REINKARNATION
Die umfassende Wissenschaft
der Seelenwanderung

von Ronald Zürrer

Internet-Veröffentlichung Juli 2008,
(c)
Govinda-Verlag GmbH

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Vierter Teil: DAS MITTELALTER

Das Mittelalter

Mit dem Begriff Mittelalter bezeichnet die Geschichtswissenschaft den Zeitraum zwischen der „Antike“ und der „Neuzeit“, wobei Anfang und Ende des Mittelalters von verschiedenen Historikern unterschiedlich angesetzt werden. Um jedoch ein ungefähres Bild zu vermitteln, nehmen wir hier folgende, häufig genannte Datierung an:

Der Anfang des Mittelalters liegt um die Zeit des Untergangs des weströmischen Reiches (476), und sein Ende wird durch den Fall Konstantinopels (1453) und damit des Byzantinischen Reiches besiegelt (andere erklären erst die Reformation im Jahre 1517 als das endgültige Ende des Mittelalters).

Das für unsere spezifischen philosophischen Betrachtungen wohl bedeutendste Merkmal des Mittelalters stellt die unumstrittene Festigung der christlichen Kirche und ihrer Glaubenssätze dar, die sich grob in zwei Phasen gliedern läßt, nämlich 1. die Patristik und 2. die Scholastik.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Vierter Teil: DAS MITTELALTER

Die Patristik

Die erste Phase des aufkommenden Christentums ist die sogenannte Patristik (von latein. pater = „Vater“; gemeint sind die Kirchenväter), die den Zeitraum zwischen den Aposteln in den ersten beiden Jahrhunderten und etwa dem Jahr 800 umfaßt.

Das Merkmal dieser Epoche ist eine deutliche Verschmelzung der aus­gehenden antiken Philosophie mit den neuen christlichen Glaubenslehren, und so bildet das oströmische Reich um Griechenland und Konstantinopel den Hauptschauplatz der Patristik.

Da ich im folgenden Kapitel 6 in aller Ausführlichkeit auf die geschichtlichen und philosophischen Entwicklungen während der Patristik eingehen und dabei aufzeigen werde, wie die Lehre der Reinkarnation bewußt aus dem abendländisch-christlichen Denken beseitigt wurde, möchte ich an dieser Stelle auf eine detaillierte Besprechung des Zeitalters der Patristik verzichten.

Die Beseitigung des Wissens um die Reinkarnation durch die aufstrebende Kirche ist jedoch auch dafür verantwortlich, daß das gesamte Mittelalter für unsere konkrete Untersuchung der Geschichte des Reinkarnationsgedankens keine bedeutende Rolle spielt, so daß ich mich im folgenden auf einen knappen historischen Überblick beschränken kann.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Vierter Teil: DAS MITTELALTER

Die Scholastik

Nachdem sich die Lehren der christlichen Kirchenmacht und des Papsttums erfolgreich gegen die antiken Philosophien etabliert hatten, kam es nun, im Mittelalter, zu einer Verschmelzung mit dem Glauben und den Sitten des Germanentums und zu einer Systematisierung der christlichen Glaubenssätze. Der Hauptschauplatz der Geschichte verlegte sich nach Mitteleuropa, wobei die einflußreichsten Großmächte die Königshäuser von Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien waren.

Es herrschte dabei eine gemeinsame Einheitssprache in Theologie, Philosophie und Wissenschaft – das Lateinische –, in welcher nun sämtliche bedeutenden Schriftwerke verfaßt wurden. Diese zweite Phase des Christentums, die zur sogenannten „Einheit des christlichen Abendlandes“ führte und die den Zeitraum zwischen 800 bis etwa 1500 umfaßt, wird als Scholastik bezeichnet (latein., wörtlich „Schullehre“; auch: scholastici = Missionare, Kirchenlehrer).

Die herausragenden Kirchenlehrer der Scholastik waren der Deutsche Albertus Magnus (1193–1280) und sein italienischer Schüler Thomas von Aquin (1225–1274), der als der bedeutendste Philosoph des Mittelalters gilt und ein äußerst umfangreiches theologisch-philosophisches Schriftwerk hinterließ.

Auch der italienische Dichter Dante Alighieri (1265–1321) legte während dieser Zeit mit seinem Hauptwerk, der „Divina Commedia“ („Göttliche Komödie“, entstanden um 1310, Erstdruck 1472), einen Meilenstein in der Geschichte der christlichen Weltliteratur.

Sowohl in diesem Werk als auch in den Schriften seines Verehrers Giovanni Boccaccio (1313–1375; Hauptwerk „Decamerone“, entstanden 1348, Erstdruck 1470) finden sich vereinzelte Hinweise auf die Lehre der Seelenwanderung, die trotz der überragenden Vormachtstellung des Katholizismus durch das gesamte Mittelalter als esoterisches Geheimwissen in ganz Europa erhalten blieb.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Vierter Teil: DAS MITTELALTER

Die Katharer

Besonders in den Kreisen gewisser gnostischer Gruppierungen erhielt sich der Reinkarnationsgedanke im verborgenen auch während des „dunklen Mittelalters“, das nach der Überlieferung von Unwissenheit, Aberglauben, Barbarei und unglaublicher Grausamkeit gekennzeichnet war.

Als illustratives Beispiel sei in diesem Zusammenhang besonders der geheime Bund der Katharer (griech., wörtlich „die Reinen“) erwähnt, der sich, vom Balkan her kommend, seit dem 12. Jahrhundert schnell über Oberitalien und Südfrankreich verbreitete, aber auch in Deutschland, Spanien und Sizilien Fuß faßte.

Die Bewegung der Katharer, die insgesamt rund 72 Einzelgruppen umfaßte, nahm das manichäische und gnostische Gedankengut auf und forderte von ihren Anhängern ein streng entsagtes Leben der völligen Askese und Gotteshingabe. Neben der Reinkarnation, die in ihrer Philosophie eine zentrale Stellung einnahm, lehrten sie auch den konsequenten Vegetarismus, den Respekt vor allen Geschöpfen Gottes, das Ideal der Gewaltlosigkeit und des Pazifismus sowie das zölibatäre Leben.

Aus diesem Grunde wurde ihre Lehre oft mit jener des Heiligen Franz von Assisi (1181–1226), des Begründers des Ordens der Franziskaner, verglichen. Der Amerikaner Lynn White untersuchte in einem Artikel im Magazin „Science“ vom März 1967 die möglichen Verbindungen zwischen den Katharern und Franz von Assisi, den er als „den größten Radikalen der christlichen Geschichte seit Christus“ bezeichnet.

White zeigt, daß sich Franz von Assisi entschieden gegen den Hochmut des Menschen stellte, sich als Krönung und Herr der Schöpfung zu betrachten, und daß er eine „Demokratie aller Kreaturen“ anstrebte, da in seinen Augen sämtliche Lebewesen eine unsterbliche Seele besitzen, nicht nur der Mensch.

Diese franziskanische Lehre der „Tierseele“ wurde, so White, innerhalb kürzester Zeit jedoch ausgemerzt. Er schreibt: „Es ist sehr wohl möglich, daß sie, bewußt oder unbewußt, zu einem Großteil von dem Reinkarnationsglauben der katharischen Häretiker inspiriert worden war, welche sich zu jener Zeit in Italien und Südfrankreich breit gemacht hatten.“

Dort, im Süden Frankreichs, gewann vor allem die katharische Gruppe der Albigenser (nach der südfranzösischen Stadt Albi benannt) bedeutenden Einfluß und entwickelte sich zu einer bedrohlichen Gefahr für die institutionalisierte Kirche, da immer mehr Christen, abgestoßen von der Macht- und Geldgier der katholischen Priester, zu ihr überwechselten.

Die Albigenser verwarfen die kirchlichen Sakramente, Altäre, Kreuze und Bilder wie auch die Heiligen- und Reliquienverehrung und traten für ein von allen Äußerlichkeiten losgelöstes religiöses Streben nach Gottesverwirklichung ein.

Weder die diplomatischen Versuche der Kirche, die Albigenser für sich zurückzugewinnen, noch die mit blutiger Grausamkeit geführten Massaker während der Zeit der „Albigenserkriege“ (1209–1229), zu denen Papst Innozenz III. aufgerufen hatte, vermochten die Bewegung der Albigenser aufzuhalten.

Erst das Eingreifen des französischen Königs brach die politische Macht und den religiösen Einfluß der Albigenser; schließlich wurde die Bewegung um 1330 durch die „heilige Inquisition“ ausgerottet. Dennoch gelang es einzelnen Troubadouren und Künstlern, in verschiedene Teile Europas zu fliehen und dort unter anderem ihre mystischen Lehren der Wiedergeburt weiter zu verbreiten.

In ihrer „History of the Albigensian Crusade“ („Geschichte des Kreuzzuges gegen die Albigenser“, 1961) schreibt die amerikanische Historikerin Zo¦ Oldenbourg, daß die von den Albigensern vertretene Lehre der Reinkarnation jener der Hindus bemerkenswert ähnlich war, einschließlich „derselben exakten Berechnungen in bezug auf die individuelle Vergeltung nach dem Tode. Der Gerechte würde sich in einen Körper reinkarnieren, der seiner weiteren spirituellen Entwicklung förderlich wäre, während der Kriminelle gezwungen wäre, nach seinem Tode in einem Körper wiedergeboren zu werden, der voller Makel und angeborener Laster war.“

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Vierter Teil: DAS MITTELALTER

Meister Eckhart

Das ins Hochmittelalter fallende Zeitalter der Kreuzzüge (1096– 1270) brachte eine folgenreiche Berührung der abendländisch-christlichen Kultur mit den islamischen und jüdischen Kulturen des Morgenlandes, insbesondere auch mit den mystischen Lehren der Kabbala. Als Folge davon beschäftigte sich das spätmittelalterliche Denken (nach einer Ruhepause von annähernd 1000 Jahren) vereinzelt auch wieder mit der wiederaufblühenden antiken Philosophie Griechenlands, vor allem mit den Ideen des Platon und der Neuplatoniker.

Die deutlichsten Gemeinsamkeiten mit deren indischem Gedankengut sind in der deutschen Mystik zu finden, hier insbesondere bei Meister Eckhart (1260–1327), der möglicherweise noch unmittelbarer Schüler des Albertus Magnus in Köln war und wie dieser dem Dominikanerorden angehörte.

Die Philosophie Meister Eckharts stellt kein durchgearbeitetes System dar, sondern ist Ausdruck eines intensiven mystisch-religiösen Erlebens der Wirklichkeit Gottes. Sie zeigt eine sichtbare Verwandtschaft mit Platon und Plotin sowie gewissen gnostischen Vorstellungen, wenngleich sie dennoch in dem Sinne zutiefst christlich blieb, als die Person Jesu als Vermittler zu Gott die zentrale Stellung in der Mystik Eckharts einnimmt.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Vierter Teil: DAS MITTELALTER

Edda und Gralslegende

Auch in den beiden wichtigsten Quellen der mittelalterlichen altgermanischen Dichtung, der Edda und der Gralslegende, finden sich zahlreiche Anspielungen auf den Reinkarnationsgedanken. Über die Edda, eine zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert entstandene und im 13. Jahrhundert aufgezeichnete Sammlung von Götter- und Heldenliedern, schreibt der deutsche Gelehrte Emil Bock

Völlig wesensfremd muß der Edda jede Unsterblichkeit sein, die auf einem Auseinanderreißen des Diesseits und des Jenseits beruht. Mag auch die Seele nach dem Erdentode, zumal wenn es der heldische Tod gewesen ist, eine Zeitlang in einer der Wohnungen des überirdischen Reiches weilen: Wenn schon das irdische Leben eine Durchdringung von Menschlichem und Göttlichem war, muß dann nicht auch das irdische Leben der Schauplatz der fortschreitenden Vollendung sein?
 

An einigen Stellen kann man durch den überlieferten Text der Edda hindurch in die germanische Seele hineinschauen, die, bevor sie zur kopfmäßigen Verständigkeit erwachte, in dem Bewußtsein der wiederholten Erdenleben [Reinkarnation] wie in einem selbstverständlichen Wahrheitselement webte und lebte. So wird als das tragische Verhängnis der Brünhildengestalt die Abtrennung von der Möglichkeit weiterer Verkörperungen bezeichnet. Hagan spricht über sie die fluchähnlichen Worte:
 

Erfüllen mög’ sich ihr finstres Geschick!

Verleide ihr keiner den langen Weg,

Und verwehrt sei ihr ewig die Wiedergeburt!

(in: „Wiederholte Erdenleben“, 1932; S. 14f.)

An anderen Stellen der Edda werden sogar konkrete Angaben ge­macht, wer wiedergeboren wurde: 

Von Helge und Schwabe wird gesagt, daß sie wiedereboren wurden, und da hieß er Helge Hundingstöter, und sie Siegrun, Hagans Tochter. (Lied von Helge Schwertwartsohn; übertragen von Rudolf Gorsleben)

 

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Vierter Teil: DAS MITTELALTER

Das Ende des Mittelalters

Vier große Erfindungen, die das Antlitz Europas radikal veränderten, können als die äußeren Kennzeichen des auslaufenden Mittelalters bezeichnet werden, nämlich:

1.) Die Erfindung des Kompasses (um 1190), der das Befahren der Weltmeere ermöglichte und das Zeitalter der Entdeckungen und die damit verbundene europäisch-christliche Expansion über den größten Teil der Erde einleitete;

2.) die Erfindung des Schießpulvers (um 1300), das die beherrschende Stellung des Rittertums beendete und eine völlig neue Art der Kriegsführung ermöglichte;

3.) die Erfindung der mechanischen Uhr (um 1350), die allmählich zu einer grundlegend anderen Lebensgestaltung des Menschen führte, sowie

4.) die Erfindung des Buchdrucks (1450), der eine noch nie dagewesene Verbreitung von theologischen, philosophischen und wissenschaftlichen Texten nach sich zog.

Ebenfalls als äußere Kennzeichen für das Ende des Mittelalters könnten genannt werden:

5.) Die Entdeckung Amerikas durch den Spanier Christoph Kolumbus (1492),

6.) die Erschließung des Seewegs nach Indien (den Kolumbus eigentlich gesucht hatte) durch den Portugiesen Vasco da Gama (1498) sowie

7.) die erste Umsegelung der Erde durch den Portugiesen Fernao de Magalhaes (1520).

Auch im Bereich der Naturwissenschaften kündigten einige bahnbrechende Errungenschaften das „neue Zeitalter“ an. Besonders zu erwähnen ist hierbei das durch den polnischen Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473–1543) neu eingebrachte heliozentrische oder kopernikanische Weltsystem, das – im Gegensatz zum bisherigen geozentrischen Weltbild des Mittelalters – nicht mehr die Erde, sondern die Sonne als den Mittelpunkt des Universums annahm (dargestellt in seinem Hauptwerk „De revolutionibus orbium coelestium“, „Über die Umdrehungen der Himmelskörper“, 1543).

Neben diesen äußeren Kennzeichen zeugt auch eine Anzahl jetzt hervortretender „innerer“ Veränderungen (oder, modern ausgedrückt, neuer „Paradigmen“) vom Ende des Mittelalters und vom Anbruch einer völlig neuen Epoche der westlichen Geistesgeschichte. Dies waren vor allem:

1.) Der Individualismus, das heißt, die hohe Wertschätzung der freien Einzelpersönlichkeit;

2.) die wieder aufblühende freie Auseinandersetzung mit der Antike ohne Rücksicht auf theologische Bindungen;

3.) eine neue Wissenschaft, die sich allein auf Vernunft (Ratio) und Erfahrung (Empirie) aufbaute und zu einer Trennung zwischen „Glauben“ und „Wissen“ führte, sowie

4.) eine neue Weltlichkeit oder Weltzugewandtheit, welche die scholastische Zeit des rein geistlichen Denkens und Strebens ablöste.

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