REINKARNATION von Ronald Zürrer |
Internet-Veröffentlichung Juli 2008, |
|
KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Fünfzehnter Teil: CARL GUSTAV JUNG
Carl Gustav Jung
Eine dritte Persönlichkeit innerhalb der europäischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, die in unserem Zusammenhang besondere Erwähnung verdient, ist der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung (1875–1961), der wohl bedeutendste Schweizer Philosoph. Jung war ursprünglich ein Schüler Sigmund Freuds (1856–1939) gewesen, des österreichischen Psychiaters und Begründers der Psychoanalyse, entwickelte später jedoch eine eigene „Analytische Psychologie“ und Philosophie des „Unbewußten“.
Diese betrachtete, im Gegensatz zu Freuds einseitigem „Pansexualismus“ (Trieblehre), das Ganze des Seelenlebens als ein dynamisches System („Energetik der Seele“) auf dem Grund des schöpferischen „kollektiven Unbewußten“ und entwickelte sich mehr und mehr zur Mythenforschung und Religionsphilosophie.
In Jungs umfangreichem Schaffen (die gesammelten Werke umfassen 20 Bände) stoßen wir insbesondere auf zwei Stellen, an denen er sich ganz konkret mit der Fragestellung der Reinkarnation auseinandersetzt. Wir wollen sie in der Folge kurz betrachten, um daran anschließend eine knappe Analyse über Jung aus der Sicht der vedischen Psychologie zu wagen.
KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Fünfzehnter Teil: CARL GUSTAV JUNG
Der «Archetypus» der Wiedergeburt
Das erste Beispiel findet sich anläßlich der jährlichen Eranos-Tagung, die im August 1939 unter dem Thema „Die Symbolik der Wiedergeburt in der religiösen Vorstellung der Zeiten und Völker“ in Ascona/Schweiz stattfand. Auf dieser Tagung hielt C.G. Jung einen bemerkenswerten Vortrag über „Die verschiedenen Aspekte der Wiedergeburt“ (veröffentlicht im Eranos-Jahrbuch 1939).
Nach einer kurzen Erklärung der verschiedenen Formen der Wiedergeburt legt Jung im Verlaufe seines Vortrages die „Psychologie der Wiedergeburt“ dar. Er beginnt mit den einleitenden Worten:
Die Wiedergeburt ist kein Vorgang, den wir irgendwie beobachten könnten. Wir können ihn nicht messen, wägen oder photographieren. Er ist unseren Sinnen durchaus entzogen. Wir haben es hier mit einer rein psychischen Wirklichkeit zu tun, welche uns nur indirekt durch Aussagen vermittelt ist.
Man spricht von Wiedergeburt, bekennt sich zu Wiedergeburt, ist erfüllt von Wiedergeburt – das ist die uns genügende Wirklichkeit. ... Die Tatsache, daß Menschen von Wiedergeburt reden und daß es überhaupt einen solchen Begriff gibt, heißt nämlich, daß auch ein psychischer Tatbestand, den man damit bezeichnet, vorhanden ist.
Wie dieser Tatbestand beschaffen ist, können wir nur aus den Aussagen erschließen. Wir müssen daher mit der Weltgeschichte ein „Kreuzverhör“ anstellen über das, was sie als Wiedergeburt bezeichnet, wenn wir erfahren wollen, was Wiedergeburt ist. (S. 404f.)
Anschließend umreißt C.G. Jung konkret seine Vorstellung von dem „Archetypus der Wiedergeburt“:
„Wiedergeburt“ ist eine Aussage, die zu den Uraussagen der Menschheit überhaupt gehört. Diese Uraussagen beruhen auf dem, was ich als „Archetypus“ bezeichne. Alle das Übersinnliche betreffenden Aussagen sind im tiefsten Grunde stets vom Archetypus bestimmt, so daß es kein Wunder ist, wenn Aussagen über die Wiedergeburt bei den verschiedensten Völkern angetroffen werden.
Diesen Aussagen muß ein psychisches Geschehen zugrunde liegen, mit welchem die Psychologie, jenseits von allen metaphysischen und philosophischen Annahmen über die Bedeutung solcher Aussagen, sich auseinanderzusetzen hat. (S. 405)
Jungs persönliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Reinkarnation kommt noch deutlicher in unserem zweiten Zeugnis zum Ausdruck; es findet sich in seiner Autobiographie „Erinnerungen, Träume, Gedanken“. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um eine Autobiographie im strengen Wortsinn, sondern um Gespräche, die Jung kurz vor seinem Tode (im Alter von über 80 Jahren) mit seiner Mitarbeiterin und Sekretärin Aniela Jaff¦ geführt hat und in denen er, im Rückblick auf sein gesamtes Leben, wesentliche Gedanken über sein Werden und sein Werk erzählte.
Ein ganzes Kapitel ist dabei dem Thema „Über das Leben nach dem Tode“ gewidmet, woraus deutlich wird, wie sehr sich Jung mit diesem Gedanken beschäftigte, wenngleich er zuvor nie ausführlich darüber geschrieben hatte. Er beginnt seine Erzählung wie folgt:
Was ich Ihnen über das Jenseits und über ein Leben nach dem Tode erzähle, sind alles Erinnerungen. Es sind Bilder und Gedanken, in denen ich gelebt habe, und die mich umhergetrieben haben.
In gewisser Hinsicht gehören sie auch zum Fundament meiner Werke; denn diese sind im Grunde genommen nichts anderes als immer erneute Versuche, eine Antwort auf die Frage nach dem Zusammenspiel von „Diesseits“ und „Jenseits“ zu geben.
Ich habe aber nie expressis verbis über ein Leben nach dem Tode geschrieben; denn dann hätte ich meine Gedanken belegen müssen, und das kann man nicht. Nun, jetzt spreche ich sie eben aus. (S. 302)
Darauf erklärt Jung, daß die Parapsychologie „einen wissenschaftlich gültigen Beweis für das Weiterleben nach dem Tode darin erblickt, daß ein Verstorbener sich manifestiert – sei es als Spuk, sei es durch ein Medium – und Dinge mitteilt, die ausschließlich ihm bekannt gewesen sind“ (S. 203).
Hierauf führt er aus, daß es vor allem in Träumen vorkommen kann, daß wir Erfahrungen über oder Erinnerungen an ein Leben nach dem Tode gewinnen können. Er berichtet auch von einem eigenen Erlebnis in dieser Hinsicht:
Eine andere Erfahrung über die Entwicklung der Seele nach dem Tode machte ich, als ich – etwa ein Jahr nach dem Tode meiner Frau – eines Nachts plötzlich erwachte und wußte, daß ich bei ihr in Südfrankreich, in der Provence, gewesen war und einen ganzen Tag mit ihr verbracht hatte. Sie machte dort Studien über den Gral.
Das erschien mir bedeutsam; denn sie war gestorben, bevor sie die Arbeit über dieses Thema beendet hatte ... Der Gedanke, daß meine Frau nach dem Tode noch an ihrer geistigen Weiterentwicklung arbeitet – was immer man sich darunter vorstellen mag – schien mir sinnvoll, und darum hatte der Traum etwas Beruhigendes für mich. (S. 312)
Über den Tod im allgemeinen sagt er:
Der Tod ist ja auch eine furchtbare Brutalität – darüber darf man sich nicht täuschen – nicht nur als physisches Geschehen, sondern viel mehr noch als psychisches: ein Mensch wird weggerissen, und was bleibt, ist eisige Totenstille. Keine Hoffnung besteht mehr auf irgendeinen Zusammenhang, denn alle Brücken sind abgebrochen.
Menschen, denen man ein langes Leben gewünscht hätte, werden mitten aus dem Leben dahingerafft, und Nichtsnutze erreichen ein hohes Alter. Das ist eine grausame Realität, die man sich nicht verhehlen sollte. Die Brutalität und Willkürlichkeit des Todes können die Menschen so verbittern, daß sie daraus schließen, es gäbe keinen barmherzigen Gott, keine Gerechtigkeit und keine Güte. (S. 317)
Mit diesen Worten faßt Jung die Zweifel und Ängste zusammen, die jemand, der sich der Gesetzmäßigkeiten von Karma und Wiedergeburt nicht bewußt ist, angesichts des Todes haben könnte. Ihm selbst jedoch waren diese Themen nicht unbekannt, und so kommt er im Anschluß konkret darauf zu sprechen:
Nicht zu trennen von der Idee der Wiedergeburt ist diejenige des Karma. Die entscheidende Frage ist, ob das Karma eines Menschen persönlich sei oder nicht. Stellt die Schicksalsbestimmung, mit der ein Mensch sein Leben antritt, das Resultat von Handlungen und Leistungen vergangener Leben dar, so besteht eine persönliche Kontinuität. Im anderen Fall wird ein Karma von einer Geburt gewissermaßen erfaßt, so daß es sich wieder verkörpert, ohne daß eine persönliche Kontinuität bestünde ...
Ich weiß keine Antwort auf die Frage, ob das Karma, welches ich lebe, das Resultat meiner vergangenen Leben, oder ob es nicht vielmehr die Errungenschaft meiner Ahnen sei, deren Erbe in mir zusammenkommt. Bin ich eine Kombination von Ahnenleben und verkörpere deren Erbe wieder? Habe ich als bestimmte Persönlichkeit früher schon einmal gelebt und bin in jenem Leben soweit gekommen, daß ich nun eine Lösung versuchen kann? Ich weiß es nicht. (S. 319f.)
Hierauf folgt die wohl am häufigsten zitierte Aussage Jungs zur Reinkarnation:
Ich könnte mir gut vorstellen, daß ich in früheren Jahrhunderten gelebt habe und dort an Fragen gestoßen bin, die ich noch nicht beantworten konnte; daß ich wiedergeboren werden mußte, weil ich die mir gestellte Aufgabe nicht erfüllt hatte. ...
Wenn ich sterbe, werden – so stelle ich es mir vor – meine Taten nachfolgen. Ich werde das mitbringen, was ich getan habe. ... Es ist der Sinn meiner Existenz, daß das Leben eine Frage an mich hat.
Oder umgekehrt: Ich selber bin eine Frage, die an die Welt gerichtet ist, und ich muß meine Antwort beibringen, sonst bin ich bloß auf die Antwort der Welt angewiesen. Das ist die unpersönliche Lebensaufgabe, die ich nur mit Mühe realisiere. ...
Die Frage des Karma ist mir dunkel, wie auch das Problem der persönlichen Wiedergeburt oder der Seelenwanderung. Libera et vacua mente vernehme ich mit Achtung das indische Bekenntnis zur Wiedergeburt und halte Umschau in meiner Erfahrungswelt, ob sich nicht irgendwo und irgendwie etwas ereignet, das billigerweise in die Richtung der Reinkarnation weisen könnte.
Ich sehe natürlich ab von den bei uns relativ zahlreichen Zeugnissen des Glaubens an Reinkarnation. Ein Glaube beweist mir nämlich nur das Phänomen des Glaubens, aber keineswegs den geglaubten Inhalt. Dieser muß sich mir an und für sich empirisch offenbaren, um akzeptiert zu werden.
Bis vor wenigen Jahren habe ich trotz hierauf gerichteter Aufmerksamkeit nichts in dieser Hinsicht Überzeugendes zu entdecken vermocht. Vor kurzem aber habe ich bei mir selber eine Reihe von Träumen beobachtet, welche nach allem Dafürhalten den Reinkarnationsvorgang bei einer mir bekannten verstorbenen Persönlichkeit beschreiben. Gewisse Aspekte ließen sich sogar mit einer nicht abzuweisenden Wahrscheinlichkeit bis in die empirische Wirklichkeit verfolgen.
Etwas Ähnliches habe ich aber nie wieder beobachtet oder vernommen, so daß ich keine Vergleichsmöglichkeiten habe. Da somit meine Beobachtung subjektiv und einmalig ist, möchte ich nur ihr Vorhandensein mitteilen, nicht aber ihre Inhalte. Ich muß aber gestehen, daß ich nach dieser Erfahrung das Problem der Reinkarnation mit etwas anderen Augen betrachte, ohne allerdings in der Lage zu sein, eine bestimmte Meinung vertreten zu können. (S. 320ff.)
KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Fünfzehnter Teil: CARL GUSTAV JUNG
C.G. Jung als Suchender
Eine berechtigte Frage: Warum widmen wir uns also, im Rahmen unserer Betrachtungen über die Wissenschaft der Reinkarnation, derart ausführlich der Person C.G. Jungs, da er doch, wie er selbst offen zugibt, keine bestimmte Meinung dazu verteten kann? Was können wir trotz dieser Tatsache von ihm lernen? –
Aus den zitierten Äußerungen geht hervor, daß Jung ein typisches Beispiel für das ist, was die vedischen Schriften als Jnani (Sanskrit, wörtlich etwa: „Denker“, „Suchender“, „nach Wissen Strebender“) bezeichnen. Ein Jnani ist jemand, der nach Antworten auf die grundlegenden Fragen des Daseins forscht und nach einem Ausweg aus dem Ozean der materiellen Unzulänglichkeiten und Leiden sucht. Er hat jedoch das Gefühl, daß er sich, wie es Jung formulierte, „mit seiner eigenen Wahrheit behelfen muß“.
Der Jnani strebt zwar nach Wissen um die Zusammenhänge der menschlichen Existenz und der Absoluten Wahrheit und ist bereit zu lernen, und es drängt ihn auch, mit seinen Mitmenschen Wissen zu teilen – doch obwohl er stets bestrebt ist, etwas Allgemeingültiges zu sagen, wird er doch immer wieder mit der verzweifelten Tatsache konfrontiert, daß er im Grunde gar keine allgemeingültigen Aussagen machen kann („Ich habe aber nie expressis verbis über ein Leben nach dem Tode geschrieben; denn dann hätte ich meine Gedanken belegen müssen, und das kann man nicht.“).
Dies wiederum hängt damit zusammen, daß seine empirischen Erfahrungen nicht über einen subjektiven Charakter hinausgehen. Weil ihm jedoch kein anderer Vorgang des Wissenserwerbs bekannt ist als der empirische, ist er gezwungen, sich doch immer wieder auf diesen zu berufen („Dies muß sich mir an und für sich empirisch offenbaren, um akzeptiert zu werden.“).
C.G. Jung war also ein Jnani, ein Forschender, ein nach Wissen Suchender. Oder mit seinen eigenen Worten:
Wenn aber noch ein Karma übrig bleibt, das erledigt werden muß, so fällt die Seele wieder in die Wünsche zurück und begibt sich erneut in das Leben, vielleicht sogar aus Einsicht, daß noch etwas zu vollenden sei. In meinem Fall muß es in erster Linie ein leidenschaftlicher Drang zu verstehen gewesen sein, welcher meine Geburt bewirkt hat.
Denn er ist das stärkste Element meines Wesens. Dieser unersättliche Trieb nach Verständnis hat sich sozusagen ein Bewußtsein geschaffen, um zu erkennen, was ist und was geschieht. (S. 324)
Man muß es Jung sehr hoch anrechnen, daß er, über den Durchschnitt der meisten Empiriker hinaus, immer ehrlich geblieben ist und es im Zweifelsfalle – also dann, wenn er nichts Schlüssiges aussagen konnte – vorzog zu schweigen, als allzu Subjektives als objektive Wahrheit hinzustellen. Jung sagt über sich selbst:
Wenn man sagt, ich sei weise oder ein „Wissender“, so kann ich das nicht akzeptieren. Es hat einmal Einer einen Hut voll Wasser aus einem Strom geschöpft. Was bedeutet das schon? Ich bin nicht dieser Strom. (S. 357)
Obwohl ihm, auch angesichts seines fortgeschrittenen Alters, die Fragestellung der Reinkarnation natürlich sehr nahe stand und er empfänglich gewesen wäre für eine konkrete Antwort, war er doch auf Vermutungen und Spekulationen angewiesen, weil ihm eine echte, nicht durch die Grenzen der Empirie beschränkte Wissensquelle verschlossen blieb – eine Wissensquelle, die in der vedischen Wissenschaft als Shabda (Hören aus autoritativer Quelle) beschrieben wird.
Denn Jung wußte wohl um das offene Geheimnis, daß wir wirkliches, echtes Wissen, welches den Ergebnissen der philosophischen Spekulation überlegen ist, nur dadurch erlangen können, daß wir es von einem bereits Wissenden empfangen. Er verwendete in diesem Zusammenhang sogar das für ihn sonst eher untypische, doch aber höchst zutreffende Wort aus der Sanskritsprache: Guru (wörtlich „Lehrer, Meister“). An einer früheren Stelle in seiner Autobiographie hatte er bereits eingestanden:
Ich hätte mir damals, in den schrecklichen Finsternissen meines Geistes, nichts Besseres gewünscht als einen wirklichen, konkreten Guru, einen überlegen Wissenden und Könnenden, der mir die unwillkürlichen Schöpfungen meiner Phantasie entwirrt hätte. (S. 187)
Gemäß der Bhagavad-gita muß ein solcher Guru ein Wissender sein, der sein Wissen nicht durch Spekulation, sondern durch Shabda, durch Hören von einem ebenfalls Wissenden, empfangen und dann in seinem eigenen Innern verwirklicht hat:
Versuche die Wahrheit zu erfahren, indem du dich an einen spirituellen Meister wendest. Stelle ihm in ergebener Haltung Fragen und diene ihm. Die selbstverwirklichten Seelen können dir Wissen offenbaren, weil sie die Wahrheit gesehen haben. (Bg. 4.34)
KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Fünfzehnter Teil: CARL GUSTAV JUNG
Die empirische Betrachtungsweise der vedischen Schriften
Nicht nur als Jnani, sondern auch unter einem anderen Aspekt betrachtet, steht C.G. Jung als Beispiel für ein im Abendland sehr häufiges Phänomen: die empirische Betrachtungsweise der Veden.
Obwohl er 1938 Indien einige Wochen lang persönlich bereist hatte („Ich hatte damals bereits viel über indische Philosophie und Religionsgeschichte gelesen und war vom Wert östlicher Weisheit zutiefst überzeugt.“ – Autobiographie S. 278), bezog er seine Kenntnis vedischer Kultur und Philosophie hauptsächlich aus den Werken westlicher Indologen, mit denen er zum Teil persönlichen Kontakt pflegte. So ist es verständlich, daß Jung auch deren Ansichten und Interpretationen übernahm, wie die folgende Aussage veranschaulicht:
In einem Lande, dessen geistige Kultur sehr differenziert und viel älter ist als die unsrige, nämlich in Indien, gilt der Gedanke der Reinkarnation als ebenso selbstverständlich wie bei uns derjenige, daß Gott die Welt erschaffen habe.
Die gebildeten Inder wissen, daß wir nicht so denken wie sie, aber das kümmert sie nicht. Der geistigen Eigentümlichkeit östlichen Wesens entsprechend wird die Folge von Geburt und Tod als ein endloses Geschehen, als ein ewiges Rad, gedacht, das ohne Ziel weiterrollt. Man lebt und erkennt und stirbt und fängt wieder von vorne an ... (S. 319)
Hier zeigt sich eines der im Abendland typischen Mißverständnisse, wonach die Wiedergeburt im östlichen Denken ein „zielloser“ Kreislauf des Werdens und Vergehens ohne letztliche Bestimmung sei. Diese Behauptung wird jedoch von den ursprünglichen vedischen Quellentexten nicht bestätigt.
Vielmehr weisen diese deutlich darauf hin, daß die wiederholten Geburten und Tode in der vergänglichen, materiellen Welt sehr wohl ein Endziel haben, nämlich daß die Seele nach allmählicher Erhebung und Reinigung letzten Endes befreit werde und in ihre ewige, spirituelle Heimat zurückkehre:
Diejenigen, die frei sind von Geltungssucht, Illusion und falscher Gemeinschaft, die das Ewige verstehen, die nichts mehr mit materieller Lust zu tun haben wollen und die befreit sind von der Dualität von Glück und Leid, gelangen in das ewige spirituelle Königreich ... und kehren nie wieder in die materielle Welt zurück. (Bg. 15.5–6)
Das, was die Vedantisten als unmanifestiert und unfehlbar beschreiben und was als der höchste Bestimmungsort bezeichnet wird, der Ort, von dem man, wenn man ihn erreicht, nie wieder zurückkehrt – dies ist das spirituelle Reich Gottes. (Bg. 8.21)
Welche Motive und Hintergründe dazu geführt haben, daß solche eindeutigen Aussagen der vedischen Schriften von den westlichen Indologen nicht so gelehrt wurden, wie sie sind, und daß daher die indische Religion im christlichen Abendland mit zahlreichen negativen Vorurteilen behaftet ist (wie: ziellose Seelenwanderung, gnadenloses Karma, Selbsterlösung, Vielgötterei, grausames Kastenwesen usw.) – dies soll Gegenstand des abschließenden Teils des vorliegenden Kapitels sein.
|
||
Sie befinden sich auf der Website: |
|
Hier geht es zur Homepage! |