REINKARNATION
Die umfassende Wissenschaft
der Seelenwanderung

von Ronald Zürrer

Internet-Veröffentlichung Juli 2008,
(c)
Govinda-Verlag GmbH

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Siebter Teil: DAS ZEITALTER DER AUFKLÄRUNG

Das Zeitalter der Aufklärung

Das 18. Jahrhundert gilt als das Zeitalter der Aufklärung, das „Zeitalter der Vernunft“. Diese Aufklärung war universaler als ihre Vorformen; sie entfaltete eine ungeheure Breitenwirkung und ergriff, vor allem in England und in Frankreich, das ganze soziale Leben, indem sie nicht nur ideell, sondern mit der Französischen Revolution (1789) auch praktisch-politisch die letzten Konsequenzen zog.

Die Aufklärung war, wie es Voltaire als einer ihrer bedeutendsten Vertreter ausdrückte, auch die Epoche der nunmehr entfalteten modernen Wissenschaft: „Das Zeitalter der Religion und der Philosophie ist dem Jahrhundert der Wissenschaft gewichen.“

Die Welt wurde jetzt eher statisch als dynamisch aufgefaßt, als ein der göttlichen Hilfe nicht mehr bedürftiger Kosmos, wobei Gott als existenter letzter Urgrund der Welt akzeptiert, die Möglichkeit Seines Eingreifens in den Lauf der einmal bestehenden Welt jedoch verworfen wird (sogenannter Deismus). Die Welt ist eine berechenbare, zweckmäßige, auf Vernunft gegründete Maschine geworden.

Gleichzeitig wurden aber auch die Grenzen dieser Wissenschaftlichkeit erkannt. Der Engländer Isaac Newton (1643–1727), der als der größte Forscher seiner Zeit galt und dessen Physik den nach Descartes benannten Kartesianismus verdrängte, beschloß sein eindrückliches Lebenswerk mit den Worten: „Sein und Wissen ist ein uferloses Meer: Je weiter wir vordringen, um so unermeßlicher dehnt sich aus, was noch vor uns liegt. Jeder Triumph des Wissens schließt hundert Bekenntnisse des Nichtwissens in sich.“

Der Triumph des Rationalismus (Vernunftphilosophie) führte auch zu einer radikalen Abkehr von aller Tradition, und der Gegensatz zu den überlieferten weltanschaulichen, kirchlichen und sozialen Verhältnissen (wie unumstrittene Kirchenmacht, religiöse Intoleranz und Feudalismus) äußerte sich in den neuen Schlagworten: Natur, Mensch, Menschenrechte und eine mündig gewordene, „aufgeklärte“ Vernunft.

Nur das Natürliche galt als gut, und durch das „natürliche Licht“ seien alle sozialen, wirtschaftlichen und philosophischen Probleme zu lösen. Der selbstdenkende Verstand des Menschen solle nicht über die Erfahrung hinausschweifen (Empirismus), sich keinen fremden Gesetzen unterwerfen und alle Autoritäten außer seiner selbst kritisieren.

Das Zeitalter der Aufklärung eröffnete jedoch noch eine ganz andere, unerwartete Dimension: In ihrem Klima des wissenschaftlich-vernunftbetonten, zukunftsgerichteten Strebens erfolgte auch der endgültige Durchbruch des Reinkarnationsgedankens in der neuzeitlichen abendländischen Geistesgeschichte. Dieser wurde, wie wir im folgenden sehen werden, von den jeweils führenden Denkern jeder Nation nicht mehr als bloßer religiöser Glaube, sondern als die einzig vernünftige Erklärung der Welt angenommen.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Siebter Teil: DAS ZEITALTER DER AUFKLÄRUNG

Die Aufklärung in England

Im 18. Jahrhundert fand die gesamte englische Philosophie ihren Höhepunkt und übte ihren bedeutendsten Einfluß auf das europäische Geistesleben aus. Von England aus wurde die große europäische Bewegung der Aufklärung, dort als Enlightenment (also „Erleuchtung“) bezeichnet, eingeleitet.

Die englische Aufklärung zeichnete sich durch einen konsequenten Empirismus aus, das heißt durch ein völliges Ablehnen der Spekulation und ein unerschütterliches Beharren auf der Erfahrung als der Grundlage allen Wissens und aller Philosophie. Dies wurde insbesondere deutlich bei John Locke (1632–1704), der als der eigentliche Begründer der Aufklärungsphilosophie gilt, sowie auch bei dem Iren George Berkeley (1685–1753).

Ein starkes Gegengewicht zu ihrem reinen Empirismus bildete der schottische Philosoph, Historiker und Jurist David Hume (1711–1776), der der Überwinder des englischen Rationalismus genannt wurde. Hume untersuchte in seiner „skeptischen“ Philosophie insbesondere das Gesetz der kausalen Verbindung von Ursache und Wirkung (ohne jedoch den entsprechenden Sanskrit-Begriff Karma zu kennen) und forderte nicht nur eine auf Vernunft gegründete „natürliche Religion“ ohne sektiererischen Fanatismus oder blinden Glauben, sondern auch eine umfassende religiöse Toleranz. Über die Reinkarnation schrieb er, wenngleich er wohl nicht vollumfänglich von deren Richtigkeit überzeugt war, in seinem Essay „Of the Immortality of the Soul“ („Über die Unsterblichkeit der Seele“, 1739):

Es ist ein Gemeinplatz der Metaphysik, daß die Seele immateriell und daß es für das Denken unmöglich ist, einer materiellen Substanz anzugehören. ... Das, was unvergänglich ist, ist auch unerzeugbar. Folglich existierte die Seele, wenn sie unsterblich ist, vor unserer Geburt. Und wenn uns diese frühere Existenz nichts anging, so wird es auch die spätere nicht tun. ... Die Metempsychose ist daher das einzige System dieser Art, dem die Philosophie Beachtung schenken darf.

 

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Siebter Teil: DAS ZEITALTER DER AUFKLÄRUNG

Die Aufklärung in Frankreich

Frankreich hatte im 17. und 18. Jahrhundert die führende Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung Europas inne, und die französische Sprache wurde unter allen Gebildeten und an sämtlichen Königshöfen Europas gepflegt. Nach dem Tode des „Sonnenkönigs“ Louis XIV. (1715) und damit dem Ende des unumstrittenen Absolutismus brach unter den französischen Intellektuellen ein lebhaftes Interesse an allem aus, was England hervorgebracht hatte.

In der Politik waren es insbesondere die englischen Ideen des Konstitutionalismus (Verfassungsstaat), der Gewaltenteilung und der Menschenrechte, die durch den Schriftsteller und Politiker Baron Montesquieu (1689–1755) erstmals in Frankreich eingeführt wurden.

Unter den Philosophen galt Voltaire (1694–1778) als der führende seiner Zeit, dem die meisten europäischen Könige und Fürsten huldigten. Voltaire war bekannt für seinen geistreichen Spott, zugleich aber auch für seine weitreichende Toleranz. Hans Joachim Störig schreibt über ihn: 

Das Werk Voltaires zeichnet sich aus durch eine bis dahin nicht gekannte Weite des Gesichtskreises, durch Großzügigkeit in der Behandlung fremder Kulturen und Religionen. Voltaire war einer der ersten, die Größe und Reichtum der fernen Welten Persiens, Indiens und Chinas erfaßten. Europa erscheint nicht mehr als die Welt, sondern als eine geistige Welt neben ebenbürtigen anderen. („Kleine Weltgeschichte der Philosophie“, Band 2, S. 35)

In seinen späteren Jahren wurde Voltaire immer mehr zum Pessimisten und unerbittlichen Kirchenhasser und -hetzer, aber dennoch kann er nicht als Atheist bezeichnet werden. Wie schon David Hume, forderte er eine naturbezogene „wahre Vernunftreligion“ und sagte: „Wenn Gott nicht existierte, müßte man ihn erfinden; aber die ganze Natur ruft uns zu, daß er existiert.“ Zum Thema der Reinkarnation ist folgendes Zitat von Voltaire überliefert: 

Die Lehre von der Metempsychose ist weder widersinnig noch unnütz. ... Zweimal geboren zu werden ist nicht erstaunlicher als einmal. Auferstehung ist das ein und alles der Natur.

Und in seinem „Philosophischen Wörterbuch“ schreibt er unter dem Begriff „Seele“: 

Pherecydes war der erste unter den Griechen, der glaubte, daß die Seelen seit aller Ewigkeit existieren; nicht jedoch, wie angenommen wird, der erste, der sagte, daß die Seele den Körper überlebe. ... Daß die Seelen so alt sind wie die Welt, ist ein System, das im Osten entstand und von Pherecydes in den Westen gebracht wurde. Ich bin nicht der Auffassung, daß es bei uns ein einziges System gibt, das nicht schon in der Antike gefunden werden kann. Die Bausteine all unserer modernen Gedankengebäude stammen aus den Ruinen der Antike.

Der große Zeitgenosse und Gegenspieler Voltaires war der in Genf geborene Schriftsteller, Philosoph und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). In seinen Werken erhob er Anklage nicht nur gegen die Vernunftideale der Aufklärung, sondern gegen jede Form von Kultur und Philosophie, Kunst und Wissenschaft, indem er ihnen vorwarf, sie hätten den Menschen einem naturnahen, glücklichen Urzustand entfremdet und ihm Unschuld, Freiheit und Tugend geraubt.

Damit gilt er als der Begründer der modernen Kulturkritik (später von F. Nietzsche wieder aufgenommen) und bereitete mit seiner Forderung „Zurück zur Natur!“ bereits den Gefühlsstandpunkt des Sturm und Drang und der Romantik vor.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Siebter Teil: DAS ZEITALTER DER AUFKLÄRUNG

Die Aufklärung in Deutschland

Die deutsche Aufklärung war um einiges weniger radikal und ein­schneidend als die englische oder die französische und brachte keine vergleichbaren Geister hervor. Als ihr Hauptvertreter wird meist der eher farblose Philosoph Christian Wolff (1679–1754) genannt, dessen Lehre bis zum Erscheinen der Hauptwerke Immanuel Kants die deutschen Universitäten beherrschte. Bevor wir uns jedoch Kant zuwenden, sei noch auf eine weitere, höchst interessante Persönlichkeit hingewiesen:

Friedrich II. der Große (1712–1786), König von Preußen seit 1740, war nicht nur König und Förderer zahlreicher Künstler und Philosophen, sondern selbst einer der führenden Denker seiner Zeit, und seine gesammelten Werke füllen über 30 Bände. Er hatte einen über ein Jahrzehnt andauernden Briefwechsel mit Voltaire unterhalten, der ab 1750 zwei Jahre an seinem Hof in Potsdam (Berlin) weilte, mit dem er sich später jedoch wieder zerwarf.

Zeitlebens beschäftigte sich der königliche Philosoph mit dem Mysterium des Todes, wie seine zahlreichen Briefe anschaulich dokumentieren. In den von Robert Rehlen gesammelten „Aussprüchen und Gedanken“ Fried­richs des Großen finden wir folgende Bemerkung aus seinem Todesjahr 1786, die seinen festen Glauben an das Gesetz der Reinkarnation zum Ausdruck bringt: 

Ich fühle nun, daß es mit meinem irdischen Leben bald aus sein wird. Da ich aber überzeugt bin, daß nichts, was einmal in der Natur existiert, wieder vernichtet werden kann, so weiß ich gewiß, daß der edlere Teil von mir darum nicht aufhören wird zu leben. Zwar werde ich wohl im künftigen Leben nicht König sein, aber desto besser: ich werde doch ein tätiges Leben führen und noch dazu ein mit weniger Undank verknüpftes. (Nr. 1094)

Ihren eigentlichen Höhe- und Wendepunkt fand die Aufklärungsphilosophie jedoch in dem Deutschen Immanuel Kant (1724–1804), der als einer der ganz Großen der abendländischen Philosophiegeschichte betrachtet werden muß: „Die Philosophie wird niemals wieder so naiv sein wie zu früheren, schlichteren Zeiten; sie mußte anders und tiefer werden, weil Kant gelebt hat.“ (H.J. Störig, S. 102) „Das Kronjuwel in der Krone Friedrichs des Großen war Immanuel Kant.“ (Arthur Schopenhauer)

In der preußischen Stadt Königsberg geboren, die er zeitlebens nie verließ, studierte Kant an der dortigen Universität zunächst Theologie, dann Philosophie und Naturwissenschaften und wirkte später vierzig Jahre lang als Professor für Logik und Metaphysik. Er gilt gleichzeitig als der Vollender und auch als der Überwinder der Aufklärung, die er selbst als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definierte.

In seiner Hauptschrift „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) setzte sich Kant sowohl mit dem einseitigen Empirismus eines John Locke (der behauptet hatte: „Es ist nichts im Verstande, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre“) auseinander, als auch mit dem diesem entgegengesetzten dogmatischen Rationalismus, wonach nur das wahr ist, was der Mensch mit seiner Vernunft über die Welt aussagen kann.

Quer durch sein umfangreiches Gesamtwerk stoßen wir immer wieder auf den Reinkarnationsgedanken, so bereits in seinem Frühwerk „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ (1755), in dem er eine mögliche Seelenwanderung über verschiedene Planeten des Universums beschreibt. (Das entsprechende Zitat ha­be ich bereits in Kapitel 4 angeführt, dort im Abschnitt Reinkarnation in anderen Dimensionen.)

Auch in der „Kritik der reinen Vernunft“ spricht Kant über das Phänomen der Präexistenz der Seele und der Reinkarnation sowie über die Existenz einer transzendentalen Welt, woher die Seelen ursprünglich stammen: 

Die Zufälligkeit der Zeugungen, die bei Menschen, sowie beim vernunftlosen Geschöpfe, von der Gelegenheit, überdem aber auch oft vom Unterhalte, von der Regierung, deren Launen und Einfällen, oft sogar vom Laster abhängt, macht eine große Schwierigkeit wider die Meinung der auf Ewigkeiten sich erstreckenden Fortdauer eines Geschöpfs, dessen Leben unter so unerheblichen und unserer Freiheit so ganz und gar überlassenen Umständen zuerst angefangen hat. ...

 

Aber in Ansehung eines jeden Individuums eine so mächtige Wirkung von so geringfügigen Ursachen zu erwarten, scheint allerdings bedenklich.
 

Hierwider könnt ihr aber eine transzendentale Hypothese auf­bieten: daß alles Leben eigentlich nur intelligibel sei, den Zeitveränderungen gar nicht unterworfen, und weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Tod geendigt werde.

 

Daß dieses Leben nichts als eine bloße Erscheinung, eine sinnliche Vorstellung von dem reinen geistigen Leben, und die ganze Sinnenwelt ein bloßes Bild sei, welches unserer jetzigen Erkenntnisart vorschwebt, und, wie ein Traum, an sich keine objektive Realität habe; daß, wenn wir die Sachen und uns selbst anschauen sollen, wie sie sind, wir uns in einer Welt geistiger Naturen sehen würden, mit welcher unsere einzig wahre Gemeinschaft weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Leibestod aufhören werde. (Transzendentale Methodenlehre, Erstes Hauptstück, Dritter Abschnitt)

In seinem Werk „Vorlesungen Kants über die Metaphysik“ (Leipzig, 1894) führt der Philosophieprofessor Max Heinze über Kants Ansicht bezüglich der Unsterblichkeit der Seele aus: 

Sehr ausführlich handelt Kant in den Vorlesungen über den Zustand der Seele nach dem Tode, woraus wir sehen, wie viel ihm daran gelegen war, über diesen Punkt einige Gewißheit zu erlangen; mit diesem bringt er aber auch den Zustand der Seele vor der Geburt in Verbindung, und zwar spricht er darüber mit einiger Sicherheit. ...

 

Der Anfang des Lebens ist die Geburt, das ist aber nicht der Anfang des Lebens der Seele, sondern des Menschen. Geburt, Leben und Tod sind also nur Zustände der Seele, da die Seele eine einfache Substanz ist, also nicht erzeugt werden kann, wenn der Körper erzeugt, auch nicht aufgelöst werden kann, wenn der Körper aufgelöst wird. Denn der Körper ist nur die Form der Seele. Die Substanz [der Seele] bleibt, wenn auch der Körper vergeht, und die Substanz ist auch dagewesen, als der Körper entstand... (S. 546f.)

 

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Siebter Teil: DAS ZEITALTER DER AUFKLÄRUNG

G.E. Lessing

Der größte deutsche Verfechter des Reinkarnationsgedankens im 18. Jahrhundert war jedoch nicht Kant, sondern der Dichter, Dramatiker und Philosoph Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), ein unerbittlicher Kämpfer gegen die Unfreiheit des Geistes, für die Menschlichkeit und die religiöse Toleranz und ein Kritiker und Überwinder der Aufklärung.

Im Schlußteil seines Hauptwerkes mit dem Titel „Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780), einer aus nur hundert kurzen Paragraphen bestehenden Schrift, bringt Lessing seine Überzeugung der Seelenwanderung mit einer Vernunft und Klarheit zum Ausdruck, die in der europäischen Geistesgeschichte einzigartig dasteht: 

ì 92. Und wie? Wenn es nun gar so gut als ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde, deren jedes sein Einzelnes ebendahin liefert?
 

ì 93. Nicht anders! Ebendie Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben. – <In einem und ebendemselben Leben durchlaufen haben? Kann er in ebendemselben Leben ein sinnlicher Jude und ein geistiger Christ gewesen sein? Kann er in ebendemselben Leben beide überholet haben?>
 

ì 94. Das wohl nun nicht! – Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein?
 

ì 95. Ist diese Hypothese [der Metempsychose] darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? Weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?
 

ì 96. Warum könnte auch ich nicht hier bereits einmal alle die Schritte zu meiner Vervollkommnung getan ha­ben, welche bloß zeitliche Strafen und Belohnungen den Menschen bringen können?
 

ì 97. Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu tun uns die Aussichten in ewige Belohnungen so mächtig helfen?
 

ì 98. Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, daß es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnet?
 

ì 99. Darum nicht? – Oder weil ich es vergesse, daß ich schon dagewesen? Wohl mir, daß ich es vergesse! Die Erinnerung meiner vorigen Zustände würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf jetzt vergessen muß, habe ich denn das auf ewig vergessen?
 

ì 100. Oder, weil so viel Zeit für mich verloren gehen würde? Verloren? – Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein? 

Im Oktober 1778, bereits vor Erscheinen der „Erziehung des Menschengeschlechts“, schrieb Lessing eine interessante Bemerkung zu den „Philosophischen Gesprächen“ des Pädagogen und Schriftstellers Joachim Heinrich Campe (1746–1818), in der von der Verschiedenheit der geistigen Fähigkeiten unter den Menschen die Rede ist: 

Ist es denn schon ausgemacht, daß meine Seele nur einmal Mensch ist? Ist es denn schlechterdings so ganz unsinnig, daß ich auf meinem Wege der Vervollkommnung wohl durch mehr als eine Hülle der Menschheit hindurch müßte? Vielleicht wäre auf diese Wanderung der Seele durch verschiedene menschliche Körper ein ganz neues eigenes System zu gründen? Vielleicht wäre dieses neue System kein anderes als das ganz älteste ...

Aus demselben Jahre, 1778, ist auch ein Fragment überliefert, das den Titel trägt „Daß es mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können“. Darin sagt Lessing: 

Dieses mein System ist gewiß das älteste aller philosophischen Systeme. Denn es ist eigentlich nichts als das System von der Seelenpräexistenz und Metempsychose, welches nicht allein schon Pythagoras und Plato, sondern auch vor ihnen Ägypter und Chaldäer und Perser, kurz alle Weisen des Orients, gedacht haben.

 

Und schon dieses muß ein gutes Vorurteil dafür wirken. Die erste und älteste Meinung ist in spekulativen Dingen immer die wahrscheinlichste, weil der gesunde Menschenverstand sofort darauf verfiel. – Es ward nur dieses älteste, und wie ich glaube, einzig wahrscheinliche System durch zwei Dinge verstellt. Einmal – [hier bricht die Hand­schrift mitten im Satze ab]

Zu diesem Fragment bemerkt Lessings Bruder, Karl Lessing, der die nachgelassenen Werke des Frühverstorbenen herausgegeben und kommentiert hat: 

In den letzten Jahren seines Lebens war auch eine seiner Lieblingsideen die Seelenwanderung. Vermutlich sollte das [obenstehende] Bruchstück von der Möglichkeit mehrerer Sinne gleichsam Vorbereitung und Einleitung zu seiner Abhandlung von der Seelenpräexistenz und Metempsychose sein ...

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