REINKARNATION
Die umfassende Wissenschaft
der Seelenwanderung

von Ronald Zürrer

Internet-Veröffentlichung Juli 2008,
(c)
Govinda-Verlag GmbH

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Achter Teil: PHILOSOPHIE UND LITERATUR ZWISCHEN KANT UND GOETHE

Philosophie und Literatur zwischen Kant und Goethe

Wie wir in den folgenden Teilen dieses fünften Kapitels zur Geschichte des Reinkarnationsgedankens sehen werden, war das Wissen um die Seelenwanderung seit Lessing in der europäischen, insbesondere der deutschen Geistesgeschichte eine allgemein bekannte Tatsache.

In gelehrten Kreisen disputierte man weniger über ihre Richtigkeit oder Falschheit, als man sie vielmehr bereits als richtig akzeptierte, um dann mit den verschiedensten Vorstellungen und Gedanken zu spielen, welche Konsequenzen das Naturgesetz der Wiedergeburt auf das praktische Leben haben könnte.

So war der Reinkarnationsgedanke nicht mehr das alleinige Eigentum der analytischen Denker und Philosophen, sondern er wurde mehr und mehr auch von den Dichtern und Künstlern und mit ihnen auch allmählich vom allgemeinen Volk aufgenommen – nicht als bloßer logischer Gedanke und einzig vernünftige Erklärung der Welt, sondern als ein aktiver Lebensimpuls, dessen man sich auch gefühlsmäßig gewiß war.

Dies wird insbesondere während der Zeit der Romantik deutlich, auf die ich im nächsten Teil zu sprechen kommen werde; zuvor sollen jedoch kurz jene Philosophen und Dichter zu Worte kommen, die unmittelbar nach Immanuel Kant das geistige Leben Deutschlands beeinflußten.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Achter Teil: PHILOSOPHIE UND LITERATUR ZWISCHEN KANT UND GOETHE

Philosophie: Der Deutsche Idealismus

Die Epoche der deutschen Philosophiegeschichte, die sowohl zeitlich als auch ideell an Kant, über diesen hinausgehend aber auch an Platon und die Neuplatoniker anknüpfte, wird als der Deutsche Idealismus bezeichnet, dessen Hauptvertreter Fichte, Hegel und Schelling heißen. Auch von ihnen sind Zeugnisse ihrer Kenntnis der Seelenwanderung überliefert.

So erklärt der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) in dem folgenden Zitat aus seiner Schrift „Die Bestimmung des Men­schen“ zunächst den Unterschied zwischen der „rein geistigen“ (also spirituellen) Seele einerseits, dem wahren Selbst, das unver­änderlich und unsterblich ist, und der „sinnlichen Ordnung“ (dem materiellen Körper) andererseits, der einer „unübersehbaren Reihe“ von Reinkarnationen unterworfen ist.

Daran anschließend bringt er seine Überzeugung zum Ausdruck, daß die „Bestimmung des Menschen“, zu deren Erfüllung durch die Tat er aufruft, eben dar­in bestehe, die an die sinnliche Welt gebundene Vergänglichkeit zu überwinden, die „übersinnliche (spirituelle) Welt“ zu erfahren und so „die Ewigkeit zu ergreifen“, das heißt, sich von dem Kreislauf der Wiedergeburten zu lösen: 

Ich bin Glied zweier Ordnungen; einer rein geistigen, in der ich durch den reinen Willen herrsche, und einer sinnlichen, in der ich durch meine Tat wirke. ... Diese zwei Ordnungen, die rein geistige und die sinnliche, welche letztere aus einer unübersehbaren Reihe von besonderen Leben bestehen mag, sind von dem ersten Augenblicke der Entwicklung einer tätigen Vernunft an in mir und laufen nebeneinander fort ...
 

Ich bin unsterblich, unvergänglich, ewig, sobald ich den Entschluß fasse, dem Vernunftgesetze zu gehorchen; ich soll es nicht erst werden. Die übersinnliche Welt ist keine zukünftige Welt, sie ist gegenwärtig; sie kann in keinem Punkte des endlichen Daseins gegenwärtiger sein als in dem andern; nach einem Dasein von Myriaden Lebenslängen nicht gegenwärtiger sein als in diesem Augenblicke ...
 

Ich ergreife durch jenen Entschluß die Ewigkeit und streife das Leben im Staube und alle anderen sinnlichen Leben, die mir noch bevorstehen können, ab – und versetze mich hoch über sie. Ich werde mir selbst zur eigenen Quelle alles meines Seins und meiner Erscheinungen ...
 

Der Mensch ist nicht Erzeugnis der Sinnenwelt, und der Endzweck seines Daseins kann in derselben nicht erreicht werden. Seine Bestimmung geht über Zeit, und Raum, und alles Sinnliche hinaus. (aus: Drittes Buch. Glaube)

An einer anderen Stelle tritt Fichtes Überzeugung der Reinkarnation und der sich möglicherweise über mehr als ein Leben zu erstreckenden Reinigung sowie auch sein unerschütterliches Streben nach Unsterblichkeit noch deutlicher hervor: 

Es ist der erhabenste Gedanke unter allen, daß ich nie aufhören kann zu wirken und mithin nie aufhören kann zu sein. Das, was man Tod nennt, kann mein Werk nicht abbrechen.

Auch das Denken und Schaffen des schwäbischen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der zu seiner Zeit das anerkannte Oberhaupt der deutschen Philosophie war und eine Vormachtstellung erreichte, wie sie selbst Kant kaum gehabt hatte, war durchwoben von dem Reinkarnationsgedanken, der, oft unausgesprochen, wie bei Fichte als tragender Unterton vorhanden war.

In seinen Vorlesungen über die „Naturreligion“ (1824), in denen er unter anderem auf die alte ägyptische Religion und auf die buddhistische Philosophie eingeht, behandelt Hegel dann eingehend die Lehre von der Seelenwanderung, die er als „höher“ bezeichnet, da sie nach der Unsterblichkeit strebe und dabei mehrere Verkörperungen zulasse (nachzulesen in: „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“, Erster Band, S. 134ff.)

Dieser Reinkarnationsgedanke, der sowohl bei Hegel als auch bei seinem jüngeren schwäbischen Philosophenkollegen Friedrich Wil­helm Josef von Schelling (1775–1854) auftauchte, wurde bei beiden angeregt durch ihren gemeinsamen Freund und Mitstudenten am Tübinger Stift, den lange unverstandenen mystischen Dichter Friedrich Hölderlin (1770–1843).

Die hymnische Dichtung Hölderlins verkörpert wohl am typischsten das idealistische Streben seiner Zeit. Er formulierte den Reinkarnationsgedanken zwar nie konkret in Form einer Philo­sophie, aber dennoch ist dieser, wie bei vielen anderen damaligen Dichtern, seine unausgesprochene und natürliche Überzeugung. Es herrscht die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, die man zu ken­nen wähnt und in denen man Bekanntes sucht: 

... Hinüberzugehn und wiederzukehren.

So sprach ich, da entführte

Mich schneller, denn ich vermutet,

Und weit, wohin ich nimmer

Zu kommen gedacht, ein Genius mich

Vom eigenen Haus. Es dämmerten

Im Zwielicht, da ich ging,

Der schattige Wald

Und die sehnsüchtigen Bäche

Der Heimat; nimmer kannt ich die Länder;

Doch bald, in frischem Glanze,

Geheimnisvoll

Im goldenen Rauche, blühte

Schnellaufgewachsen,

Mit Schritten der Sonne,

Mit tausend Gipfeln duftend,

Mir Asia auf, und geblendet sucht

Ich eines, das ich kennete...

(in: „Patmos“)

In diesem Zusammenhang schreibt der Gelehrte Emil Bock in „Wiederholte Erdenleben“ (1932): 

Feierliche, im Gefühl verschwebende, zum Mythos werdende Erinnerungen wurden, da es eine ausgesprochene Philosophie der Wiederverkörperung noch nicht eigentlich geben konnte, zum Quell einer duft- und farbenreichen Wiederverkörperungspoesie ...

 

Hierher gehört vor allem das große Erwachen des inneren Griechenland in den Seelen so vieler großen Geister der damaligen Zeit ... Keine Seele wurde so elementar von der Erinnerung an die griechische Heimat ergriffen wie Friedrich Hölderlin. (S. 75)

Die starke Auseinandersetzung mit dem Tod und dem, was möglicherweise danach kommen würde, prägte das gesamte Leben und Schaffen Hölderlins und kommt insbesondere in seiner unvollendeten Tragödie „Tod des Empedokles“ (1799) zum Ausdruck.

Die tragischheldenhafte Persönlichkeit des bereits erwähnten sizilianischen Arztes und Wundertäters Empedokles (483–423), der von seinen Anhängern als Gott verehrt wurde, sich jedoch später aus Sühne über diese Lästerung in den Ätna stürzte, faszinierte Hölderlin sehr, und er legte ihm die folgenden Worte in den Mund: 

[Als der Jüngling Pausanias das baldige „Vergehn“

des Empedokles beklagte, sprach Empedokles:]

 

... Vergehn? Ist doch

Das Bleiben gleich dem Strome, den der Frost

Gefesselt. Töricht Wesen! schläft und hält

Der heilge Lebensgeist denn irgendwo,

Daß du ihn binden möchtest, du, den Reinen?

 

[Dann später alleine im Monolog, in der Reflexion

über seinen bevorstehenden Tod:]

 

Ich komme. Sterben? nur ins Dunkel ists

Ein Schritt. Und sehen möchtst du doch, mein Auge!

Im idealistischen Streben und Sehnen werden Vergangenheit und Zukunft, Tod und Leben relativ, und das eine ist Pforte zum anderen. Symbol für die wandernde Seele ist zum Beispiel auch die Sonne und der Kreislauf des Wassers. In einem hymnischen Entwurf mit dem Titel „Palingenesie“ (der griechische Ausdruck für Seelenwanderung) schreibt Hölderlin: 

Mit der Sonne sehn’ ich mich oft vom Aufgang bis zum Niedergang den weiten Bogen schnell hineilend zu wandeln, oft, mit Gesang zu folgen dem großen Vollendungsgange der alten Natur ... Aber es wohnet auch ein Gott in dem Menschen, daß er [der Mensch] Vergangenes und Zukünftiges sieht, und wie vom Strom ins Gebirg hinauf an die Quelle lustwandelt er durch Zeiten.

Hölderlin blieb, obwohl er in Kontakt mit Fichte, Hegel, Schelling, Schiller und Herder stand, zu Lebzeiten so gut wie unbekannt, gehörte nie längere Zeit einem Dichterkreis an und verbrachte die letzten Jahrzehnte seines von Tragik und Sehnsucht erfüllten Lebens seit 1806 in trübsinniger Umnachtung in Tübingen.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Achter Teil: PHILOSOPHIE UND LITERATUR ZWISCHEN KANT UND GOETHE

Literatur: Sturm und Drang

Der Vorläufer der literarischen Epoche der Romantik war die „Geniezeit“ des Sturm und Drang (so genannt nach dem gleichnamigen Drama des Dichters F.M. Klinger, 1766), die sich von 1756 bis etwa 1790 erstreckte. Der Sturm und Drang ist geprägt durch das Auflehnen der jungen Generation gegen die allzu vernunftbetonte Aufklärung und Philosophie Kants und legt eine starke Betonung auf die irrationalen Kräfte des Gefühls und der Phantasie.

Seine Wegbereiter waren die bereits erwähnte Naturphilosophie Jean-Jacques Rousseaus, die betont religiöse Haltung des deutschen Philosophen Johann Georg Hamann (1730–1788) sowie die Schriften des Dichters und Kulturphilosophen Johann Gottfried Herder (1744–1803).

Herder, der in Königsberg selbst ein Schüler Kants gewesen war, war nicht nur Dichter, sondern auch Philosoph und Theologe und bekleidete sogar kirchliche Ämter, konnte sich aber nie mit der christlichen Arroganz anfreunden. So war er zeitlebens hin- und hergerissen zwischen den krichlichen Dogmen, die er nach außen vertreten mußte, und seinen persönlichen Interessen, die ihn in ganz andere Gefilde trugen.

Er lehrte, daß zwischen Natur und Mensch ein tiefer Zusammenhang bestehe und daß wahre Kultur wiederum bedeute, diesen freizulegen. Die Kluft zwischen der Natur und der zeitgenössischen Kultur versuchte er durch ein Streben nach den „Ursprüngen“ zu überbrücken.

Auf der Suche nach diesen Ursprüngen beschäftigte er sich auch intensiv mit den „Liedern der alten Völker“, und er besaß einen großen Respekt gegenüber den alten Kulturen des Ostens, insbesondere Indien, das er als „die Wiege des Menschengeschlechtes, menschlicher Neigungen und aller Religionen“ bezeichnete.

In seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–87) wies Herder mit Nachdruck auf die ethische und theologische Erhabenheit der indischen „Brahmanenreligion“ hin. Er wandte sich gegen die Verteufelung anderer Kulturen und Religionen und stellte sich offen gegen die überhebliche Haltung der christlichen Missionare in Indien. Im Jahre 1792 veröffentlichte er sogar persische, arabische und indische Spruchdichtungen.

Herders Gedanken über die „Volkspoesie“ regten die Dichter des Sturm und Drang (zu denen auch Goethe und Schiller in ihrer Frühzeit zu zählen sind) an, die Überwindung der Aufklärung in Sprache und Dichtung zu vollziehen, insbesondere durch die literarische Form des von Shakespeare beeinflußten Dramas.

In seiner Jugend war Herder von der Reinkarnation überzeugt gewesen und für sie eingetreten (Brief an Moses Mendelssohn, 1769), wenn er diesem Gedanken auch später, in: „Drei Gespräche über Seelenwanderung“ (1782), wieder skeptisch gegenüberstand. Über diese kurze Abhandlung, in welcher Herders innere Seelenkämpfe und seine tragische Verbitterung zum Ausdruck kommen, schrieb Goethe in einem Brief an Frau Charlotte von Stein (die Goethes Ansicht über die Richtigkeit der Reinkarnation nicht teilte): „Herders Gespräche über Seelenwanderung sind sehr schön und werden Dich freuen, denn es sind Deine Hoffnungen und Gesinnungen. Einige Stellen sind ganz allerliebst.“ (28.12.1781)

In seinen „Gedanken einiger Brahmanen“ diskutiert Herder das Phänomen der Wiedergeburt wie folgt: 

Der alte Mensch in uns soll sterben, damit eine neue Jugend emporkeime. Wie aber soll das zugehen? Kann der Mensch in seiner Mutter Leib zurückgehen und neu geboren werden? Auf diesen Zweifel des alten Nikodemus [Johannes 3,4] kann keine andre Antwort gegeben werden, als „Palingenesie!“ [Reinkarnation]. Nicht Revolution, aber eine glückliche Evolution der in uns schlummernden, uns neu verjüngenden Kräfte.
 

Was wir Überleben unserer selbst, also Tod nennen, ist bei bessern Seelen nur Schlummer zu neuem Erwachen, eine Abspannung des Bogens zu neuem Gebrauche. So ruhet der Acker, damit er desto reicher trage: so erstirbt der Baum im Winter, damit er im Frühling neu sprosse und treibe.

 

Den Guten verlässet das Schicksal nicht, solange er sich nicht selbst verläßt, und unrühmlich an sich verzweifelt. Der Genius, der von ihm gewichen schien, kehrt zu rechter Zeit zurück, und mit ihm neue Tätigkeit, Glück und Freude. (Thiton und Aurora)

Herder war also, wie die Überschrift „Gedanken einiger Brahmanen“ verdeutlicht, bereits mit der indischen Philosophie und den Puranas bekannt. Über die indische Religion schreibt er in „Palingenesie – Das Wiederkommen der Seelen“ (1797): 

Bei allen Völkern, welche an die Seelenwanderung glaubten, be­merkt man ausgezeichnet dies Mitgefühl mit Tieren, ja sogar eine Hochachtung gegen einige derselben weit über den Menschen hinaus. Wie hoch steht die Kuh, der Elephant in der Denkart eines Hindus! Dies oder jenes Jagdtier in der Vorstellungsweise eines Jagdvolkes! Von ihrem Reh nimmt Shakuntala fast einen zärtlicheren Ab­schied als von ihren Gespielen.

Diese letzte Bemerkung über Shakuntala bezieht sich übrigens auf die wunderschöne Tochter des Weisen Vishvamitra, deren Geschichte sowohl im Shrimad-Bhagavatam (9.20.8–23) als auch in einem Drama des indischen Dichters Kalidasa (um 400–460) erzählt wird, das der Sanskritforscher Sir William Jones (1746–1794) ins Englische übersetzt hatte und das seit dem Jahre 1791 auch in Deutsch vorlag.

Von ganz anderer Natur, aber von ebenso großem Einfluß auf die junge Generation des Sturm und Drang war der Mathematiker und Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), der als einer der geistreichsten Satiriker der deutschen Literaturgeschichte gilt. In seinen „Nachrichten und Bemerkungen des Verfassers über sich selbst“ erzählt er: „Schon in meinem achten Jahre wurde ich durch des Glasers S. Knaben auf die Vorstellung von der Seelenwanderung geleitet“. (in: „Vermischte Schriften“ I,9) Später schreibt er in sei­ner „Selbstcharacteristik“: 

Ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß ich gestorben war, ehe ich geboren wurde, und durch den Tod wieder in jenen Zustand zurückkehre. Es ist ein Glück in mancher Rücksicht, daß diese Vorstellung nicht zur Deutlichkeit gebracht werden kann.

 

Wenn auch der Mensch jenes Geheimnis der Natur erraten kann, so wäre es doch sehr gegen ihr Interesse, wenn er es beweisen könnte. Sterben und wieder lebendig werden mit Erinnerung seiner vorigen Existenz, nennen wir ohnmächtig gewesen sein; wiedererwachen mit anderen Organen, die erst wieder gebildet werden müssen, heißt geboren werden. (II, 16/17)

Wiederum völlig anders, mit Lichtenberg vielleicht nur durch den gemeinsamen Reinkarnationsgedanken verbunden, war der Zürcher Pfarrer und Religionsphilosoph Johann Kaspar Lavater (1741– 1801). Lavater hatte im Jahre 1793 eine Reise nach Kopenhagen un ternommen, wo er Bekanntschaft mit dem Kreis der „Kopenhagener Freunde“, der sogenannten „Schule des Nordens“, machte, einer Gruppe, geschart um den Prinzen Karl von Hessen, die sich mit allerlei esoterischen Lehren befaßte.

Als eine ihrer Grundanschauungen pflegte dieser Kreis die Lehre von der „Rotation“ (Reinkarnation), und eine ihrer im Vordergrund stehenden Bemühungen scheint es gewesen zu sein, auf spiritistischem Wege die früheren Verkörperungen der einzelnen beteiligten Persönlichkeiten herauszubekommen. Das zeitgenössische „Tagebuch einer Zürcherin“ (teilweise abgedruckt in O. Stoll: „Suggestion und Hypnotismus“) berichtet hierüber: 

Die Kopenhagener Freunde Lavaters glauben an eine Seelen­wanderung. Sie glauben, verschiedene Apostel Jesu lebten wieder auf Erden, ohne sich des ehemaligen Lebens als Apostel wieder bewußt zu sein. Der Prinz Karl von Hessen war der Apostel Petrus, der dänische Staatsminister Andreas von Bernsdorf war der Apostel Thomas. Lavater war einst König Josia von Juda, dann Joseph von Arimathia, dann der Reformator Ulrich Zwingli...

Hierüber schreibt Emil Bock, dessen Meinung ich mich anschließen möchte: 

Dieses sensationelle Dokument zeigt uns die Kehrseite davon, daß manche Kreise der damaligen Zeit mit der Wiederverkörperungsidee vertraut waren. Wir sehen, wie leicht diese Idee der Gefahr verfiel, durch Mißbrauch zu entarten und zur Karikatur zu werden. Immerhin läßt sich durch die gewiß diesem Tagebuchbericht anhaftende Vergröberung und legendenhafte Ausgestaltung ein Blick in die verborgenen Bewegungen und Gruppierungen des Zeitalters tun. (S. 67f.)

Trotz seiner naiven Leichtgläubigkeit, durch die Lavater solcherlei Spekulationen unter dem Einfluß seiner Kopenhagener Freunde für bare Münze nahm, muß man ihm dennoch in einem entscheidenden Punkte recht geben: Nämlich, wenn er feststellt, daß die biblische Auferstehungslehre der Anschauung von der Reinkarnation durchaus nicht widerspricht, und wenn er fordert, daß mit dem Neuen Testament die göttlichen Offenbarungen für unser Zeitalter nicht als abgeschlossen erklärt werden dürfen. Sein fataler Irrtum bestand allerdings darin, daß er die Kopenhagener „Offenbarungen“ bereits für diejenigen hielt, welche die biblischen fortsetzen und vertiefen sollten.

Auch der zur gleichen Zeit in Karlsruhe tätige evangelische Prälat, Lehrer und Volksdichter Johann Peter Hebel (1760–1826) war von dem Gedanken an die Seelenwanderung überzeugt. In einem Predigtentwurf zum Thema „Haben wir schon einmal gelebt?“ (um 1819) erwägt er alle möglichen Gründe, die gegen und für diesen Gedanken angeführt werden können, wobei er sich selbst jedoch eindeutig auf die Seite der Befürworter der Reinkarnation stellt und zu dem Schluß kommt, daß diese die einzig gültige Erklärungsmöglichkeit für die Phänomene in der Welt darstelle: 

Das Leben ist so süß und doch so beschränkt. Wir hoffen auf ein zweites. – Haben wir vielleicht auch schon ein früheres gelebt?

1. Gründe für die Verneinung ...
 

2. Vermutungsgründe für die Bejahung.
 

a) Es ist doch möglich; hier und anderswo. – Wir hätten aus einer süßen Schale der Lethe [Vergessen] getrunken, und es wartete auf uns eine süßere der Mneme [Erinnerung]. Wie vieles vergessen wir aus diesem Leben!


b) Vielseitigkeit der Erfahrungen; Weisheit ist die Frucht der Erfahrungen; aber wie wenig bietet ein Leben!


c) Und hätten wir denn so gar keine Erinnerungen? Wir bemerken doch:


1. Leichte Entwicklungen, gewisse Anlagen. Wie, wenn wir diese Fertigkeiten schon einmal besessen hätten?


2. Gedächtnis für manches. Wie, wenn es Erinnerung wäre?


3. Vorherrschende Neigungen von Kindheit an. Haben wir sie vielleicht mitgebracht?


4. Unerklärbare Sympathie. Vorliebe für die Geschichte einzelner Zeitalter, Männer, Gegenden. Sind wir vielleicht einmal dagewesen und mit jenen in Verbindung gestanden?


d) Der Gedanke ist doch so anziehend, so einladend zu süßen Phantasien; z.B.: Ich lebte schon zur Zeit der Mammute, der Patriarchen, war arkadischer Hirte, griechischer Abenteurer, Genosse der Hermannsschlacht, half Jerusalem erobern ...
 

Wenn ich dereinst den goldenen Becher der Mneme getrunken habe; wenn ich sie vollendet habe, so viele Wanderungen; wenn ich mein Ich gerettet habe aus so vielen Gestalten und Verhältnissen, mit ihren Freuden und Leiden vertraut, gereinigt in beiden, welche Erinnerungen, welche Genüsse, welcher Gewinn! (in: Werke II. S. 384)

Ebenso wie bei Hebel finden wir auch beim Lehrer und Dichter Jean Paul (1763–1825) eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Reinkarnationsgedanken. Dazu habe ich bereits in Kapitel 4 eine längere Passage aus seinem Werk „Selina“ angeführt, in welcher Jean Paul mit aller Heftigkeit für diesen Gedanken eintritt (im Abschnitt: Warum können wir uns nicht erinnern?).

Aber auch in seinen Novellen und Romanen taucht die Seelenwanderung immer wieder in poetisch-künstlerischer Ausprägung auf, beispielsweise in dem 1793 erschienenen Erziehungsroman „Die unsichtbare Loge“ (dort in dem berühmten „Traum vom Himmel“): 

Er starb (kam ihm vor) und sollte den Zwischenraum bis zu seiner neuen Verkörperung in lauter Träumen verspielen. Er versank in ein schlagendes Blütenmeer, das der zusammengeflossene Sternenhimmel war ...

 

Warum berauschte aber dieses von der Erde bis an den Himmel wachsende Blumenfeld mit dem rauchenden Geiste von tausend Kelchen alle Seelen, die darüberflogen und in betäubender Wonne niederfielen? ... Die nagenden Wunden des Lebens sollte der Balsamhauch dieses unermeßlichen Frühlings verschließen...

An einer Stelle in seinem Werk „Siebenkäs“ (1796/97) zeigt Jean Paul sogar, daß die Reinkarnationslehre selbst dem Atheisten die Möglichkeit gibt, an die Unsterblichkeit zu glauben: 

Für andere, die nicht so weit sind wie ein lesender Magistrand, merke ich noch an, daß mit dem Glauben an den Atheismus sich ohne Widerspruch der Glaube an Unsterblichkeit verknüpfen lasse; denn dieselbe Notwendigkeit, die in diesem Leben meinen lichten Tautropfen von Ich in einen Blütenkelch und unter eine Sonne warf, kann es ja im zweiten wiederholen; ja noch leichter kann sie mich zum zweiten Male verkörpern als zum ersten Male.

Über den Seelenwanderungsglauben des Dichters Heinrich von Kleist (1777–1811) wurde ebenfalls bereits in Kapitel 4, im Abschnitt über die Reinkarnation in anderen Dimensionen, berichtet. In einem weiteren Brief dieses schon früh verwaisten Suchers, der nach einem tragischen Leben im Alter von nur 34 Jahren den Freitod wählte, kommt seine trotz allem hoffnungsvolle Stimmung zum Ausdruck, wobei ihm der Gedanke des Weiterlebens nach dem Tode Trost und Zuversicht spendet: 

Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht; es ist ein bloß unbegriffener! Lächeln wir nicht auch, wenn die Kinder weinen? Denke nur, diese unendliche Fortdauer! Myriaden von Zeiträumen, jedweder ein Leben und für jedweden eine Erscheinung wie diese Welt! ...

 

Zwischen zwei Lindenblättern, wenn wir abends auf dem Rücken liegen, eine Aussicht, an Ahndungen reicher, als Gedanken fassen und Worte sagen können. Komm, laß uns etwas Gutes tun und dabei sterben! Einen der Millionen Tode, die wir schon gestorben sind und noch sterben werden. Es ist, als ob wir aus einem Zimmer in das andere gehen.

 

Sieh, die Welt kommt mir vor wie eingeschachtelt; das Kleine ist dem Großen ähnlich. So wie der Schlaf, in dem wir uns erholen, etwa ein Viertel oder ein Drittel der Zeit dauert, da wir uns im Wachen ermüden, so wird, denke ich, der Tod, und aus einem ähnlichen Grunde, ein Viertel oder Drittel des Lebens dauern. Und gerade so lange braucht ein menschlicher Körper zu verwesen. (an O.A. Rühle von Lilienstern, 31.8.1806)

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