Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

  zum Inhaltsverzeichnis 


Kap VI. Seelische Spaltung im erweckten Leben.    (S. 63)

Wir dürfen nun nicht mehr zweifeln, daß auch im Bereiche ausgebildeter Mehrheit der Phasen eine wahre Gleichzeitigkeit der Strömungen bestehen kann.

Damit haben wir das Ziel unsrer kurzen Tatsachenübersicht erreicht und zugleich die wesentlichste Voraussetzung einer Vergleichung dieser Tatsachen mit denen der geistlichen Erfahrung: denn der wesentliche Vergleichspunkt, den wir vermuteten, war eben der lebendige Bestand und das allmähliche In-sich-heranreifen eines Komplexes außerhalb der Normalpersönlichkeit, der vielleicht auch die Gewaltsamkeit und Sinnlichkeit des Heiligungseinbruchs erklären könnte; - denn dies ist ja die Frage, die uns augenblicklich beherrscht. [1]

Gleichzeitiger Bestand und Reifung außerhalb des wachen Ich geben nun aber augenscheinlich erst eine Voraussetzung ab, unter welcher unsere Tatsachenreihe für die psychologische Deutung der Gnadeneinbrüche und -wandlungen wertvoll werden könnte.

Zwei andere Voraussetzungen müssen offenbar nicht minder erfüllt sein: einmal muß der gleichzeitig bestehende Komplex dem normalen Ich gegenüber von abweichendem Charakter sein können, ähnlich wie der Gottzustand dem Selbstzustand gegenüber abweichenden Charakters ist; sodann muß jener Komplex imstande sein, auf das Normal-Ich Einfluß zu gewinnen, Einbrüche in dieses zu vollziehen und gegebenenfalls ganz mit ihm zu verschmelzen und ihm dabei seinen Charakter mitzuteilen.

Die erste dieser beiden Voraussetzungen ist in den meisten Fällen der vorgeführten Typen ganz augenscheinlich erfüllt. Bei Felida, bei Leonie u.a. bestanden Gegensätze, wie von offener Fröhlichkeit und großem Ernst, kindlicher Ausgelassenheit und sachlicher Verständigkeit u. dgl. m.

Und ähnliche Beobachtungen wird der Leser, der sich die Mühe des Nachlesens angeführter Quellenwerke nimmt, in vielen anderen Fällen machen. [2] Mediumistische Transpersönlichkeiten, wie wir sie als gleichbedeutend mit alternierenden Ichen faßten, offenbaren ebenfalls meist eine Besonderheit des Charakters dem wachen Medium gegenüber. [3]

Eine merkwürdige Selbstbeobachtung dieser Art verdanken wir Prof. Dr. Staudenmaier, welcher 'Personifikationen' sehr verschiedenen Charakters bald als Gestalten zu sehen, bald auch mit ihm reden, ihm raten, ihn kritisieren zu hören pflegt. Zuweilen fühlt er diese Personifikationen in seiner Nähe und zuletzt gehen sie in ihn selber ein, und es bildet sich in ihm z.B. 'ein eigentümliches, erhebendes Gefühl aus, Herrscher... eines großen Volkes zu sein,... und eine Stimme spricht in ihm: Ich bin der deutsche Kaiser'. Aus ähnlichen Erfahrungen entwickelt sich

[1] Vorzügliche Beispiele langsamen unterbewußten Heranreifens 'zweiter' Phasen bei Flournoy, Des Indes 49ff. I36ff. 260ff.
[2] Z.B. in dem des presbyterianischen Geistlichen in The Alienist IV 287.
[3] S. z.B. PS XXVIII 577.


Kap VI. Seelische Spaltung im erweckten Leben.    (S. 64)

bei ihm die Personifikation 'Hoheit', welche für Sport, Militär, Jagd, vornehmes Auftreten, reichliches Essen und Trinken Interesse zeigt, dagegen Kinder, niedliche Dinge, Scherz und Heiterkeit verabscheut und seine Lebensweise in diesem Sinne beratend oder drohend zu beeinflussen sucht.

Eine andere Personifikation ist aber gerade 'das Kind' (!), eine dritte 'der Rundkopf', der gern Witzblätter liest, Bier trinkt, unterhaltende Gesellschaft aufsucht. Es bildet sich aber auch eine 'Personifikation des Göttlichen und Erhabenen, darstellend einen ehrwürdigen Greis, welcher ein natürlicher Gegner der vorher erwähnten Personifikationen ist und [das Subjekt] für Tugend und hohe Ziele zu begeistern sucht.' [1]

Wir beobachten hier augenscheinlich nicht nur den Vorgang der Bildung mediumistischer Transphasen, sondern lernen auch etwas bezüglich ihrer Verwurzelung in Teilansichten eines verwickelten Charakters. Je eine Seite des buntscheckigen Charakterganzen beschreitet hier den Weg der Bildung gesonderter Ichphasen, und es muß von vornherein wahrscheinlich sein, daß gerade moralische Gegensätze diese Spaltbildung und Wucherung begünstigen werden. [2]

Sehr ausgeprägt war eben diese Art der Gegensätzlichkeit, und was mittelbar mit ihr zusammenhängt, bei 'den Damen' Beauchamp, wie die obige Darstellung der Hauptbewohner jenes unglücklichen Körpers bereits vermuten läßt.

Die zarte und schüchterne B I zeigte bei geringer Eßlust eine instinktive Bevorzugung weichlicher Speisen, beispielsweise alles Süßlichen, Pflanzlichen, Milchigen, während sie berauschende oder anregende Genußmittel möglichst vermied; allen sportlichen Übungen war sie entschieden abhold.

In allen diesen Stücken stellte ihre Partnerin B IV ihr gerades Gegenteil dar: sie entwickelte vorzüglichen Appetit und eine viel vertragende Vorliebe für Kaffee, Wein und Zigaretten, und war bis zum Übermaß allen Leibesübungen im Freien ergeben. B I's Geschmacksrichtung in bezug auf Kleidung, Umgang und geistige Beschäftigungen wich nicht weniger von derjenigen ihrer ungleichen Schwester ab.

Während ferner B I den Angelegenheiten der Welt nur das allergeringste Interesse widmete, verschlang B IV die Zeitungen mit Genuß und nahm regen Anteil an allen Vorgängen der Zeit. B I war geduldig, rücksichtsvoll, liebenswürdig, jedem Streit und Widerspruch ausweichend, nie beleidigt, nie auf Rache bedacht; ihre Partnerin dagegen äußerst ungeduldig, selbstsüchtig, nur der eigenen Bequemlichkeit folgend, jähzornig und unduldsam, grob bei Widerspruch, zornig bei Widerstand, jederzeit kampfbereit, leicht beleidigt und auf Wiedervergeltung bedacht.

B I war leicht zu beeinflussen und unterwarf sich gerne fremdem Rat; nur in der Verfolgung eines Ideals soll sie starken Willen gezeigt haben, wiewohl zugleich das 'Bedürfnis nach der moralischen Unterstützung einer Aufsicht'. B IV im Gegensatz hierzu war im höchsten Maße unabhängig, auf sich selbst vertrauend, von unzähmbar eigensinnigem Willen, selten von Andern zu beeinflussen, unwillig, Rat anzunehmen oder sich fremder Beaufsichtigung zu unterwerfen. B I war so gut wie frei von Eitelkeit und Dünkel, B IV äußerst eitel und eingebildet. B I verbrachte beträchtliche Zeit mit Tagträumen, B IV nie einen Augenblick.

[1] Staudenmaier 29ff. 33. [2] Fälle dieser Art berichten z.B. Ladame in RH x. März x888 257; Guinon in Le Progres medicaI (2. ser.) XVI X32.


Kap VI. Seelische Spaltung im erweckten Leben.    (S. 65)

B I führte ein beschauliches Leben, B IV ein ungewöhnlich tätiges. B I hatte eine krankhafte Abneigung gegen menschlichen Verkehr und das Eingehen neuer Freundschaften; dagegen liebte sie den Umgang mit Alten, mit Kindern, Leidenden und Armen, denen sie mancherlei selbstlose Dienste erwies. B IV dagegen machte überaus gerne neue Bekanntschaften, konnte alte Leute und Kinder nicht ausstehen, und hatte ein übertriebenes Grauen vor allem, was mit Krankheit zusammenhing; Wohltätigkeitsbestrebungen waren ihr zuwider. [1]

Der Leser mag entscheiden, wieweit er in diesen ungleichen Geschwistern den Gegensatz von Dies- und Jenseitigkeit verwirklicht sehen will; einige Züge des Bekehrten - seine Selbstvergessenheit, seine mitleidige Nächstenliebe, seine Idealität, triebhafte Askese, Neigung zu Zuständen der Verinnerlichung und Meditation - sind an B I nicht zu übersehen .

Diese Beobachtungen machen es doppelt lehrreich, daß - wie wir erfahren - B I auch religiösen Vorstellungen ergeben [2] war, Erbauungsschriften bevorzugte, Kirche und Gottesdienste liebte und zur Einhaltung der Fasten- und Bußübungen neigte, [3] lauter Eigentümlichkeiten, von denen bei B I V natürlich das gerade Gegenteil bestand.

Sallys eigenartig abweichender Charakter ist schon in der früheren Übersicht des Falles ersichtlich geworden. In ihrem kindlich-launigen Übermut, ihrer elfischen Mutwilligkeit und backfischmäßig-drolligen Geschmeidigkeit war sie ganz sie selbst und keiner ihrer Miteinwohnerinnen vergleichbar. [4]

Die Möglichkeit großer Charakterverschiedenheit der einzelnen Phasen ist hiermit wohl erwiesen; und wer weiß, ob sich uns am Ende diese Möglichkeit nicht noch in eine Notwendigkeit verwandelt? Einstweilen fühlen wir die zweite unserer Voraussetzungen aus diesen Tatsachen schon fast natürlich sich ergeben: oder sollten so ungleiche Bewohner eines Leibes nicht dazu gedrängt sein, aufeinander einzuwirken und – im äußersten Falle - einander zu verschlingen?

Daß sie, solange sie gesondert nebeneinander bestehen, einen Zustand auch gefühlter Zerrissenheit setzen, begreifen wir ohne weiteres. Im Automatismus haben wir auch schon ein Verfahren kennengelernt, mittelst dessen die eine Phase sich der andern mitzuteilen vermag.

Den meisten Gewinn für das Verständnis der Heiligungsrucke dürfen wir von dem äußersten Fall dieser Einwirkungen erwarten: dem Einschmelzen der einen Phase in die andere. Auch diese finden wir als Tatsache bei seelischer Spaltung vor. Schon manches früher Gesagte läßt erkennen, daß gänzliche Geschiedenheit zweier Phasen, wobei die eine von der anderen nur durch Automatismen von anscheinend völlig 'fremder'

[1] Prince 288ff.
[2] religious in thought.
[3] aaO. 293f.
[4] aaO. 53. 56. 129. Vgl. die interessante Selbstbeob. von L. G. Winston (a saint and a sinner aber ohne Ichspaltung) in AJP XIX 562f. (Myself and I: a confession); Freuds 'Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose' JPPF I 357ff; den Fall Southwell bei Perty, Spir. 68; Verwandtes im Falle Hanna: Sidis u. Goodhart 105.


  nach oben 

Kap VI. Seelische Spaltung im erweckten Leben.    (S. 66)

Herkunft erfährt, bloß einen äußersten Fall darstellt, von welchem über mannigfache Abstufungen hin der Weg bis zur völligen Verschmelzung des Geschiedenen führt. Ein beschränkter Grenzverkehr gleichsam wird häufig gestattet. Das gelegentliche Durchsickern von Vorstellungen und Erinnerungen des 'Andern' z.B. erweist in vielen Fällen die lockere Beschaffenheit der Grenzabsperrung zwischen I und II. [1]

Eine andere, für uns besonders interessante Art des Verkehrs von I nach II, ist das Hereinragen des Affektes oder Gefühlstones, welcher der einen Phase zugehört, in eine andere. So kündigten sich bei Mlle. Smith die bevorstehenden Botschaften der sehr entwickelten und fast dauernd tätigen somnambulen Phasen häufig schon einige Zeit vorher durch anscheinend unbegründete Gefühlszustände an, - tolles Lachen, Traurigkeit. Furcht u. dgl. m. [2]

In solchen Fällen bleibt also die Vorstellung, die das Gefühl erklären könnte, völlig aus dem eben 'wachen' Bewußtsein verbannt; aber das Gefühl selbst strahlt in dieses hinein. -

Ein Anzeichen weiterer Verdünnung der Scheidewand ist es dann, wenn das wache Ich den Ablauf des Automatismus willkürlich in Gang oder zu Ende bringen, seinen Ablauf beschleunigen oder verlangsamen kann, [3] oder wenn automatisch Schreibende gelegentlich die dumpfe und kaum zu beschreibende 'Empfindung' bekennen, als ob 'irgendwie' ihre Persönlichkeit mit der des eigentlich Schreibenden sich zu vermengen beginne, sich ihr nähere, sie gewissermaßen neben sich spüre; [4] oder wenn sie mit größerer oder geringerer Bestimmtheit vorauswissen, was in den nächsten Augenblicken oder Minuten geschrieben werden wird. [5]

Dies alles sind Erscheinungen des Durchsickerns, die man als Ausdruck einer gewissen gegenseitigen 'Nähe' der seelischen Phasen auffassen mag; sie erreichen natürlich ihren äußersten Grad in dem Augenblick, da soz. die Scheidewände völlig hinschmelzen. Mlle. Smith z.B., deren somnambule Phase 'Leopold' sich häufig genug als persönlicher Führer und Berater in ihr Wachleben mischt, hat gelegentlich den Eindruck, als würde oder sei sie Leopold.

Das geschieht ihr hauptsächlich in der Nacht oder am Morgen beim Erwachen; sie hat zuerst die flüchtige Vision ihres Beschützers, dann ist es ihr, als ginge er langsam in sie über, als durchdränge er ihre ganze organische Masse, als würde er sie oder sie er. [6]

Wichtiger noch für unsere Zwecke ist aber in solchen Fällen der Umstand, daß bei Charakterverschiedenheit der Einzelphasen auch das Er-

[1] Vgl. z.B. Prince 253f.; ]astrow29If.; Flournoy, Des Indes 53.102.150. 337f.; Pr IV 317.
[2] Flournoy, Des Indes 59; vgl. 47 und Ribot, Mal. de la mém. 69ff.
[3] Pr XII 278.
[4] S. einen Fall bei W. ]ames, Princ. of Psychol. II 396.
[5] S. Prof. Sidgwick in Pr III 26; Frau Blüthgens Selbstbeobachtungen in ÜW XIV 322-5; Mrs. Verfall in Pr XX 22. 139f.; Mrs. Forbes in Pr XX 227. Im Gegensatz dazu Mrs. 'Holland' in Pr XXI 182f.
[6] Flournoy, Des Indes 117; vgl. 262f., 288; 'Le Barons' Schilderung des Endes seines 'Psychoautomatismus' in Pr XII 288; Mrs. Finchs Selbstbeobachtung (aus Light) in PS XXXIV 594; Hill Tout in Pr XI 310.


Kap VI. Seelische Spaltung im erweckten Leben.    (S. 67)

gebnis der Verschmelzung seinem Charakter nach von den verschmelzenden Charakteren der Teile sich abhängig zeigt.

Als zB. Einsicht und Kunst des Arztes aus Miss Beauchamps Teilen - wie berichtet .- ein Wesen ohne Erinnerungslücken wiedererstehen ließ, schien der Charakter dieser vollständigen Persönlichkeit, 'soweit sich dies prüfen ließ, weder [der von] B I noch der von B IV zu sein', sondern eine 'Mischung und Verbindung' [1] der beiden, obgleich mehr B I ähnelnd, als B IV, gerade wie die Miss Beauchamp der früheren Zeit im Charakter mehr Ähnlichkeit mit B I hatte.

[Dies neue Wesen] hatte die Gedrücktheit, die Leichterregbarkeit des Gefühls und den Idealismus von B I verloren; aber auch die ungeduldige Heftigkeit, die Glaubenslosigkeit, die Rachbegier und den Zynismus von B IV. Sie war eine Person von gleichmäßigem Temperament, frank und offen in ihrem Benehmen, ... natürlich und einfach in ihrer Art zu denken und sich zu geben. ..

Man hätte sie für B I in einem Zustande wiedererlangter geistiger Gesundheit halten können'. [2] Dabei legt Dr. Prince Nachdruck darauf, daß die Charaktereigentümlichkeiten der neuen, vollständigen Persönlichkeit das Ergebnis nicht so sehr einer einfachen Zusammensetzung, als vielmehr einer Verschmelzung [3] zu sein schienen. Die typischen Gefühle der einen oder andern Teilpersönlichkeit blieben erhalten; aber sie erlitten jene Abtönung und Mäßigung, die sie erst geeignet machte, als Eigenschaften einer harmonischen Persönlichkeit aufzutreten. [4]

Die geforderten Voraussetzungen für eine Verwertung der Spaltungspsychologie in der Deutung der geistlichen Einbrüche sind nun wohl gegeben; aber sofort stellt sich auch der Zweifel ein (auf den ich schon flüchtig vorauswies), daß anscheinend die Tatsachendarstellung weit über das notwendige und fruchtbare Maß hinausgetrieben sei.

Läßt sich denn wirklich der (vermutungsgemäß) außerhalb des Bewußtseins gebildete Heiligungskomplex als ausgebildete Ich-Phase, als 'zweite Persönlichkeit' denken? Äußert er sich etwa als solche durch Automatismen, ehe er die Herrschaft an sich reißt und 'einschmilzt'? Hat er seine besonderen Inhalte und Erlebnisse für sich, wie eine alternierende Phase?

Und bedeutet sein Einschmelzen jemals den Abschluß einer Biographie, wie wenn Hanna I und Hanna II, B I und B IV sich vereinigen, oder wie wenn Leonie I in der umfassenderen Leonie III verschlungen wird? Bleibt nicht gerade der inhaltliche Besitz des Ich nach jedem Durchbruch und jeder Bekehrung erhalten, während nur die Gefühlsbetonungen und Willensreaktionen bei gleichen Inhalten sich verändern? Und ist nicht das ein ganz und gar anderer Vorgang, als die Verschmelzung zweier Ich-Phasen?

Wir erwarten die Antwort auf diese Fragen vom Fortschritt der Erörterung und stellen zunächst fest, daß die Religionspsychologie allerdings meist andere Reifungsvorgänge, solche von unpersönlicher Art, als profane Analogien der geistlichen Einbrüche zu verwerten gesucht hat: Reifungsvorgänge, wie den lange vergeblich erstrebten Erwerb von Kennt-

            [1] a composite.
            [2] Prince 400f.
            [3] fusion.
            [4] Prince 404; vgl. 4IOf. 5* I


Kap VI. Seelische Spaltung im erweckten Leben.    (S. 68)

nissen oder Fähigkeiten, die lange umsonst gesuchte Lösung wissenschaftlicher, technischer oder künstlerischer Aufgaben, oft in tief erregender krönender Stunde. In einem Kapitel, welches ausdrücklich bezweckt, die 'Bekehrung als ein normales menschliches Erlebnis' zu erweisen, berichtet Starbuck von Personen meist jugendlichen Alters, denen jeweils nach langer vergeblicher Anspannung auf einem schwierigen Lerngebiet plötzlich ein entscheidendes Licht aufgeht und der Erfolg erblüht. [1]

Auch in der Psychologie des künstlerischen Schaffens hat man seit langem einen Zeitraum der Vorbereitung beobachten gelernt, in welchem sich das unwillkürliche Reifen des kommenden Werkes 'in der Tiefe' durch Unruhe, selbst durch Schmerzen bemerklich macht, oder durch die Art, wie - bei etwaigen Versuchen der Ausführung - mitunter ganz andere Teile plötzlich zutage treten, als die soeben mit Aufmerksamkeit verfolgten und gesuchten. [2]

Das Hervortreten des Werkes in der schöpferischen Stunde vollends ist von zahlreichen Lieblingen der Muse mit Worten geschildert worden, die in manchen Einzelheiten an die Erfahrungen des Mystikers erinnern.

Beethoven beschreibt es als einen 'geheimnisvollen Zustand', in dem die ganze Welt von einer großen Harmonie durchdrungen scheint, Berlioz als einen wunderbaren Zustand der Glückseligkeit, ein Delirium..., in dem sein Herz sich aufzulösen scheint, er selbst nach jemand schreien möchte, der ihn am Zerfallen hindere, das entweichende Leben aufhalte.

Dostojewsky deutet das Auftauchen eines innern Lichtes und die Empfindung der Nähe einer ewigen Harmonie an, und Nietzsche, in einer sehr bekannten autobiographischen Äußerung über den 'Zarathustra', spricht von 'Offenbarung in dem Sinne, daß plötzlich mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit etwas Sichtbares hörbar wird, etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft.

Man hört - man sucht nicht; man nimmt - man fragt nicht, wer da gibt;... eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Tränenstrom auflöst... Alles geschieht im höchsten Grad unfreiwillig, aber wie in einem Sturm von Freiheitsgefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit...'

Eine Analogisierung solcher Reifungsvorgänge und Einbrüche mit denen des Religiösen darf ohne weiteres zugestanden werden; sie krankt freilich (wie ich schon andeutete) an der Schwervergleichbarkeit von Reifungen, die mehr das Vorstellungs- oder 'technische' Leben betreffen, mit solchen, die mehr dem Gefühls- und Willensleben angehören. Vielleicht unter dem unklaren Eindruck dieser Unterschiede haben die Religionspsychologen

[1] Starbuck 137ff. Vgl. den Fall des Knaben Sch. in PS XXXII 686f. und den des 16jähr. Hauck PS XXXIII 440. Derartige Erfahrungen 'Religiöser', sogar durch Beten herbeigeführt, z.B. bei Joann von Kronstadt, AnDa Vetter u. a. Vgl. auch Th. Ribot, La logique des sentiments 88 über politische und ästhetische 'Bekehrungen', Jastrow 95 und Sir W. Hamiltons bekannten Bericht über seine Erfindung der Quaternionen in North British Rev. XLV 57 (auch Carpenter, Mental Physiology [1881] 537).
[2] Vgl. M. Dessoir, Asthetik u. allg Kunstwissenschaft (Stuttg. 1906) 229ff.


  nach oben 

Kap VI. Seelische Spaltung im erweckten Leben.    (S. 69)

denn auch noch andere profane Analogien herbeigezogen, die mehr eben dieses Gebiet betreffen: Vorgänge, wie das plötzliche Entstehen oder das ebenso plötzliche Erlöschen einer Liebesleidenschaft, das plötzliche Erfaßtwerden des Menschen durch Eifersucht, Furcht, Reue, und das plötzliche Aufhören von Angewohnheiten, Lastern, Begeisterungen für irgend etwas u. dgl. m. [1]

Alle solche Erfahrungen führen eine Verschiebung des 'persönlichen Energiezentrums', der 'Hitze- und Kältegebiete' mit sich," die sich wohl der ruckhaften Vergeistlichung vergleichen läßt.

Und doch fehlt auch solchen Analogien, bei aller formalen Richtigkeit, das eigentlich Durchgreifende, indem dasjenige, was sie der Erweckung vergleichen, von ungleich geringerem Kaliber ist, als die geistliche Wandlung.

Jeder, der sowohl dergleichen profane Verschiebungen als auch erweckliche Einbrüche erfahren hat, dürfte letzterer eine sehr viel tiefer gehende persönliche Bedeutsamkeit, weil einen sehr viel größeren Radikalismus der Instinktwandlung zuschreiben; sofern die mystische Wandlung eben nicht Einzelneigungen, sondern die allgemeinsten Grundinstinkte des ganzen Wesens betrifft.

Auch dürfte schon auf der bisher erreichten Stufe der Erörterungen fühlbar sein, wie einzigartig die aufwühlende, Ich-verlöschende Heftigkeit gerade des geistlichen Umschlags ist. Zu keiner Charakter- oder Meinungswandlung führt der Weg durch die Pforte ähnlich katastrophaler Erlebnisse. Diese Tatsache muß einstweilen als rätselhaft an unserem Wege stehen bleiben.

Dagegen bieten im gegenwärtigen Stadium der Untersuchung jene Analogien den unbestreitbaren Nutzen, daß sie uns auch bezüglich der geistlichen Wandlungen in eine Analyse der Vorstufen und Vorbereitungen hineintreiben, die uns gestatten könnte, jene Wandlungen auf eine Reifung von Komplexen außerhalb des Wachbewußtseins zurückzuführen und damit vielleicht ihre Gewaltsamkeit zu erklären.

Und hier - um wieder anzuknüpfen - scheinen allerdings zunächst die weniger entwickelten Formen seelischer Spaltung bereits genügende Anregungen der Deutung zu liefern. Die eigenwillig 'angestrengte' Strecke des geistlichen Weges arbeitet durchweg mit Vorstellungen - den religiösen und ethischen -, die nicht nur einen starken Gefühlston mit sich führen, sondern die auch motivische oder (wie die Schulsprache auch sagt) psychomotorische Kraft besitzen.

Hier nun muß auf den weiteren wichtigen Umstand hingewiesen werden, daß diese wirkungsgespannten Vorstellungen während jener geistlichen Vorbereitungszeit zum Teil in Zustände eingebettet werden, die mit den hypnoiden einige Verwandtschaft haben: wie die der Gebetshingabe und der Meditation; ganz abgesehen davon, daß sie oft in der Form geselliger Übung und Beeinflussung - Gottesdienst, Massenpredigt - aufgenommen werden, die ja auch dahin neigen, das persönliche Ich zu-

            [1] s. z.B. James, Varieties 179f. 198.
            [2] Vgl. James, aaO. 193-198.
 


Kap VI. Seelische Spaltung im erweckten Leben.    (S. 70)

gunsten eines unpersönlicheren und eben deshalb für Suggestionen empfänglicheren Zustandes zurückzudrängen, oder, wie man auch sagt, die Randgebiete des Bewußtseins mehr hervortreten zu lassen. [1]

Pflanzt also die geistliche Vorbereitungszeit ihre religiösen Gebilde dem reifenden Seelenboden vielfach in einer Art ein, die der Anregung hypnotischer oder außerbewußter Komplexe zu vergleichen ist, so wirken sich anderseits derartige Komplexe auch im profanen Leben vielfach in einer Weise aus, die an die Wirkungen außerbewußter Heiligungskomplexe erinnert.

Die Ausführung posthypnotischer Befehle z.B., die das Subjekt gleich einem Gnadeneinbruch überfallen kann, ist häufig das Ergebnis unterbewußter Vorstellungsentwicklungen, - sagen wir: -reifungen. [2] Sodann verweise ich nochmals auf die Tatsache, daß hypnotisch gesetzte oder im Nachttraum spontan erzeugte, aber jedenfalls außerbewußt verharrende Vorstellungen häufig ihren Gefühlston - ihre Stimmung – dem Wachbewußtsein aufdrängen, [3] oder aber sonst durch ihren wirkungskräftigen Inhalt einen dem Subjekt unbegreiflichen Einfluß auf das Wachleben gewinnen, Verwirrung stiftend und doch unter den Bann ihrer Führung zwingend. [4]

Oder es gelingt der Suggestion während Schlaf oder Hypnose, dem Subjekt eine Liebe zu gewissen Personen oder Dingen, oder aber eine Abneigung gegen sie einzuflößen, über deren Ursprung und seltsamen Zwang es sich natürlich völlig unklar ist. [5]

Diese Einwirkungen erreichen ihren höchsten Grad in jenen hypnotischen Suggestionen, durch die man häufig Charaktere gründlich und dauernd zu wandeln gewußt hat, die sich der bloßen Ermahnung im Wachen nicht zugänglich erwiesen.

Nachdem schon vor zwei Menschenaltern Teste, einer der Klassiker des 'Magnetismus', solche Anwendung der Suggestion vorgeschlagen, [6] ist sie neuerdings besonders auf dem weiten Gebiet der übeln Angewohnheiten, krankhaften Impulse u. dgl. von Dr. A. Voisin, noch mehr von BérilIon empfohlen und erprobt worden. [7]

BérilIons Theorie und Praxis sind viel umfochten, auch wohl bemäkelt worden. Unbezweifelbar sind indessen Erfolge, die er und (z.T. wohl durch ihn angeregt) auch Andere durch Suggestion und Hypnose erzielt

[1] S. die in diesem Sinne psychologisch interessanten Vorschriften des Ign. Loyola in Zusatz I, IV und VII zu den Exerzitien der ersten Woche (z.B. erste Einprägung eines Meditationsgegenstandes kurz vor dem Einschlafen). Vgl. auch das. Zus. VIII. IX; 2. Woche 1. Tag, nota IV und 3. Kontemplation. Deutlich der dem Wachen entrückte Zustand des Meditierenden bei Prof. H. E. Mitchell, Meditation (deutsch: Berlin [1907]) 28ff. Ganz hypnotistisch muten die indischen Meditationsvorschriften an. S. z.B. Visuddhi-Magga c. IV bei H. C. Warren, Buddhism in Translations (Cambridge, Mass. 1900) 293ff.
[2] Vgl. o. S. 46.
[3] Vgl. Dr. Princes (nach Obigem offenbar ungenügende) Theorie der Bekehrung: Prince 346ff.
[4] Beispiele bei ]anet, Aut. 248; Névr. I 27.
[5] Einen Fall von Schlafsuggestionen bei einem unglücklich Liebenden s. Steinbeck 420 (auch Kluge 274); von Haßsuggestion bei Ch. Richet, L'homme et l'intelligence 529. Vgl. auch Vogt in ZH VIII 348.
[6] Le Magnétisme explique (1845) 435 (Janet, Aut. 246).
[7] Bérillons Beobachtungen finden sich in mehreren Jahrg. der RH.


Kap VI. Seelische Spaltung im erweckten Leben.    (S. 71)

haben. Neben der Beseitigung schlechter 'Gewohnheiten' - wie Nägelkauen, Bettnässen, Selbstbefleckung - waren es auch vielfach rein 'moralische' Gebrechen: der Hang zur Lüge, [1] Dieberei, Trägheit, Grausamkeit, Störrigkeit, Heftigkeit, Feigheit u. ä., was die hypnotische Suggestion zu entwurzeln vermochte.

Dr. BramweIl, der sich Bérillons Lehren anschließt, berichtet aus der eigenen Praxis u. a. den Fall einer 22jährigen Unverheirateten, die von früh auf leidenschaftlich heftig und außergewöhnlich selbstsüchtig gewesen war; 'sie konnte nicht begreifen, weshalb sie irgend etwas für Andere tun sollte, gab ihre Charaktermängel ohne Scham zu und behauptete, jeden Zank und jede Verfeindung Anderer von Herzen zu genießen.

Ich suggerierte während der Hypnose, daß sie das Zanken aufgeben und statt dessen einen Genuß darin finden sollte, Andern sich hilfreich zu erweisen. Eine vollständige Wandlung griff Platz: sie wurde zärtlich, gut gelaunt und hilfreich. Selbst in Krankheiten war keine Spur ihrer früheren Reizbarkeit mehr zu bemerken. Bis jetzt (1895 bis 1903) ist kein Rückfall erfolgt.' [2]

Was diese flüchtigen Andeutungen immerhin glaubhaft erscheinen lassen, ist dies: der religiöse Komplex vermag außerhalb des klaren Wachewußtseins zu keimen und zu reifen; Anregungen von außen und vom wachen Ich her können diese Vorgänge fördern und vielleicht in Gang bringen; und das außerbewußte Reifen mag dann beitragen zur Deutung der Gewaltsamkeit, womit sich der Komplex in der Fülle der Zeit des Gesamt-Ichs bemächtigt.

Über den letzten Ursprung dieses Komplexes freilich dürfte damit noch wenig genug erkannt sein; denn Anregen bedeutet nicht Erschaffen, und solche Wirkung von Anregungen dürfte zum mindesten ihnen entgegenkommende Anlagen voraussetzen. Es wäre also fraglos eine seichte und voreilige Ansicht: daß genügend heftige 'Suggestionen' auf jeder beliebigen seelischen tabula rasa ein mystisch-religiöses Leben hervorzaubern könnten.

Auch in Voisins und Bérillons Subjekten dürften nur vorhandene Keime zur Reife gebracht worden sein. Immerhin ist ein erster Anfang des Verständnisses gewonnen, und wir wollen den betretenen Weg zunächst noch eine Strecke verfolgen. Die Verlockung zum Fortschritt liegt dabei in dem Umstande, daß bisher eben nur sehr gering entwickelte außerbewußte Phasen in Betracht gezogen wurden.

Wie wir früher im Gebiete des profanen Lebens das Anwachsen abgesonderter 'Rinnsale' zu 'Strömen' beobachteten, wollen wir jetzt betrachten, welche Entwicklungen in mystischen Seelen dem außerbewußten Komplex beschieden sind.

[1] Ein Fall von erfolgreicher Behandlung von Faulheit und Verlogenheit bei F. H. Gerrish, aus loum. of abnorm. Psychol. ref. in JPN XVII 261f.
[2] Bramweil 234f. Vgl. die Krankengeschichte der Jeanne Sch., durch Suggestionen aus einer geisteskranken Schwerverbrecherin allmählich in eine mustergültige Krankenschwester umgewandelt: A. Voisin in AMP 1884 11 289ff. Vgl. Myers I 198f. 459ff.; Tyko Brunnberg, Hypn. als pädagog. Hilfsmittel, ZH IX 206; Bernheim 314f.

  nach oben                  nächstes Kapitel 


Sie befinden sich auf der Website: 

Hier geht es zur Homepage!