REINKARNATION von Ronald Zürrer |
Internet-Veröffentlichung Juli 2008, |
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KAPITEL 6: REINKARNATION IM CHRISTENTUM
Eine wichtige Vorbemerkung
Es scheint mir allerdings wichtig und notwendig, gleich zu Beginn dieser Betrachtungen festzuhalten, daß die Lehre von Karma und Reinkarnation nicht das zentrale Thema der Botschaft Jesu Christi und des christlichen Glaubens ausmacht. Überraschend mag nun aber die Feststellung sein, daß diese gleiche Aussage auch in bezug auf die Botschaft der vedischen Religion Gültigkeit besitzt.
In beiden Fällen besteht nämlich die Essenz aller Unterweisungen und das empfohlene Ziel allen menschlichen Strebens gerade darin, nicht in dieser vergänglichen Welt wiedergeboren werden zu müssen, sondern sich – durch liebende Hingabe an Gott – allmählich zu läutern und so durch die Gnade Gottes letztlich aus dem Kreislauf der wiederholten Geburten und Tode befreit zu werden und zu Ihm zurückzukehren.
Mit anderen Worten: Es besteht durchaus kein Widerspruch zwischen den grundlegenden Glaubensinhalten des Christentums und jenen der vedischen Tradition. Die Sprachen, in denen die einzelnen offenbarten Schriften niedergeschrieben wurden, mögen verschieden sein, auch die äußeren Formen und Bräuche der Religiosität mögen sich unterscheiden, ja es mögen, in Anbetracht der unbegrenzt vielfältigen Aspekte Gottes, selbst unterschiedliche Gottesvorstellungen herrschen – dies alles ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß es sowohl im Christentum als auch in der vedischen Religion letztlich um dieselben Inhalte geht.
Denn: „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit; so wird der Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüstet sein.“ (2 Tim 3,16-17) Und: „Prüft alles, und behaltet das Gute!“ (1 Thess 5,21)
Es ist nicht das Ziel des vorliegenden Kapitels, durch das Aufrollen der Kirchengeschichte eine feindselige Debatte heraufzubeschwören, sondern es soll eine sachliche Diskussion angeregt werden, indem beleuchtet wird, wann und warum im Christentum die Karma- und Reinkarnationslehre verlorenging.
Es geht also nicht darum, die eine Lehre gegen die andere auszuspielen – als wären sie nicht miteinander vereinbar, als gäbe es nicht nur einen einzigen Gott und eine einzige Botschaft Gottes für alle Menschen, als wäre es nicht das gemeinsame Ziel aller wahrhaft religiösen Menschen, diesem einen Gott in Liebe und Hingabe zu dienen und die Schöpfung sowie alle Geschöpfe Gottes, die Natur, den Menschen, die Tiere und Pflanzen, als Brüder und Schwestern zu lieben und zu ehren.
So habe ich also auf den folgenden Seiten nicht vor, in endlose kleinliche Streitigkeiten um theologische Interpretationsfragen oder in irgendwelche irrelevante kirchen- oder dogmengeschichtliche Details abzugleiten.
Denn für jedes Argument, für jedes historische Faktum, für jedes Dogma und für jedes Gelehrtenzitat, das die Gegner der Reinkarnationslehre in solchen Diskussionen anzuführen pflegen, gibt es ein ebenso starkes Gegenargument, ebenso viele anderslautende Interpretationen der im Dunkeln liegenden geschichtlichen Zusammenhänge, ebenso viele gegenteilige Zitate von ebenso anerkannten und gelehrten Theologen und Kirchenhistorikern.
An der Tatsache, daß man eine solche Diskussion in der Tat endlos weiterführen könnte, zeigt sich indes vor allem eines: die Entfremdung der modernen Theologie von den tatsächlichen Inhalten der Religion.
Denn vor und über allen interpretatorischen Kleinlichkeiten steht doch die simple und wesentlich interessantere Frage, die uns an dieser Stelle hauptsächlich beschäftigen soll: Warum nicht? Warum sollte die Reinkarnationslehre, wenn sie richtig verstanden wird, nicht mit der ursprünglichen christlichen Botschaft vereinbar sein? – Gute Gegenfrage: Welche Reinkarnationslehre?
Denn es gibt tatsächlich manche falschverstandene Reinkarnationslehren, die sich nicht mit den christlichen Grundgedanken vereinbaren lassen; es gibt aber auch ein Reinkarnationsverständnis, das keinerlei Widersprüche zu den Hauptaussagen des Christentums aufweist. Daraus folgend erhebt sich nun die grundsätzliche Frage: Was sind denn eigentlich die Hauptaussagen des Christentums? – Jesus selbst beantwortet diese Frage wie folgt:
Einer der Pharisäer, ein Gesetzeslehrer, wollte Jesus auf die Probe stellen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten. (Mt 22,35–40; auch Mk 12,28–31; Lk 10,25–27)
Diese Antwort Jesu ist nicht nur die entscheidende Schlüsselstelle des Neuen Testaments und der gesamten Bibel, sondern darüber hinaus die Quintessenz jeder Religion, insbesondere auch der vedischen.
Alle Menschen – unabhängig von der jeweiligen Zeitepoche oder Kultur, unabhängig von ihrer Konfession oder jeglichen anderen äußerlichen Unterschieden – sind ewige Geschöpfe und Diener Gottes, und daher besteht das wichtigste Gebot für alle Menschen darin, diesen Gott mit ganzem Herzen und von ganzer Seele zu lieben und sich immerfort in Seinem Dienst zu beschäftigen. Dies ist die höchste Vollkommenheit, die es für den Menschen zu erreichen gilt.
Die wichtigste Unterweisung aller Lehren Jesu besteht also darin, daß der Mensch alle seine Handlungen – seinen Besitz, seinen Körper, seinen Geist und seine Worte – dem hingebungsvollen Dienste Gottes weiht, wodurch er seine Liebe zu Ihm zum Ausdruck bringt. Dies wird im Sanskrit als Bhakti bezeichnet, und die Bhagavad-gita erklärt an zahllosen Stellen immer wieder, daß dies die Essenz und das Ziel von Religion darstellt:
Gott sprach: Von allen Menschen ist derjenige, der großen Glauben besitzt und immer in Mir weilt, immer an Mich denkt und Mir liebevollen Dienst darbringt, am engsten mit Mir vereint, und er ist der höchste von allen. Das ist Meine Meinung. (Bg. 6.47)
Denke ohne Unterlaß an Mich; werde Mein Geweihter, erweise Mir deine Ehrerbietung und verehre Mich. Wenn du auf diese Weise völlig in Mich versunken bist, wirst du mit Gewißheit zu Mir kommen. (Bg. 9.34)
Und weil der Herr der Urgrund und Schöpfer aller Lebewesen ist, wird jemand, der seine Liebe zu Gott entwickelt hat, natürlich auch allen anderen Geschöpfen Gottes (den „Nächsten“) zugeneigt sein und sich nur zu ihrem Wohle einsetzen. Aus diesem Grunde beschreibt Jesus beide Gebote als gleichwertig und sich gegenseitig ergänzend, ebenso die Bhagavad-gita.
Wer in Hingabe handelt, wer eine reine Seele ist und wer Geist und Sinne beherrscht, ist jedem lieb, und jeder ist ihm lieb. (Bg. 5.7)
Nun zeigt aber die praktische Erfahrung, wie schwierig es ist, sich in seinem täglichen Leben vollumfänglich an diese höchsten Gebote zu halten; wie schwierig es folglich auch ist, in einem einzigen, einmaligen Erdenleben „also vollkommen zu sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Mt 5,48). So scheint es nicht nur gerecht, sondern geradezu notwendig, daß dem Menschen zur Erreichung dieses hohen Zieles mehrere aufeinanderfolgende Leben zur Verfügung gestellt werden.
Die auf diese Weise dem nach dem Göttlichen strebenden Menschen zur Verfügung gestellte Zeit offenbart sich uns als die Gnade Gottes. Sie befreit uns von dem beängstigenden Druck, unbedingt in diesem einen, „einzigen“ Leben Vollkommenheit zu erlangen. In dieser Freiheit und Angstlosigkeit erst sind wir imstande, echte Liebe zu Gott zu entfalten, denn wie kann es solche Liebe dort geben, wo Leistungsdruck und Angst vor dem Versagen waltet?
Auf diese Weise knüpft der Reinkarnationsgedanke lückenlos an die Lehren Jesu Christi an und ergibt im Vergleich mit dem heute gültigen christlichen Dogma der Einmaligkeit des Lebens wesentlich mehr Sinn. Bemerkenswert mag in diesem Zusammenhang auch die Tatsache sein, daß nicht ein einziges Wort in der Bibel den Reinkarnationsgedanken ausschließt und daß alle Gegenargumente nicht aus der Bibel, sondern aus festgefahrenen Denkgewohnheiten und kirchlichen Dogmen stammen. Wie und warum diese zustande gekommen sind, soll ebenfalls einen Gegenstand des vorliegenden Kapitels bilden.
Deshalb nochmals: Das Wissen um die Reinkarnation bildet zwar nicht das zentrale Thema der Lehren Jesu Christi (dies ist wohl einer der Gründe, weshalb nicht viele direkte Zeugnisse überliefert sind), doch aber eine ihrer wichtigsten Grundlagen; es war unter den Zeitgenossen Jesu wohlbekannt und wurde als selbstverständlich vorausgesetzt. Oder wie es der amerikanische Autor James Morgan Pryse in seinem Buch „Reinkarnation im Neuen Testament“ (erstmals erschienen 1900) ausdrückt:
Es wäre eine fast endlose Aufgabe, alle Absurditäten herauszusuchen, die sich aus dem Bemühen ergeben haben, die Lehren des Neuen Testaments getrennt von der Reinkarnation zu deuten, wenn doch in Wirklichkeit die Reinkarnation die Basis dieser Lehren ist. (3. deutsche Auflage 1984, S. 63)
Bevor wir uns nun diesen Themen zuwenden, möchte ich zunächst noch einmal einen kurzen Blick auf die grundlegenden theologischen Differenzen zwischen der Lehre von Karma und Reinkarnation einerseits und den heute gültigen christlichen Dogmen andererseits werfen.
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