völlig normal. Durch 'Fischen' und Notizenmachen half sie sich im elenden Zustande über die bestehenden Erinnerungslücken hinweg. [1]

Felida X. erschöpft indessen die Möglichkeiten dieses Typs noch nicht, denn es sind Fälle bekannt geworden, in denen nicht nur zwei, sondern drei 'Persönlichkeiten' soz. in konzentrischen Kreisen ineinandergeschachtelt waren; wenn ich damit die Tatsache ausdrücken darf, daß Phase II die Phase I, Phase III dagegen sowohl Phase II als auch Phase I in der Erinnerung umfaßt.

Einen klaren Fall solcher Dreistöckigkeit des Seelenlebens bieten die Phasen der berühmten Mme. B., der Welt zuerst als Leonie-Leontine-Leonore, später als Leonie I, II und III vorgestellt, auf die ich etwas ausführlicher eingehe, weil sie uns für später wichtige theoretische Anregungen versprechen.

Der Zustand der 'wachen' Mme B. - Leonie I - scheint in bezug auf Sinnesempfindungen und Bewegungen normal, ihr Charakter aber bis zu einem gewissen Grade ein verkümmerter gewesen zu sein: der einer ernsten, etwas trübsinnig gestimmten, ruhig-schwerfälligen, sehr sanften und furchtsamen Bäuerin. Wurde diese hypnotisiert, so änderte sich ihr Wesen vollständig.

Die dann hervortretende Leonie II war ausgelassen fröhlich und von unerträglicher Ruhelosigkeit gehetzt; bei fortdauernder Gutmütigkeit entwickelte sie eine seltsame Neigung zu bitterer Ironie. Ihre Augen waren geschlossen, aber die Schärfe ihrer übrigen Sinne machte den Ausfall des Sehens wett. Leonie war seit Jahren viel und von verschiedenen Ärzten hypnotisiert worden, und es hatte sich so eine Kette somnambuler Erinnerungen gebildet, die in sich fest zusammenhing, von der die wache Leonie aber nichts wußte.

Dagegen wußte Leonie II nicht nur um die wache Leonie, sondern fühlte sich durchaus als selbständige Persönlichkeit dieser gegenüber, mit der sie sich lebhaft sträubte, identifiziert zu werden, und die sie wie eine Fremde beurteilte: 'Das gute Weib', sagte sie, 'bin nicht ich; sie ist zu töricht’. [2] Briefe, deren Zerrissenwerden durch Leonie I sie fürchten mußte, versteckte sie stets in einem Album, dessen Anblick Mme. B. in Somnambulismus warf, also die Phase Leonie II herbeiführte. [3]

Anderseits bewies diese ihre Gleichzeitigkeit mit der wachen Leonie I - wenn auch natürlich in eingeschränktem Zustande [4]-, indem sie deren bewußte Lebensabschnitte beschrieb, oder angab, daß sie selber so und so lange nicht 'herbeigeführt' worden sei; oder indem sie Handlungen automatisch - also während der bewußten Leonie-I-Phase - ausführte, die sie sich in ihrem

[1] Dr. Azam in RS 2. Aug. 1890 139; ders., Hypnotisme, double consc. et altér. de la personnalité (Par. 1887); Bonamaison in RH I. Febr. 1890 234 (auch bei Binet 6ff.).
[2] Janet, Actes 211.
[3] das. 254.
[4] Vgl. dazu den Umstand, daß sie immer erst 2-3 Stunden nach ihrem Auftreten vollentwickelt schien: das. 269; vgl. Janet, Aut. 335f.


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 57)

(somnambulen) 'Dasein' vorgenommen hatte. [1] So gab z.B. Janet der hypnotisierten Leonie - also Leonie II - den Befehl, nach dem Erwachen ihre Schürze abzunehmen und wieder umzubinden. Während das darauf erweckte Subjekt ihn zur Tür begleitete, führten die Hände automatisch und dem wachen Subjekte unbemerkt diesen Auftrag aus.

Von Janet darauf aufmerksam gemacht, vermutete Leonie I, die Schürzenbänder hätten sich zufällig gelöst, und band sie mit vollem Bewußtsein wieder zusammen. Die Handlung des Auf- und Wiederzubindens wurde aber, diesmal völlig unbemerkt bleibend, noch einmal ausgeführt.

Am nächsten Tage, in abermaliger Hypnose, äußerte sich Leonie II zu diesem Vorfall in einer Weise, die vermuten läßt, daß sie, wenigstens zwischen den beiden automatischen Handlungen, als ein beobachtendes und zuhörendes Bewußtsein fortbestanden hatte: Nun ja, sagte sie, 'Ich tat, was Sie mir gestern sagten; was für ein dummes Gesicht die Andere machte, als ich die Schürze abband! Wozu sagten Sie ihr, daß die Schürze abfiel? Ich hatte die Sache noch einmal anzufangen.’ -

Oder Janet konnte beobachten, wie Leonie II automatisch Briefe schrieb, während Leonie I, ohne etwas davon zu bemerken, mit einer Strickarbeit in der Linken, ein Lied vor sich hinsummte. [2] Ja diese Briefe richteten sich sogar an Leonie I selber, der sie wertvollen Rat erteilten; was nicht nur überlegene Unabhängigkeit von der 'guten dummen Bäuerin', sondern auch begleitende Beobachtung von deren Lebensschicksalen verrät.

Wie nun Leonie I durch einen lethargischen Zustand hindurch (!) in die somnambule Phase Leonie II eintrat, so ging Leonie II bei weiterer Anwendung hypnotisierender 'Striche' durch eine neuerliche Lethargie hindurch in einen zweiten, 'tieferen' somnambulen Zustand - Leonie III oder Leonore - über, der sich selbst bewußt und sorgsam von jenen beiden unterschied, sich für die langweilige Leonie I ebensowenig interessierte, als Leonie II dies tat, aber auch Leonie II als laut und leichtfertig verurteilte.

'Sie sehen wohl,' sagte sie, 'daß ich nicht diese Schwätzerin, diese Verrückte bin, wir ähneln uns ganz und gar nicht.' Das Gedächtnis von Leonie III nun umfaßte nicht nur die Zeiten ihres eigenen 'Daseins', sondern auch die Lebensabschnitte von Leonie II und Leonie I. Ihre Erinnerung war also lückenlos für das ganze Leben der Mme. B. Wie Leonie II die wache Leonie I beobachtete, so beobachtete Leonie III aus dem unterbewußten Versteck die somnambule Leonie II, z.B. die Pseudopersönlichkeiten, die jene hypnotische Phase auf Befehl des Arztes schauspielerte. [3]

Oder sie bewies ihre Unabhängigkeit, indem sie ärztliche Ratschläge zugunsten der Leonie I gab. [4] Denn sie war die Allen überlegene; ihre Sinne waren vollständig; nur die Augen hielt sie geschlossen. Auch Leonie III konnte durch spontane Automatismen - in ihrem Fall meist erzwungene Halluzinationen - beweisen, daß sie trotz ihrer 'Abwesenheit' die jeweilige Lage übersah und beurteilte.

Während eines Anfalls hysterischer Erregung, die sich nicht beschwichtigen lassen wollte, hielt Leonie II plötzlich erschrocken inne, weil sie scheinbar zu ihrer Linken eine Stimme wiederholt sagen hörte: 'Genug, genug, halt dich still, du bist ein wahres Ekel.' Ein anderes Mal, als sie, wiewohl vollkommen ruhig, auf eine Frage des Arztes die Antwort hartnäckig verweigerte, vernahm sie dieselbe halluzinatorische Stimme: 'Nun, nun,

[1] Janet, Actes 263.
[2] Allerdings unter leichter Somnolenz oder doch Abgelenktheit.
[3] Janet, Actes 274.
[4] das. 275.


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 58)

sei vernünftig, du mußt antworten.' [1] Leonie III, wenn man sich dann mit ihr in Verbindung setzte, schrieb sich diese guten Ratschläge ausdrücklich zu. 'Ich war es, die ihr ruhig zu sein befahl; ich sah, daß sie Ihnen lästig war; ich weiß nicht, weshalb sie so sehr erschrak.'

Doch konnte sich Leonie III auch durch den Bleistift äußern, wenn sie nicht da war, und etwa an Leonie II Briefe schreiben; falls sie nicht gar die Ankündigung vorzog: ich wünsche zu kommen, und dann eben 'kam'. [2] Wiederum sagte die wache Leonie III gelegentlich: 'Während die Andere sprach, haben Sie befohlen, die Uhr hervorzuziehen; ich habe es für sie getan, aber sie hat nicht hinsehen wollen...' u.ä.m. [3]

Der Typ des mehrfachen konzentrischen Seelenlebens, den diese Berichte festlegen, zeichnet sich offenbar dadurch aus, daß das zweite Ich das gewöhnliche wache, bzw. dieses und das erste somnambule Ich, an inhaltlichem Reichtum und etwa auch an Gesundheit und Charakterausbildung übertrifft, es gewissermaßen als einen Teil von sich umschließt.

Man ist daher nicht unnatürlicherweise auf eine Deutung verfalIen, die in dem wachen Ich solcher Personen eine krankhafte Verkümmerung der ursprünglichen gesunden Gesamtpersönlichkeit sieht, in dem zweiten bzw. dritten Zustande dagegen jene Gesamtpersönlichkeit selbst zeitweilig wiedererstehen läßt. Der zweite Zustand wäre danach das eigentliche 'Wachen', das scheinbar normale Wachen dagegen im Grunde ein 'somnambuler' Teilzustand. -

Was auch zugunsten dieser Auffassung anzuführen sein mag, es widerspricht ihr die Tatsache, daß der volIständige Zustand hier regelmäßig voIle Erinnerung an die eingeschränkten Zustände zeigt, während sonst bekanntlich die Vorgänge des unbezweifelten Somnambulismus der Erinnerung des Wachens fast immer entzogen sind. Aber auch abgesehen davon ist der beschriebene Typ von gleichzeitigen Persönlichkeiten nicht einmal der einzige.

Der vielIeicht merkwürdigste alIer bisher beobachteten FälIe von gespaltener Seele zeigte ein die sämtlichen übrigen Teilseelen in gleicher Weise begleitendes Neben-Ich, das ganz augenscheinlich nicht als die 'volIständige Normalpersönlichkeit' aufgefaßt werden durfte. Der Leser möge es sich nicht verdrießen lassen, wenn ich den Grundplan auch dieses verwickelten FalIes nicht ohne einige Ausführlichkeit, wenn auch in möglichster Kürze ihm vorlege; die spätere theoretische Ausnützung wird, wie ich hoffe, diesen Aufenthalt lohnend erscheinen lassen.

Miss Beauchamp (pseud.) war von Hause aus eine fein veranlagte junge Dame von ernster und religiöser Gemütsrichtung und künstlerischen Neigungen und mit amerikanischer Hochschulbildung ausgerüstet. Angestrengte Arbeit hatte sie bereits bis zu gewissem Grade geschädigt, als sie eines Tages i.J. 1893 einen starken seelischen Schock erlebte: eine tief erregende Unterhaltung persönlichsten Inhalts mit

[1] Janet, Actes 267. 275.
[2] das. 268. 275.
[3] Janet, Aut.220. Bemerkenswerte Parallelen bietet der gleichfalls dreiphasige Fall der Blanche Wittman: Jules Janet in RS XXV 616ff.


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Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 59)

einem Bekannten, der sie während eines heftigen Gewitters unerwartet und unter seltsamen Umständen aufgesucht hatte. Seit dieser Zeit entwickelte sich bei ihr eine ausgesprochene Neurasthenie mit ihrer typischen Reizbarkeit und Willensschwäche, neben einer Neigung zu Zerknirschung, Menschenscheu und krankhaftem Mitleid.

In diesem Zustande, den ihre Krankengeschichte als B I bezeichnet, lernte Dr. Prince sie kennen, behandelte sie erfolglos auf Neurasthenie hin, war aber imstande, sie in einen typischen hypnotischen Zustand - B II - zu versetzen, in welchem sie bei aller Passivität sich verständig unterhalten konnte und sich an ihr waches Leben erinnerte.

Im Wachen bestand für die Hypnose (wie gewöhnlich) Erinnerungslosigkeit. Gelegentlich trat aber während der Hypnose eine Persönlichkeit - B III - auf, die, augenscheinlich mit vollem Bewußtsein redend, ihre Selbstständigkeit behauptete, von Miss B. als einer Andern in der dritten Person sprach - 'weil sie nicht dasselbe weiß, wie ich' ..:- und sich später selbst den Namen Sally Beauchamp zulegte.

Sally, die öfter wiederkehrte und immer länger 'blieb', pflegte dabei ihre geschlossenen Augen zu reiben, um sie, wie sie sagte, 'aufzukriegen', was ihr so wenig als B II bisher erlaubt worden war. Schließlich aber gelang ihr dies in Abwesenheit ihres Arztes, und seitdem war sie während der Zeiten ihrer 'Anwesenheit' um vieles selbständiger. Sally nun (B III) behauptete,

daß sie immer existiere (während B I 'tot' sei, solange sie, Sally, völlig am Ruder sei); [1] daß sie, wenn B I 'da' sei, deren Gedanken wisse, im allgemeinen aber ihren eigenen Gedanken nachgehe. Lese B I zB., so könne sie mitlesen, tue es aber nur selten, weil sie keinen Gefallen an B I's Büchern habe. 'Sallys Gedanken’, bestätigt Dr. Prince ausdrücklich, 'bestehen neben und gleichzeitig mit denen von B I; aber Sallys seelisches Leben setzt sich aus völlig verschiedenen und gesonderten Gedanken und Gefühlen zusammen, die nichts mit den gleichzeitig ablaufenden Gedanken von B I gemein haben.'

'Spreche ich zu B I, so hört mich Sally. Sage ich etwas, das Sally allein versteht, so sehe ich sie lächeln.' Sie ist nicht minder am Leben, als das andere (augenblicklich herrschende) Bewußtsein. Auch behauptet Sally, daß sie nie schlafe; daß sie wache, während B I schlafe, und deren Träume genau beobachten könne; ja daß sie von der Wiege an ihr gesondertes Dasein geführt habe.

Ihre Erinnerungen gingen weiter zurück als die von B I; sie will sich erinnern, daß B I, als sie gehen lernte, Furcht hatte und in die Wiege zurück, sie aber (Sally) drauflosgehen wollte. Wurde B I gezüchtigt und fühlte sich dadurch gedrückt, so empfand sie (Sally) keinerlei Reue. Sally erfreute sich einer tadellosen Gesundheit und fühlte nichts von B's Leiden.

War B krank, z.B. an Lungenentzündung, so beobachtete und kritisierte Sally selbst ihre fieberverwirrten Handlungen mit überlegener Ruhe und Belustigung, und kam ab und zu willkürlich, um die Nahrung zu nehmen, welche die Kranke zurückwies. [2] Sie war nie müde, empfand nie Hunger und Durst.

Diese Sonderbarkeiten beruhten vielleicht auf einer eigenartigen Anästhesie: mit geschlossenen Augen besaß sie weder Druck-, noch Schmerz-, noch Wärme-, noch Muskelempfindungen: sie fühlte einen Gegenstand nur, wenn sie ihn sah oder einen Ton hörte, der mit ihm verknüpft war.

Durch Suggestion konnten ihr diese Empfindungen zwar zurückgegeben werden, aber nur auf Stunden oder einen Tag. Sally zeigte einen merkwürdigen Scharfsinn und große

[1] Zum Folgenden vgl. Prince 153. 326. 333ft. 439ff. u. sonst.
[2] Prince 83f. 114ff.; vgl. 375 Anm. 1; 376 Anm. 1; 458.


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 60)

psychologische Beobachtungsgabe und starken Willen. [1] Die krankhafte B I war ihr ein Gegenstand mitleidiger Geringschätzung und beträchtlicher Abneigung.

Sie spielte ihr beständig die ausgesuchtesten Possen, schickte ihr z.B. durch die Post Spinnen und Schlangen zu, Tiere, die Miss B. von ganzer Seele verabscheute; sie wickelte B's fast fertige Häkelarbeiten wieder ab; schrieb ihr Briefe, in denen sie ihre Kenntnis von B's Schwächen spöttisch verwertete; zwang sie durch automatische Beeinflussung ihrer Rede, zu lügen, oder Handlungen zu begehen, bei denen B die Schamröte ins Gesicht stieg; schreckte sie durch Halluzinationen, u. dgl. m. In ihrer Bildung stand Sally unter B I, obgleich sie Englisch gut las und schrieb. Dagegen fehlten ihr die fremden Sprachen und die Kurzschrift, die Miss B. beherrschte.

Sechs Jahre nach dem ersten Schock - am 7. Juni 1899 - erlebte Miß B. einen zweiten, herbeigeführt durch ein Schreiben eben jenes Bekannten, der ihr den ersten verursacht hatte. Dieser Schock warf sie auf einige Stunden in einen Zustand völliger Zerrüttung, aus dem sie in Dr. Princes Gegenwart in einer Bewußtseinsphase erwachte, die derjenigen unmittelbar vor dem Schock des Jahres 1893 entsprach: sie war gesprächig, körperlich und geistig normal, halluzinierte aber den Arzt in jenen Bekannten um, und den Raum in ihre Stube in jenem Krankenhause, das der Schauplatz des ersten Schocks gewesen war.

Sie war gewissermaßen in die Zeit unmittelbar vor jenem Ereignis zurückversetzt. Diese 'Persönlichkeit' - B IV - , die seitdem häufig wiederkehrte, war indessen nicht mit der verhältnismäßig vollständigen Miss B. aus jener Zeit vor dem ersten Schock identisch. Nicht im Charakter, wie wir bald ausführlicher hören werden, aber auch nicht, was ihr Gedächtnis anlangt. B IV wußte nichts von B I's Leben während der letzten sechs Jahre, und nichts von Sally, kannte also auch B I's Bekannte, den Arzt usw . nicht .

Alles dies mußte sie allmählich aus dritter Hand erfahren, um sich in der Welt zurechtzufinden, in die sie soz. hineingefallen war; sie hatte zu 'angeln', wie Sally bald bemerkte, die für die 'Idiotin' ein Gemisch von Haß und Furcht zu empfinden lernte. Dagegen erinnerte B IV Miss Beauchamps Leben vor dem ersten Schock und natürlich - nachdem sie erst einigemal 'dagewesen' war - die einzelnen Zeitabschnitte ihres eigenen Daseins seit dem zweiten Schock.

Mit B I teilte sie verschiedenen erworbenen Besitz, z.B. die französische Sprache, aber auch die Erinnerung an die Zeit der 'vollständigen' Miss B., d.i. die Zeit vor dem Jahre 1893. Ihre Verwandtschaft mit B I bewies sie auch dadurch, daß sie, 'hypnotisiert', in dieselbe B II überging, die auch den hypnotischen Zustand von B I bildete.

Diese B II wußte sich sowohl mit B I als auch mit B IV zusammenhängend; sie erinnerte also als ihr Leben alle Perioden, in denen nicht Sally an der Oberfläche gewesen war, und bezeichnete sich, wenn man sie fragte, als B I oder B IV oder beide oder 'ich selbst'. Umgekehrt aber hatte weder B I noch B IV eine Erinnerung an die B II-Abschnitte; was ja der sonstigen Beobachtung entspricht, daß der eingeschränkte Zustand sich an den vollständigeren nicht erinnert.

Eine ähnliche Verschmelzung, wie in der Hypnose, schien übrigens auch im Schlafe vor sich zu gehen: B I und B IV erinnerten sich der gleichen Träume. Ich übergehe die Einzelheiten der tragikomischen Lebensgeschichte dieser drei

[1] B I sowohl als B IV scheinen der eingeschränkten, 'ersten' Phase der Félida X ...B II der kompletten Phase von Leonie und Felida zu entsprechen.


Kap V. Seelische Spaltungen.    (S. 61)

Ungleichen, die sich bald bis aufs Messer befehdeten, bald Waffenstillstand und Verträge miteinander schlossen. Eine gewisse Heilung des Falles trat schließlich dadurch ein, daß es Dr. Prince gelang, den vollständigen Zustand B II gewissermaßen als ganzen 'aufzuwecken', nicht aber, wie es zunächst regelmäßig geschah, entweder als B I oder als B IV; d. h. er sagte B II, daß sie während ihres Wachens als B I alles B IV Betreffende wissen würde, und umgekehrt als B IV alles B I Betreffende.

Die neue wache B II hatte dann gelegentlich Rückfälle in die Zustände B I und B IV, gewann aber mit der Zeit an Daseinskraft. Sally jedoch war durch diese Neuordnung von der Oberfläche verdrängt. Sie gestand schließlich, daß sie die anfänglichen Versuche auf diese Heilung hin vereitelt habe: sie war sich bewußt, daß sie gegen einen dauerhaften Zustand, wie eine wache B II ihn darstellen müßte, nur geringe Möglichkeiten des 'Hochkommens' haben würde; schon jede Besserung in Miss B.s Allgemeinbefinden habe sie 'eingeklemmt', [1] wie sie es nannte. Und die letzten Nachrichten von ihr lauten, sie sei am Leben, aber sozusagen nicht imstande, persönlich aufzutreten. [2]

Die Heranziehung solcher 'seltenen pathologischen Glücksfälle' wie Mme. B. oder Miss Beauchamp, u. a. zur Verdeutlichung sehr viel mehr verbreiteter Typen, mag Manchem bedenklich erscheinen. Ich will darum schließlich daran erinnern, daß sich ähnliche unabhängige und entwickelte Phasen bei einer leidlich verbreiteten psychologischen Gattung finden. Jedermann kennt die Persönlichkeitsbildungen des mediumistischen Trans; [3] wir dürfen sie fraglos in den meisten Fällen unbedenklich als entwickelte Traumphasen ansprechen, deren weitgehende innere Festigung es ihnen ermöglicht, von Trans zu Trans mit dem Anschein einer sich gleichbleibenden fremden Persönlichkeit aufzutreten.

Der angebliche 'Geist', sooft er vom Medium Besitz ergreift und derweil dessen Ich augenscheinlich verdrängt, hat seine ausgesprochenen Charaktereigentümlichkeiten und Erinnerungen: wir erkennen in ihm mühelos eine alternierende Phase, nicht unähnlich BI, B IV, Hanna II oder andern ähnlichen Teilpersönlichkeiten. Personen, die einen solchen 'Geist' in sich beherbergen, sind gar nicht selten.

Sie zeigen nun aber häufig nicht nur die Fähigkeit, in vorübergehendem Trans von jenem 'besessen' zu werden, also zum Alternieren der Phasen, sondern auch die Fähigkeit zu ihrer gleichzeitigen Ausnützung, d. h. zur automatischen Äußerung der 'Transpersönlichkeit' bei Wachsein des Mediums. Häufig kann dann die außerbewußte Transpersönlichkeit zum Unterredner des wachen Ich gemacht werden, das seine Fragen 'in Gedanken' oder mit lauten Worten stellt und die Antwort etwa durch automatische Schrift erhält.

Die Selbständigkeit und meist auch die Gleichzeitigkeit der Transphase wird dann häufig schon dadurch angedeutet, daß sie sich in einen Gegensatz zum Wachbewußtsein setzt, wie es innerhalb eines Bewußtseins entweder höchst

[1] 'squeezed',
[2] Vgl, auch Dr, Princes vorläufigen Bericht in Pr XV 466ff, - Eine graphische Darstellung (vgl. 0.) wäre: ---,
[3] Der lateinischen Herkunft des Wortes entsprechend hier so geschrieben


Kap V.  Seelische Spaltungen.    (S. 62) 

unwahrscheinlich, oder überhaupt unmöglich. Unwahrscheinlich wäre es z.B., daß in Fällen von Unterhaltung des normalen Bewußtseins mit jenem abgespaltenen nicht jede Frage ihre Antwort, jede Erwartung ihre Erfüllung finden sollte, falls jenes Frage- und Antwortspiel nur eine Komödie wäre, die ein Bewußtsein mit und in sich selber aufführt, etwa indem es sich abwechselnd in die zwei Rollen der Unterredner versetzt.

Wir beobachten aber, daß ebensogut der Wunsch und Versuch, solche automatische Leistungen in sich hervorzurufen, enttäuscht wird, als anderseits der Automatismus häufig auftritt ohne Erwartung und selbst gegen den Willen des wachen Ich.

Schier unmöglich aber erscheint es, daß dieses automatistische Bewußtsein den Versuch unternehme, die Persönlichkeit des Wachbewußtseins zu mystifizieren oder geradezu zu täuschen, falls es wirklich nur ein unmittelbar zusammenhängender Teil dieser Persönlichkeit wäre.

Solche Versuche, und zwar erfolgreiche, liegen z.B. vor, wenn das automatistische Bewußtsein sich schriftlich in Anagrammen oder sonstigen Verkappungen der Mitteilung ausdrückt, welche die bewußte Persönlichkeit gar nicht oder nur mit Mühe entziffern kann, [1] oder Flunkereien, falsche Vorhersagen u. dgl. vorbringt, die es auf gewundene Weise zu erklären sucht, wenn sie ihm als solche vorgehalten werden. [2]

Was aber auch hiervon zu halten sein mag: unzweifelhaft besitzen wir Berichte über Fälle sehr entwickelter 'Mediumität', [3] in denen die einzelnen Automatismen ganz überwältigende Beweise ihrer individuell-persönlichen Durchbildung und Geschlossenheit geliefert haben und gleichwohl die Bewußtseins-Gleichzeitigkeit der Leistungen mit Händen zu greifen war.

In einer Sitzung der berühmten Frau Piper z.B. (über die später mehr zu sagen sein wird) hörte die vorherrschende Transpersönlichkeit 'Dr. Phinuit' der Verbesserung des stenographischen Berichts der letztvergangenen Sitzung zu, Erklärungen gebend und verbessernd, also offenbar durchaus persönlich bei der Sache, während gleichzeitig die Hand - im Dienste also einer Phase noch außerhalb der Transphase - 'fließend und schnell über andere Dinge schrieb und mit einer andern anwesenden Person sich unterhielt'. [4]

Diese Hand schrieb im Namen eines Verstorbenen, und eine echt 'spiritistische' Deutung des Vorganges könnte seine Anführung hier streng genommen zu verbieten scheinen; aber einmal ist uns eine solche Deutung einstweilen noch mehr als problematisch, und überdies gebe ich zu bedenken, daß selbst sie, in ihren psychophysischen Voraussetzungen, offenbar die gleichen Probleme stellen würde, wie die vorher beschriebenen Tatsachen.

[1] s. zB. Pr II 228. Vgl. Rückwärtsbuchstabierung von Worten durch den Automatismus Pr V 513f.
[2] S. z.B. Pr III 26.
[3] 'Mediumismus' u. ä. Bildungen sind Barbarismen, aber zu sehr eingebürgert, um durch bessere ersetzt zu werden.
[4] Pr XIII 293; ähnlich 295; vgl. 395; ÜW VII 203ff. 447.

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