REINKARNATION von Ronald Zürrer |
Internet-Veröffentlichung Juli 2008, |
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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Dritter Teil: DAS KLASSISCHE ALTERTUM
Die Vorsokratiker
Die Orphik.
Unter dem Begriff Orphik versteht man eine auf den mythischen Sänger
Orpheus zurückgeführte altgriechische Mysterienreligion (6. Jh. v.u.Z.) mit
einer eigenen Theogonie (Ansicht über die Herkunft der Götter) sowie einer
Seelenlehre, die durch den scharfen Gegensatz zwischen Leib und Seele
gekennzeichnet ist – durch die tiefe Überzeugung, daß die Seele göttlicher
Natur, der Leib aber nur ein Gefängnis sei, in das die Seele irgendwann einmal
gestürzt ist.
Auf ihren Wanderungen in der stofflichen Welt durchlaufe die Seele verschiedene Körperformen, mit dem Ziel, dereinst die Fessel des körperlichen Daseins ganz abzustreifen und sich wieder mit der Gottheit zu vereinen. Um die ersehnte jenseitige Seligkeit zu erlangen, führten die Orphiker ein strenges sittliches Leben, in dem rituelle Reinigungen, Askese und Vegetarismus eine große Rolle spielten.
Hier sind deutliche Parallelen zur Seelenlehre des orgiastischen Dionysoskults festzustellen, der bereits einige Jahrhunderte vor dem Auftreten der Orphiker aus Kreta (und Thrakien) nach Griechenland eingedrungen war. Dieser Kult mit seinen für die alten Hellenen eigentlich atypischen Vorstellungen ist wiederum mit ziemlicher Sicherheit auf einen älteren, ägyptischen Ursprung zurückzuführen.
„Osiris“, so erklärte Herodot (485–425 v.u.Z.), der erste griechische Geschichtsschreiber, „wird bei den Griechen Dionysos (Bacchus) genannt.“ Herodot, der selbst ausgedehnte Reisen nach Persien, Ägypten, Babylonien und an das Schwarze Meer unternahm, war der Ansicht, die Orphiker hätten ihr Gedankengut aus Ägypten empfangen (siehe Zitat im obigen Abschnitt über Ägypten).
Andere Historiker sind der Ansicht, daß die Griechen es direkt aus dem Osten (Persien, Indien) gebracht hätten. Auffallende Verwandtschaft besitzt das System der Orphiker jedenfalls mit der indischen Vedanta-Philosophie. Auch sie kennen ein kosmisches Gesetz des Ausgleichs (ananke), das vom Unguten fordert: „Was du getan, erleide!“, und dem Guten wachsendes Glück in künftigen Leben verheißt; und wie in der indischen Lehre besteht das Endziel des Kreislaufs der Wiedergeburten darin, sich durch allmähliche innerliche Reinigung letztlich daraus zu befreien.
Pythagoras.
Der erste bekannte Vertreter der Reinkarnationsidee in Griechenland war
Pherekydes von Syros (um 550 v.u.Z.), der in seiner „Theologia“ die
Unsterblichkeit der Seele lehrte. Er hatte die Geheimschriften der alten
Phönizier (etwa 12. bis 8. Jh.) und der aramäischen Chaldäer (9. bis 6. Jh.;
darunter der berühmte Kaiser von Babylonien Nebukadnezar II., 605–562 v.u.Z.)
studiert.
Sein wichtigster Schüler war der aus Samos gebürtige große Philosoph, Mathematiker und Astronom Pythagoras (ca. 582–496). Er stand den Orphikern sehr nahe und war jahrelang durch Ägypten und den Orient gereist, wahrscheinlich auch bis nach Indien, von wo er sein eigenes System der Reinkarnationslehre mitbrachte.
Nach dieser Lehre kann die Seele des Menschen in einem endlosen Kreislauf auch wieder in Tieren, Pflanzen und Mineralien verkörpert werden. In der „Kleinen Weltgeschichte der Philosophie“ (1969) von Hans Joachim Störig heißt es über diese Lehre des Pythagoras:
Mit der Zahlenlehre sind bei Pythagoras tiefreligiöse und mystische Ideen von wahrscheinlich orientalischem Ursprung verbunden, insbesondere ein dem indischen eng verwandter Seelenwanderungsglaube. Danach durchläuft die unsterbliche Menschenseele einen langen Läuterungsprozeß durch immer erneute Wiederverkörperungen, die auch in Tiergestalt erfolgen können.
Dementsprechend findet sich wie in Indien das Gebot, kein Tier zu töten oder zu opfern und kein Fleisch zu sich zu nehmen. Da es als das Ziel des Lebens angesehen wird, die Seele durch Reinheit und Frömmigkeit vom Kreislauf der Wiedergeburten zu erlösen, zeigt auch die pythagoreische Ethik der indischen verwandte Züge: Selbstdisziplin, Genügsamkeit, Enthaltsamkeit werden gefordert. (Band 1, S. 129)
Und der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) schreibt in seinem Standardwerk „Kulturgeschichte Griechenlands“ (postum 1898–1920):
Gerade das Wundersame an Pythagoras stammt aus relativ alten Quellen: Es gab eine alte, angeblich von ihm selbst verfaßte Schrift, in der er von einer Fahrt in den Hades erzählte und wahrscheinlich auch von sich behauptete, er entsinne sich vier früherer Menschwerdungen, indem er bereits als Äthalides, Euphorbos [ein im Kampfe gegen Menelaos getöteter Trojaner], Hermotimos und Pyrrhos [ein Fischer auf der Insel Delos] gelebt habe....
Ob Pythagoras auch nach Babylon gekommen ist, lassen wir dahingestellt; es liegt eigentlich kein triftiger Grund vor, es in Zweifel zu ziehen, und irgendeine Berührung mit Indien wird man ja doch anzunehmen haben; seine Metempsychose hat eher etwas Indisches als Ägyptisches. (im Kapitel „Der Bruch mit dem Mythus“)
Pythagoras selbst sagt in einer „Metamorphose“ des römischen Dichters Ovid:
Nimmer vergehet die Seele, vielmehr die frühere Wohnung
Tauscht sie mit neuem Sitz und lebt und wirket in diesem.
Alles wechselt, doch nichts geht unter.
Über Pythagoras’ Überzeugung von der Reinkarnation lesen wir auch bei Karl Nils Nicolaus, der in „Magie des Gedächtnisses“ (1942) schreibt:
Ich las von Pythagoras. Der Gott Hermes zeugte mit einem sterblichen Weibe den Aithalides. Diesem gaben die Götter einen Wunsch frei. Er wünschte sich, auch über den Tod hinaus sein Gedächtnis zu bewahren, so daß in jedem künftigen Leben, dem er nach dem Gesetz der Seelenwanderung unterworfen sei, die Erinnerung an alle vorhergehenden in ihm wohnen bleibe.
Pythagoras behauptet nun, die Seele dieses Aithalides sei, nach mancherlei Zwischenstationen, auf ihn übergegangen. Dieser Glaube war in ihm ganz lebendig und gegenwärtig. Er rechnete sich zu denen, die „die Götter noch selbst gesehen haben“. Und als er einst in einer Waffenhalle stand, erkannte er unter Tränen dort einen Schild wieder, mit dem er selbst vor vielen, vielen Jahrhunderten als Euphorbos bei Troja gefochten hatte.
Pythagoras’ Lehre der „Allbeseelung“, das heißt der Einheit alles Lebendigen, schlug sich auch in seinem praktischen Leben und seiner freundlichen und gütigen Verhaltensweise gegenüber Menschen, Tieren und Pflanzen nieder. Tatsächlich wird berichtet, er sei sogar durch seine (damals außergewöhnliche) Achtung vor Sklaven und seine Hochschätzung der Frauen aufgefallen. Außerdem ernährte er sich strikt vegetarisch, da er überzeugt war, daß es nicht im Recht des Menschen stünde, Tiere zu schlachten oder zu verspeisen.
Empedokles.
Ein inniger Verehrer und Nachfolger des Pythagoras war der aus Sizilien
stammende Arzt, Naturphilosoph und Prophet Empedokles (um 483–423 v.u.Z.),
der zahlreiche poetische Lehrgedichte zum Thema der Seelenwanderung verfaßte. In
seinen Fragmenten heißt es beispielsweise: „Ehemals schon war ich als Knabe
geboren, war ehemals ein Mädchen, Vogel war ich und Busch und ein stummer Fisch
aus der Salzflut. ... Es gibt kein Entstehen aus nichts, kein Vergehen in
nichts.“
KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Dritter Teil: DAS KLASSISCHE ALTERTUM
Sokrates
Der große Athener Philosoph Sokrates (470–399) ist noch heute durch seinen ehrlichen, doch verblüffenden Ausspruch berühmt: „Ich weiß, daß ich nichts weiß.“ Verblüffend ist dieses Selbstzeugnis insbesondere aus dem Grunde, weil es in der gesamten damaligen griechischen Geisteswelt nicht einen einzigen Philosophen oder Gelehrten gab, der sich mit der Größe des Sokrates hätte messen können.
Sokrates selbst hinterließ keine schriftlichen Zeugnisse über seine Lehren; er pflegte sich einfach Tag für Tag auf den Straßen und Plätzen Athens zu bewegen und mit einer ansehnlichen Schar von Schülern allerlei philosophische Streitgespräche zu führen, um sie so zu unterweisen.
Seine Methode bestand darin, daß er mit harmlosen Fragen begann, dann immer weiterfragte und nicht lockerließ, bis das Gespräch allmählich auf allgemeine philosophische Themen kam, wie: Was ist Tugend? Wie gewinnen wir Wahrheit? Welches ist die beste Staatsverfassung?
Durch sein öffentliches Lehren gewann er beim Volk zwar große Aufmerksamkeit und Anerkennung, machte sich jedoch in der Athener Regierung auch Feinde. Dies führte schließlich dazu, daß er wegen „Gottlosigkeit“ vor Gericht zitiert wurde – eine Anklage, die keineswegs berechtigt war.
Trotz seiner mutigen Verteidigungsrede, die uns in Platons Werken erhalten ist, wurde Sokrates zum Tode verurteilt und mußte, wie es der damals üblichen Hinrichtungsart entsprach, den Giftbecher trinken. Er verzichtete nicht nur darauf, um Gnade zu bitten, sondern lehnte auch die Flucht ab, zu der ihm die Möglichkeit geboten wurde.
Obwohl Sokrates keine eigenen Schriften verfaßte, gewinnen wir aus den Berichten anderer (hauptsächlich seines Schülers Platon) dennoch einen recht umfassenden Überblick über seine Lehren. So ist beispielsweise bekannt, daß er die sophistische Idee, wonach alles, woran man selbst glaube, für einen die Wahrheit sei, aufs äußerste bekämpfte.
Er widerlegte diesen Standpunkt, indem er demonstrierte, daß es eine absolute Wahrheit geben muß, die sich von der relativen Wahrheit unterscheidet, und daß diese absolute Wahrheit kategorisch von jedem Menschen anerkannt werden muß.
Einer seiner grundlegenden Leitsätze lautete: gnoti seauton – „Mensch, erkenne dich selbst!“ Damit wird deutlich, daß es das zentrale Thema seiner philosophischen Suche darstellte, durch allmähliches Vortasten durch den Bereich der äußeren Welt letztlich das Mysterium des eigenen inneren Selbst zu ergründen.
Soweit heute bekannt ist, hatte Sokrates dabei keinen Lehrer, der ihn in dieser Philosophie unterwiesen hätte; vielmehr bezeichnete er selbst sich als „Autodidakten“. In Platons „Phaidon“ sagt Sokrates hierzu: „Ich wäre gerne jedermanns Schüler geworden, aber ich konnte von niemandem lernen.“
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Platon
Das Leben des Platon.
Der herausragendste Schüler des Sokrates war der Athener Philosoph Platon
(427–347), dessen philosophisches System markante Ähnlichkeiten mit der
vedischen Philosophie aufweist und unter anderem eine ausführliche
Reinkarnationslehre beinhaltet.
Unter dem Eindruck der erschütternden Verurteilung und Hinrichtung seines Meisters Sokrates kehrte Platon im Alter von rund 28 Jahren zunächst seiner Vaterstadt den Rücken und begab sich auf ausgedehnte Reisen, die ihn nach Unteritalien und Sizilien führten (wo er die Schule des Pythagoras kennenlernte und studierte), aber auch nach Ägypten und höchstwahrscheinlich sogar bis nach Indien. „Vielleicht drang er auch weiter in den Orient vor und lernte die Weisheit der Inder kennen – manches in seinem Werk spricht dafür.“ (Störig, S. 155)
Im Jahre 387 v.u.Z., also mit vierzig Jahren, eröffnete Platon in Athen eine Schule, die nach seinem Tode als „Platonische Akademie“ noch jahrhundertelang bestehen sollte. Dort unterrichtete er unentgeltlich einen stetig anwachsenden Kreis von Schülern, bis er im Alter von 80 Jahren verschied.
Platons Schriften und Lehren.
Obwohl Platon, wie schon sein Meister Sokrates, den Schwerpunkt seines Wirkens
auf die mündliche Lehrtätigkeit legte, hinterließ er doch (im Gegensatz zu
Sokrates) eine Anzahl von Schriften, die fast alle die Form von Dialogen
besitzen. Die beherrschende Gestalt ist dabei meist Sokrates, der die Dialoge
führt und auf diese Weise seine Schüler über seine philosophischen Anschauungen
belehrt.
Zu den wichtigsten platonischen Dialogen zählt man heute 15 Werke, die nach der Reihenfolge ihrer Entstehung numeriert werden. Von diesen sind die folgenden für unser Thema der Reinkarnation von Bedeutung:
5) |
Menon – Über das Wesen der Erkenntnis als Wiedererinnerung |
8) |
Phaidon – Über die Unsterblichkeit der Seele |
9) |
Politeia – Der Staat (Platons Hauptwerk, dessen Niederschrift viele Jahre gedauert hat und das alle Gebiete der platonischen Philosophie umfaßt) |
10) |
Phaidros – Dialog über Platons Ideenlehre und die „Dreiteilung der menschlichen Seele“ |
Da ich auf das philosophische Gesamtwerk Platons, so interessant es auch ist, hier nicht im einzelnen eingehen kann, möchte ich in der Folge nur einige eindeutige Stellen anführen, die unsere Thematik beleuchten. Platon berichtet in seinen Werken immer wieder über seine (und Sokrates’) Überzeugung von der Seelenwanderung. Zum Beispiel:
Ich bin überzeugt, daß es wahrlich so etwas wie ein nächstes Leben gibt und daß die Lebenden aus dem Bereich der Toten kommen. (in: „Phaidon“)
Weil nun die Seele unsterblich ist und oftmals geboren und alle Dinge, die hier und in der Unterwelt sind, geschaut hat, so gibt es nichts, was sie nicht in Erfahrung gebracht hätte, und so ist es nicht zu verwundern, daß sie imstande ist, sich der Tugend und alles anderen zu erinnern, was sie ja auch früher schon gewußt hat. (in: „Menon“)
Wir haben die Erkenntnis, nachdem wir sie vor der Geburt empfangen haben, bei der Geburt verloren, gewinnen aber später durch den auf sie führenden Gebrauch unserer Sinne jene Erkenntnisse wieder, die wir früher einmal besaßen; dann ist doch wohl das, was wir Lernen nennen, nichts anderes als ein Wiedergewinnen uns schon zugehörigen Wissens. (in: „Phaidon“, 7. Kapitel)
Was das in der Frage der Reinkarnation vieldiskutierte Thema der fehlenden Erinnerungen an vergangene Leben betrifft, so erklärt Platon dieses Phänomen mit dem „Trunk des Vergessens“ (griech. Lethe), den die Seele vor der Wiedereinkörperung zu sich nehmen muß (in: „Politeia“, 621a, sowie auch in „Phaidon“, Kapitel 18ff.).
Dieser Gedanke der Lethe wird später immer wieder aufgegriffen, so beispielsweise vom römischen Dichter Vergil (70–19 v.u.Z.). In seinem „Lied vom Helden Aeneas“ sagt Anchises:
Die Seelen, die, göttlicher Weisung fügsam, erneut sich verkörpern, trinken vom Wasser der Lethe, schlürfen mit ihm Vergessenheit ein und Freiheit von Sorgen. (VI, 713–15)
Wichtig bei Platon ist, daß er in dem Kreislauf von Geburt und Tod nicht etwa eine endlose Strafe sah, sondern eine willkommene Möglichkeit, daß sich die Seele allmählich erhebe und vervollkommne:
Wenn wir, wie ich es lehre, an die Unsterblichkeit der Seele und an ihre Kraft glauben, alles Böse und Gute, das sie trifft, zu überdauern, so werden wir für immer an dem Wege nach oben festhalten und werden all unser Streben der Gerechtigkeit und der Vernunft widmen. (in: „Politeia“, 621c)
Das Höhlengleichnis.
Eine der berühmtesten Stellen in Platons Schriften bildet die als
„Höhlengleichnis“ bekannte Unterweisung über seine Ideenlehre (in: „Politeia“,
514aff.):
[Sokrates spricht:] „Stelle dir Menschen in einer unterirdischen höhlenartigen Behausung vor, die einen aufwärts gegen das Licht geöffneten Zugang hat. In dieser sind sie von Kindheit an gefesselt, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und den Kopf herumzudrehen wegen der Fessel nicht imstande sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt.
Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem stelle dir eine Mauer aufgeführt vor. Längs dieser Mauer tragen Menschen allerlei Gefäße, die über die Mauer emporragen. Einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen.“
„Ein gar wunderliches Bild“, sprach er, „stellst du dar und wunderliche Gefangene.“
„Die aber uns gleichen“, entgegnete ich. „Denn fürs erste, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberliegende Wand der Höhle wirft? Und wie steht es mit den vorbeigetragenen Gegenständen? Nicht ebenso?
Wenn sie nun miteinander reden könnten, meinst du nicht, sie würden glauben, das, was sie sehen und mit Worten bezeichnen, sei dasselbe wie das, was vorübergetragen wird? Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten?
Nun stelle dir vor, es werde einer befreit und genötigt, plötzlich aufzustehen, den Hals umzuwenden, zu gehen und nach dem Licht hinzublicken, und dies alles täte ihm weh, und er wäre wegen des Flimmerns nicht imstande, die Gegenstände zu sehen, deren Schatten er vorher gesehen hatte. Was glaubst du, daß er sagen würde, wenn man ihm versicherte, damals habe er lauter Nichtigkeiten gesehen, jetzt aber sei er dem Seienden näher, stehe vor Dingen, denen ein Sein in höherem Grade zukomme, und sehe daher richtiger?
Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm dann nicht die Augen schmerzen, und er würde fliehen und zu jenen Dingen zurückkehren, die er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, diese seien in der Tat viel wirklicher als das, was man ihm zuletzt gezeigt hatte?“ (Nacherzählung von Hans Joachim Störig, S. 162)
Dieses zwar kompliziert entworfene, doch höchst anschauliche und treffende Höhlengleichnis wurde im Verlaufe der letzten zwei Jahrtausende immer wieder und auf mannigfaltige Art und Weise gedeutet und erklärt. Aus dem Blickwinkel der vedischen Philosophie ließe es sich wie folgt verstehen:
Dem Leben im „Höhlengefängnis“ und in der „Welt der Schatten“ gleicht unser Dasein innerhalb der materiellen Welt. Die in einem materiellen Körper „gefangene“ spirituelle Seele ist aufgrund ihrer begrenzten und trügerischen Sinne nur imstande, den „Schatten“ der wirklichen Dinge wahrzunehmen.
Über das eigentliche Sein dieser wirklichen Dinge hat sie entweder keine Ahnung, oder aber sie ist gezwungen, darüber zu spekulieren, da ihr die direkten Erfahrungen mit der Wirklichkeit fehlen.
Auf der anderen Seite steht das, was Platon als die „Welt der Ideen“ bezeichnet. Diese Ideenwelt ist ein Gleichnis für die spirituelle Welt, die eigentliche Herkunft und Heimat der Seele. Nach Platon sind die „Ideen“ (griech. eidos oder idea, wörtlich „Bild“) jedoch nicht etwa bloße allgemeine Begriffe, die unser Denken sich bildet. Sie haben durchaus Realität, ja sie haben sogar, wie das Höhlengleichnis zeigt, die einzig wahre Realität.
Den „Ideen“ oder „wahren Dingen“ wohnt aber nicht nur Realität inne, also Wirklichkeit und Existenz, sondern sie sind auch ewig und unzerstörbar, während die trügerischen Dinge der materiellen Welt vergänglich sind. Darüber hinaus besitzen sie auch die Eigenschaften der „Schönheit“, der „Erkenntnis“, der „Tugend“, des „Glücks“.
Diese Beschreibung weist derart deutliche Parallelen zu den in der vedischen Philosophie verwendeten Bildern auf, daß sie die Vermutung bestärkt, Platon habe sich in jungen Jahren intensiv mit der Weisheit der Inder beschäftigt, sei wahrscheinlich sogar nach Indien gereist. In der Tat findet sich exakt das gleiche Bild der „Welt der Schatten“ in der uralten Sanskritschrift Brahma-sa„hita.
Dort wird die vergängliche materielle Welt als „Schattenwelt“ beschrieben, die fortwährend immer wieder neu geschaffen wird, eine Zeitlang erhalten bleibt und dann wieder vernichtet wird, um nach einer gewissen Zeit aufs neue erschaffen zu werden. Das Sanskritwort, das an jener Stelle (5.44) zur Beschreibung der materiellen Welt verwendet wird, ist Chaya, „Schatten“.
Was Platon als das Hinaufsteigen des „Befreiten“ und der Anblick der wirklichen Dinge oben, außerhalb der Höhle, beschreibt, steht symbolisch für den Aufschwung der Seele in die spirituelle Atmosphäre. Im Kapitel 15 der Bhagavad-gita wird die materielle Welt mit einem Banyanbaum verglichen, der sich umgekehrt in einem See spiegelt. Der wirkliche Banyanbaum ist die spirituelle Welt, wobei der See das Wasser der Wünsche ist.
Durch die Läuterung seiner Wünsche, die im Moment auf die materielle Welt gerichtet sind, läßt die spirituelle Seele allmählich von ihrer Anhaftung an die materielle Welt los. Diese Transformation des Bewußtseins entspricht der Schau der Ideenwelt bei Platon und hat die Beendigung der Reinkarnation und die Erhebung der Seele in die spirituelle Welt zur Folge. Diese spirituelle Welt besitzt nach Aussage der vedischen Schriften insbesondere drei Eigenschaften, die sie grundlegend von der materiellen Schattenwelt unterscheiden, welche ihrerseits gleichsam eine verzerrte, umgedrehte Widerspiegelung der wirklichen Welt darstellt.
Die drei Eigenschaften des Spirituellen sind:
1. Sat (Unvergänglichkeit, Ewigkeit)
2. Cit (Wissen, Erkenntnis)
3. Ananda (immerwährende Glückseligkeit)
Entsprechend sind die drei Eigenschaften des Materiellen:
1. Asat (Vergänglichkeit, Unbeständigkeit)
2. Acit (Unwissenheit, Illusion)
3. Nirananda (Leid)
Der angestrebte Aufschwung hin zum Höheren, zum Inneren, zum Göttlichen, ist denn auch das kennzeichnende Merkmal und das eigentliche Ziel sowohl der platonischen Lehren als auch der vedischen. Tamaso ma jyotir gamaya – so lautet die Aufforderung der vedischen Schriften (Bhad-aranyaka Upanishad 1.3.28): „Erhebe dich aus der Dunkelheit der Unwissenheit und wende deinen Blick dem Licht der Wahrheit zu!“
Über das erforderliche „transzendentale Wissen“ sagt die bilderreiche Sprache der Bhagavad-gita:
Wenn du von einer selbstverwirklichten Seele wahres Wissen empfangen hast, wirst du nie wieder in die Illusion des materiellen Lebens fallen, denn durch dieses Wissen wirst du sehen, daß alle Lebewesen nichts anderes als Teile des Höchsten sind oder, mit anderen Worten, daß sie Mein (Gottes) sind.
Du magst sogar der sündigste aller Sünder gewesen sein, doch wenn du dich im Boot des transzendentalen Wissens befindest, wirst du fähig sein, den Ozean der Leiden zu überqueren. So wie ein loderndes Feuer Brennholz zu Asche verwandelt, so verbrennt das Feuer des Wissens alle Reaktionen auf materielle Tätigkeiten (Karma) zu Asche.
In dieser Welt gibt es nichts, was so erhaben und rein ist wie transzendentales Wissen. Solches Wissen ist die reife Frucht aller Mystik, und wer auf dem Pfad Yoga fortgeschritten ist, genießt dieses Wissen schon bald in sich selbst.
Ein gläubiger Mensch, der sich dem transzendentalen Wissen gewidmet hat und der seine Sinne unter Kontrolle hat, ist befähigt, solches Wissen zu erlangen, und wenn er es erlangt hat, erreicht er sehr schnell den höchsten spirituellen Frieden. (Bg. 4.35–39)
Diese Beschreibung der Bhagavad-gita entspricht auffallend genau dem, was später griechische Philosophen wie Sokrates oder Platon in ihren Gesprächen und Unterweisungen immer wieder nachdrücklich von ihren Schülern forderten: das unbedingte Streben nach Wissen und Erkenntnis jener Wirklichkeit, die jenseits der schattenhaften Illusion unseres gegenwärtigen bedingten Daseins liegt und die allein uns letztlich zu wahrem Frieden und zu wahrer Freiheit führen kann.
Denn wer nicht bewußt nach dieser Erkenntnis strebt, wird weiterhin genötigt sein, in dem leidvollen Höhlengefängnis des materiellen Daseins zu verbleiben und, wie Platon es ausdrückt, Leben nach Leben „zu jenen Dingen zurückkehren, die er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, diese seien in der Tat viel wirklicher als das, was man ihm oben gezeigt hatte.“
Parallelen zwischen Platon
und der vedischen Weltsicht.
Weitere augenscheinliche Parallelen zwischen Platon und der vedischen
Philosophie bestehen auch in dessen Anthropologie und Ethik. So
ist nach Platon die menschliche Existenz dreigeteilt in:
Die Fähigkeit der Seele, nach Vernunft und Erkenntnis zu streben (hat ihren Sitz im Kopf)
Der Wille, das Gefühl (mit Sitz in der Brust)
Die animalische Begierde (mit Sitz im Unterleib)
Während der Wille und die Begierde an den vergänglichen Leib gebunden sind, ist die reflektierende Seele der einzig unsterbliche Bestandteil des Menschen. Abgesehen von dem Detail, daß gemäß der vedischen Lehre die Seele nicht im Kopf, sondern im Herzen situiert ist, fällt hier die Ähnlichkeit mit der in den vedischen Schriften beschriebenen dreifachen Gliederung des Menschen in spirituelle Seele, feinstofflicher Körper (Gedanken, Gefühle, Wille) und grobstofflicher Körper (physische Begehren) auf.
Auf die Frage, wie nun die Wanderung der Seele durch verschiedene Inkarnationen innerhalb der vergänglichen Welt beschaffen ist, erklärt Platon, daß die reine Seele aufgrund egoistischer Begierden zunächst von der Ebene der absoluten Realität herunterfällt und dann einen materiellen Körper annimmt.
Zuerst wird die so gefallene Seele in menschlichen Formen geboren, von denen die höchste die des Philosophen ist, der nach höherem Wissen strebt. Wenn dieses Wissen vollkommen wird, kann der Philosoph zu seiner ewigen Existenz zurückkehren. Wenn er sich aber hoffnungslos in materielle Wünsche verstrickt, fällt er in das Reich der Tiere hinab. Dafür gibt Platon die folgenden Beispiele: Schlemmer und Trunkenbolde werden Esel, gewalttätige und ungerechte Menschen werden Wölfe oder Schweine, und Befolger der gesellschaftlichen Konventionen werden Bienen oder Ameisen.
Nach einiger Zeit erreicht die Seele dann wieder die menschliche Lebensform und bekommt eine weitere Chance, Befreiung von dem Kreislauf der Reinkarnation zu erlangen und das Ziel des menschlichen Daseins zu erreichen, nämlich durch Erhebung in die „übersinnliche Welt“ in den Besitz des „höchsten Guts“ (summum bonum) zu kommen.
Der materielle Körper und die mit ihm verbundene Sinnlichkeit sind gemäß Platon die Fesseln, die den Menschen an dieser Befreiung hindern. Seine kürzeste Formel dafür lautet: soma, sema – „der Leib (ist) das Grab (der Seele)“.
Der Einfluß Platons auf die
europäische Geistesgeschichte.
Platons Werk stellt den unbestrittenen Höhepunkt der griechischen Philosophie
dar; alle vorangegangenen Lehren wurden von ihm systematisiert und zu ihrer
Vollendung gebracht. Die platonische Philosophie übte in den folgenden
Jahrtausenden auf das abendländische Denken einen nachhaltigen Einfluß aus:
Sie wurde zunächst von den Vertretern des Neuplatonismus aufgegriffen – eine Richtung, die mehrere Jahrhunderte lang das vorherrschende System der Spätantike war. Zu Beginn der Neuzeit, angefangen mit der Renaissance, wurde ihr Wert erneut erkannt, und auch in der Gegenwart hat sich das philosophische Interesse wieder ihr zugewandt. Wie dies insbesondere in bezug auf die Seelenwanderungs- oder Reinkarnationslehre Gültigkeit besitzt, wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels deutlich werden.
KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Dritter Teil: DAS KLASSISCHE ALTERTUM
Der Neuplatonismus
Mit dem Begriff Neuplatonismus bezeichnet die Philosophiegeschichte eine philosophische Schule zur Zeit der ausgehenden Antike und des beginnenden Aufstiegs des Christentums, die sich, wie bereits ihr Name besagt, bewußt an den Lehren Platons orientierte und in Konfrontation sowohl gegen das Christentum als auch gegen die Schule der Aristoteliker (nach Aristoteles, 384–322) stand. Die Wirksamkeit dieses Systems erstreckte sich vom 2. bis 6. Jahrhundert.
Begründet wurde der Neuplatonismus im Jahre 193 durch Ammonius Sakkas aus Alexandria (175–242), der insbesondere zwei herausragende Schüler hatte: den frühchristlichen Universalgelehrten Origenes (184–254), auf den ich im 6. Kapitel (Reinkarnation im Christentum) noch ausführlich zu sprechen kommen werde, sowie den Alexandriner Plotin (204–270), der schon früh nach Rom reiste und dort bis zu seinem Tode eine eigene Schule leitete.
Über Plotin, der als der bedeutendste Neuplatoniker gilt, finden wir beim Hl. Augustinus (354–430) die folgende bemerkenswerte Aussage:
Die Botschaft Platons, des Reinsten und in der Philosophie höchst Erleuchteten, hat schließlich die Finsternis der Irrungen zerstreut und ist hauptsächlich in Plotin aufgeleuchtet, einem Platoniker, den man ihm [Platon] für so ähnlich hielt, daß man denken könnte, sie hätten zusammen gelebt, oder – da eine lange Zeitspanne sie trennt – Platon sei in Plotin wieder lebendig geworden. (in: „Contra Academicos“, 386)
Plotin verfaßte insgesamt 54 Schriften, die in sechs „Enneaden“ zu je neun Texten herausgegeben wurden. Seine Lehre besagt, daß alle Seelen ewige Teile Gottes sind, die als „Emanationen“ von Ihm ausstrahlen:
Wie die Sonne Wärme ausstrahlt, ohne dadurch von ihrer Substanz etwas zu verlieren, so strahlt das höchste Wesen, als einen Abglanz oder Schatten seiner selbst gleichsam, alle Seelen und alles Bestehende aus.
Diese ewigen Bestandteile Gottes, die individuellen Seelen, haben sich, so lehrte Plotin weiter, jedoch freiwillig von Gott abgewendet, worauf sie von der spirituellen Sphäre in die materielle Welt herunterfielen, wo sie nunmehr dem Kreislauf der Wiedergeburten unterworfen sind. Plotin analysiert diesen Abfall der Seelen in den Einleitungssätzen zu seiner fünften Enneade:
Was war es doch, was die Seelen veranlaßte, Gottes, ihres Vaters, zu vergessen und ihn, an dem sie Anteil haben und dem sie ganz angehören, und mit ihm sich selbst nicht mehr zu kennen? – Der Anfang des Unheils für sie war die Überhebung und der Werdedrang und der erste Zwiespalt und der Wille, sich selber anzugehören.
Und indem sie ihre Lust hatten an dieser Eigenmächtigkeit und sich immer mehr dem selbstischen Triebe hingaben, liefen sie den entgegengesetzten Weg, machten den Abfall immer größer und vergaßen, daß sie selbst von dorther stammen, Kindern vergleichbar, welche, früh ihrer Väter beraubt und lange entfernt von ihnen auferzogen, sich selbst und ihre Väter nicht mehr kennen.
Die sich auf diese Weise durch immer neue Inkarnationen bewegende Seele verglich Plotin mit einem Schauspieler, der verschiedene Personas, das heißt Masken oder „Persönlichkeiten“, trägt und so fortwährend seine Rollen wechselt, während er im Innern stets dasselbe Individuum bleibt.
Auch Plotin war der Auffassung, daß die Seele eines Menschen, der sich nur in sinnlichen Tätigkeiten beschäftigt, durchaus in tierische oder sogar pflanzliche Lebensformen absinken könne: Jähzornige würden wilde Raubtiere, Lüsterne und Gierige würden entsprechend lüsterne und gefräßige Wesen, Faule würden Pflanzen.
Wir können sicherlich davon ausgehen, daß Plotin Kenntnis der vedischen Schriften gehabt hat. Nach dem Bericht eines Schülers hat er sich sogar einem Feldzug gegen die Perser angeschlossen, und zwar mit dem ausdrücklichen Ziel, die persische und indische Philosophie näher kennenzulernen; der Feldzug scheiterte jedoch, und Plotin mußte erfolglos wieder umkehren.
Dennoch weisen viele seiner Schriften eine unverkennbare Verwandtschaft mit den Lehren der Bhagavad-gita auf, insbesondere mit deren Schlußfolgerung, Bhakti-yoga – liebender, hingebungsvoller Dienst zu Gott. Hans Joachim Störig schreibt:
Wir finden bei Plotin die mystische Lehre von der selbstvergessenen Hingabe, die unmittelbare Vereinigung mit dem Göttlichen ermöglicht. Solche Mystik war aller vorangegangenen griechischen Philosophie fremd. Sie ist dagegen der Grundstimmung der indischen Philosophie zutiefst wesensverwandt. (S. 206)
KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Dritter Teil: DAS KLASSISCHE ALTERTUM
Das Ende der antiken Philosophie
Die Schule des Neuplatonismus bildete den Abschluß der alten, „heidnischen“ Philosophie, die von dem nun immer mehr zur Herrschaft kommenden Christentum aufs heftigste bekämpft wurde. Im Jahre 529 schloß der oströmische Kaiser Justinian die in Athen seit Platon bestehende Platonische Akademie, die über 900 Jahre (!) den Mittelpunkt des geistigen Griechenlands gebildet hatte, zog ihr Vermögen ein und verbot jeden weiteren Unterricht in griechischer Philosophie. Die sieben letzten Lehrer gingen daraufhin ins Exil.
Auch im Westen wurde der letzte Verkünder der Philosophie des Altertums, der römische Philosoph Boethius (geboren 480), im Jahre 525 aus politischen Gründen hingerichtet. Obwohl äußerlich Christ, war er im Innern dem Neuplatonismus zugetan und hatte die Absicht, Platon und Aristoteles durch Übersetzungen und Kommentare dem lateinischen Abendland bekannt zu machen.
Seine im Kerker verfaßte Schrift „De consolatione philosophiae“ („Vom Trost der Philosophie“), in der er den alten Glanz Griechenlands ein letztes Mal aufleuchten ließ, vermochte diese Absicht allerdings nicht mehr zu erfüllen. Eine neue Ära war angebrochen – die Ära des aufstrebenden Christentums.
Mit Anbruch der christlichen Ära fand auch die bis dahin offiziell anerkannte Lehre der Reinkarnation im Abendland ihr jähes Ende. Da ich in Kapitel 6 des vorliegenden Buches auf diese „Beseitigung der Reinkarnation“ durch neu etablierte Dogmen seitens der christlichen Kirche eingehen werde, möchte ich mich hier auf die kurze Darstellung jener Gruppierungen und einzelnen Denker beschränken, die in den kommenden Jahrhunderten trotz heftigen Widerstandes und teilweise unter Lebensgefahr an der Lehre der Seelenwanderung festhielten.
Die Gnosis.
Während die „offizielle“ christliche Lehre, wie sie insbesondere von Paulus
(um 10–64) verkündet und später an verschiedenen kirchlichen Konzilen festgelegt
worden war, seit der Herrschaft Kaiser Konstantins des Großen (323–337)
vom römischen Staat anerkannt wurde, bildeten sich innerhalb des Christentums
mannigfaltige „inoffizielle“ Gruppierungen.
Da diese „häretischen“ (ketzerischen) Gruppen für die nach Macht und Ansehen strebende Kirche sozusagen eine Gefahr von innen darstellten, wurden ihre Mitglieder verfolgt, ihre Lehren verurteilt und deren Ausbreitung mit verschiedensten Mitteln unterbunden.
Die am weitesten verbreitete und von dem damaligen Christentum am heftigsten bekämpfte dieser Bewegungen war die geheime Schule der Gnosis (griech., wörtlich „Erkenntnis“; verwandt mit dem gleichbedeutenden Sanskritwort Jnana).
Die gnostische Bewegung begann bereits um das Jahr 125, dauerte bis ins Mittelalter fort und umfaßte insgesamt über 70 einzelne Schulen. In ihr vermischten sich christliche Glaubenssätze mit verschiedenen altorientalischen Vorstellungen, vor allem persischen, syrischen und jüdischen (welche ihrerseits von indischen beeinflußt waren), sowie mit Einflüssen von Pythagoras, Platon und Plotin.
Die Gnosis wurde von der Kirche insbesondere wegen ihrer Lehre der Präexistenz der Seele und der Seelenwanderung bekämpft. Eine ihrer weiteren zentralen Fragestellungen war die Theodizee, das heißt die Rechtfertigung Gottes und der Herkunft und Bedeutung des Bösen in der Welt (die später vor allem von G.W. Leibniz aufgegriffen wurde).
Als Lösung des Theodizee-Problems berief man sich auf die Erkenntnis (gnosis) statt auf den von der Kirche geforderten blinden Glauben. Die Gnostiker vertraten die Ansicht, daß der Mensch den weltumspannenden polaren Kampf des Guten und des Bösen in sich schauen und erkennen sollte, um sich dann durch diese mystische Erkenntnis davon zu trennen und zum nichtpolaren Göttlichen zurückzukehren. Diese Rückkehr zu Gott finde nicht in einem einzigen Leben statt, sondern erstrecke sich über viele Leben der allmählichen Läuterung hinweg.
Der Manichäismus.
Etwa zur gleichen Zeit wie die Gnosis entstand im Osten die durch den Perser
Mani (215–273, lateinisch auch Manichaeus) begründete philosophische
Richtung des Manichäismus. Mani selbst hatte lange Jahre in Indien
zugebracht und die vedische Philosophie studiert, wurde aber nach seiner
Rückkehr von der Kirche gekreuzigt.
Dennoch hielten sich manichäische Gemeinden im Orient und in Nordafrika teilweise bis ins Mittelalter hinein. So war beispielsweise auch der später bedeutende Kirchenvater Augustinus (354–430) ein Manichäer gewesen, bevor er sich im Jahre 387 zum Christentum bekehrte.
Die Lehren Manis waren nicht in erster Linie gegen das Christentum, sondern gegen das Judentum und die alte parsische Religion des Zarathustra (entstanden im 6. Jahrhundert v.u.Z.) gerichtet und stellten den Versuch einer Verbindung von persischen und indischen Lehren mit dem christlichen Gedankengut dar. Sie sind eng verwandt mit denen der Gnosis und fordern von ihren Anhängern strenge Askese, eine vegetarische Ernährungsweise sowie den Verzicht auf Geschlechtsgenuß.
Im Zentrum der manichäischen Philosophie steht wiederum der Reinkarnationsgedanke sowie die aus der persischen Religion entnommene Lehre zweier ewig nebeneinander bestehender Welten (Reiche): 1.) Das Reich des Lichts, das der Herrschaft des göttlichen Vaters des Lichts untersteht und wo die ewigen Seelen beheimatet sind, und 2.) das Reich der Finsternis, das vom Meister der Dunkelheit und seinen Dämonen beherrscht wird und woraus die physischen Körper der Lebewesen stammen.
Jesus wird dabei als der aus dem Reiche des Lichts herabgestiegene Erlöser der Menschen betrachtet, der den Pfad nach Hause, in die Lichtwelt, aufgezeigt hat. Diesen Pfad jedoch muß jeder einzelne Mensch durch gottgefälliges Handeln selbst beschreiten, und zwar durch so viele Leben hindurch, wie für seine Läuterung erforderlich sind.
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