REINKARNATION
Die umfassende Wissenschaft
der Seelenwanderung

von Ronald Zürrer

Internet-Veröffentlichung Juli 2008,
(c)
Govinda-Verlag GmbH

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Zweiter Teil: DIE WELTRELIGIONEN

Die zehn Weltreligionen
(in chronologischer Reihenfolge)

Religion Entstehung
(Ort, Zeit)
Begründer Hauptschrift(en) Anhänger*

1. Hinduismus

Indien,
mind.
3000 v.u.Z.

(kein)

Veda (Bhagavad-gita, Puranas, Upanishaden u.a.)

754 Mio.

2. Judentum

Palästina,
13. Jh. v.u.Z

Mose (13. Jh. v.u.Z.)

Altes Testament
(Thora u.a.), Talmud

17,8 Mio.

3. Taoismus

China, 6. Jh. v.u.Z.

Lao-tse (?604–520)

Tao-te-ching

32 Mio.

4. Konfuzianismus

China, 6. Jh. v.u.Z.

Kung-fu-tse (?551–480)

Lun-yü, I -ging

6 Mio.

5. Shintoismus

Japan, 6. Jh. v.u.Z.

?

Ko-ji-ki, Nihon-gi, Norito

3,2 Mio.

6. Buddhismus

Indien, 6. Jh. v.u.Z.

Gautama Buddha
(560–480)

Tri-pitaka

314 Mio.

7. Jainismus

Indien, 6. Jh. v.u.Z.

Mahavira (549–477)

Siddhanta

3,8 Mio.

8. Christentum

Palästina, 1. Jh.

Jesus v. Nazareth
(? 6 v. – 30 n.)

Bibel (Altes und Neues Testament

1869 Mio.

9. Islam

Arabien, 7. Jh.

Mohammed (570–632)

Koran

971 Mio.

10. Sikhismus

Indien, 16. Jh.

Guru Nanak (1469–1539)

Granth

18,8 Mio.


(*Maximalschätzungen, nach Fischer Weltalmanach 1996)

 

 


KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Zweiter Teil: DIE WELTRELIGIONEN
 

Asien

Alle asiatischen Kulturen und Religionen – so verschieden sie auch sein mögen – zeichnen sich insbesondere durch eine Gemeinsamkeit aus: durch ihre Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten von Karma und Reinkarnation. (Diesem und wohl einzig diesem Umstand ist es übrigens auch zuzuschreiben, daß der Reinkarnationsgedanke bei uns zuweilen auch heute noch fälschlicherweise für etwas Östliches, etwas Asiatisches und somit für etwas „Fremdes“ gehalten wird.)

Zu den asiatischen Religionen, die sich zur Reinkarnation bekennen, zählen vornehmlich die beiden großen, Hinduismus und Buddhismus, die beide ihren Ursprung in Indien haben. Es gehören aber auch die indischen Religionen des Jainismus und des Sikhismus dazu sowie der persische Zoroastrismus, der chinesische Konfuzianismus und Taoismus, der tibetische Lamaismus und der japanische Shintoismus – um nur die wichtigsten zu nennen (siehe obenstehendes Schema „Die zehn Weltreligionen“).

Da wir uns in diesem Kapitel insbesondere mit der Entwicklung des Reinkarnationsgedankens in der abendländischen Geisteswelt beschäftigen möchten, werde ich mich hier auf diesen einen berühmten Ausspruch des Gautama Buddha beschränken: 

Als ich zu vollkommener Schauung gelangt war, da erinnerte ich mich an meine früheren Daseinsformen, an ein, an zwei, an tausend Leben. Dort war ich, jene Namen hatte ich, jener Familie gehörte ich an, das war mein Beruf, solches wohl und mehr habe ich erfahren.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Zweiter Teil: DIE WELTRELIGIONEN

Ägypten

Im Abendland tritt der Seelenwanderungsgedanke schon in der alten ägyptischen Hochkultur (ab 2000 v.u.Z.) auf, wo man ihn vermutlich ursprünglich aus Persien und Indien übernommen und im Lauf der Jahrhunderte abgewandelt und weiterentwickelt hat. Der griechische Historiker Herodot (485–425) erzählt in seinen Historien: 

Die Ägypter sind auch die ersten, welche folgende Lehre ausgesprochen haben: daß des Menschen Seele unsterblich sei und, wenn der Leib zugrunde gehe, in ein jeweils entstehendes anderes Lebewesen eingehe; wenn sie aber durch allerlei Land-, Wasser- und Lufttiere gewandert sei, gehe sie wieder in einen entstehenden Menschenleib ein... Diese Lehre haben sich auch einige Hellenen angeeignet, die einen früher, die anderen später, als ob sie ihr geistiges Eigentum sei. (Zweites Buch, 123. Kapitel)

Das altägyptische Wort Khou bezeichnet die Seele der Verstorbenen, die sich nach dem Tode in die Unterwelt (Ker-Neter) begibt, wo die guten und schlechten Taten gewogen und vom Sonnengott Osiris beurteilt werden. Dabei wird das Herz auf eine Waagschale gelegt, während auf der anderen Seite die Gerechtigkeit ruht.

Was die Waage zeigt, wird alsdann von Thot, dem Gott der Weisheit, notiert und bestimmt das weitere Schicksal der Seele. Während der Gerechte Aufnahme als Begleiter des Osiris findet, wird der Ungerechte auf dem Unterwelt-Schafott Nemma hingerichtet, wobei ihm ein Nilpferd den Kopf abbeißt. Bevor diese Strafe vollzogen wird, muß die Seele nochmals auf Erden umherirren und viele Prüfungen bestehen, wobei sie die Macht hat, beliebige Körperformen anzunehmen und sowohl in Menschen als auch in einbalsamierte Mumien einzudringen.

Offensichtlich kannten die alten Ägypter auch das Phänomen der Besessenheit, wie eine Tempelinschrift bezeugt, die von einer Königstochter berichtet, von der eine „böse Seele“ Besitz ergriffen hatte.

Nachdem die Griechen die Herrschaft über Ägypten errungen hatten, übernahmen sie teilweise die altägyptische Religion und Mythologie und damit wohl auch gewisse Gedanken der Reinkarnationslehre (siehe nächster Teil: Das klassische Altertum).

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Zweiter Teil: DIE WELTRELIGIONEN

Judentum und Altes Testament

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Hauptströmungen der drei semitischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) anerkennen heute den Reinkarnationsgedanken offiziell nicht. Dennoch finden sich bei allen drei in zahlreichen einzelnen Gruppierungen und Traditionen der Vergangenheit wie auch der Gegenwart eindeutige Hinweise auf diese Lehre.

Im Falle des Judentums, aus dem sich die beiden anderen entwickelten, wird im „Bertelsmann-Lexikon des Judentums“ unter dem Stichwort Seelenwanderung eine Wiederverkörperung der Seele erwähnt, die in Hebräisch Gilgul genannt wird, wörtlich „das Rollen“. (Interessanterweise ist dieses Wort verwandt mit dem hebräischen Galgal, „das Rad“; das gleiche Bild des sich immerfort drehenden Rades kommt auch im Sanskritwort für Reinkarnation, Sa„sara, zum Ausdruck.)

Der jüdische Philosoph Prof. Friedrich Weinreb (1910–1988), einer der größten Kenner des alten Judentums, erklärt diesen Begriff „Gilgul“ in seinem Werk „Das Buch Jonah – nach der ältesten jüdischen Überlieferung“. Im Kapitel „Gilgul, mißverstandene Reinkarnation“ (S. 100–103) schreibt er, der jüdische Begriff für die ewige göttliche Geistseele, Neschamah (hebräisch, wörtlich „Atem, Hauch“), bezeichne den in jedem Menschen gleichermaßen vorhandenen, unzerstörbaren und vollkommenen Gottesfunken, der sich einmal als diese, einmal als jene historische Persönlichkeit auf der Erde inkarniert.

Eine solche „Inkarnation“ heiße dann Gilgul. (Auf Seite 104 erwähnt Weinreb z.B. vier „Gilguls“ der Eva: Sarah, Channah, die Schunamitische aus 2 Kön 4 und die Witwe von Zarpath.) Klar hebt Weinreb bei seiner Beschreibung auch die Notwendigkeit der Rückkehr des Menschen aus der diesseitigen Welt in das jenseitige Königreich Gottes hervor.

David Schweizer, Präsident der Zionistischen Vereinigung Basel, schreibt (in einem Leserbrief zum Artikel „Eine Reinkarnation wirbelt Staub auf“, BaZ Nr. 120, 6. Juni 1998): 

In diesem Artikel wird behauptet, daß die Mehrheit der religiösen Juden nicht an Reinkarnation glaubt. Das ist falsch. Die Wiederverkörperung (Gilgul) ist im religiösen Judentum weitgehend anerkannt. Für die chassidischen Juden ist der Glaube an Reinkarnation ein zentrales Element ihres religiösen Selbstverständnisses.

 

Sie bildeten vor dem Holocaust die Mehrheit des europäischen Judentums und sind auch heute eine der größten jüdischen Gruppierungen.

Und der jüdische Gelehrte Rabbi Jacob N. Shimmel, Gründer und Leiter der „Torah and Talmud Beth Rabbinical Association“ in New York, sagt:  

Der Glaube an die Reinkarnation gehört eigentlich zu den Grundsätzen des Judentums. Doch heutzutage ist dieses Thema nahezu tabu, da sich seine Behandlung mehr oder weniger auf die kabbalistische Literatur, die Mystik, beschränkt... In Hebräisch wird die Reinkarnation „Gilgul“ genannt, ja es gibt sogar einen ganzen Abschnitt innerhalb der Kabbala, der Sefer HaGilgulim heißt.

 

Dort werden die Einzelheiten in bezug auf die Reinkarnationslehre erörtert. Es heißt dort zum Beispiel, daß es möglich ist, als Tier, als Baum, als Insekt und sogar als eine gewisse Art von Stein wiedergeboren zu werden. Dennoch gehört die Seelenwanderung nicht zu den zentralen Lehren des Judentums, denn wir legen in unserer Spiritualität in erster Linie Nachdruck auf das Hier und Jetzt. (in: „Om Shalom“, 1990, S. 24)

Das orthodoxe Judentum kennt insbesondere drei heilige Schriften, die wir nun im Hinblick auf den Reinkarnationsgedanken kurz untersuchen möchten: 

1. Das Alte Testament

2. Der Talmud

3. Der Sohar (Kabbala)

Das Alte Testament.
In den heute überlieferten Schriften des Alten Testaments finden sich nur (noch) sehr vereinzelte Andeutungen auf Karma und Reinkarnation, wobei dies möglicherweise auch damit zusammenhängen könnte, daß im Verlaufe der Geschichte immer wieder Korrekturen am Text vorgenommen und bestimmte Lehren bewußt beseitigt wurden.

Dennoch wird aus der Gesamtschau ersichtlich, daß gewisse Kenntnisse dieser Gesetzmäßigkeiten bereits beim alten jüdischen Volk vorhanden waren. So deutet beispielsweise der folgende Vers aus dem ersten Buch Mose auf ein vages Verständnis der Karma-Gesetze hin: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird durch Menschen vergossen“ (Gen 9,6).

Auch wird die Präexistenz der Seele von Salomo im Buch der Weisheit bestätigt: „Ich war ein begabtes Kind und hatte eine gute Seele erhalten, oder vielmehr: gut, wie ich war, kam ich in einen unverdorbenen Leib“ (Weish 8,19–20). Und beim Propheten Jeremias heißt es: „Das Wort des Herrn erging an mich: Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt“ (Jer 1,4–5).

Eine berühmte Stelle, die zuweilen aus dem Zusammenhang gerissen und als Beweis gegen die Reinkarnation angeführt wird, findet sich ebenfalls im Buch der Weisheit: „Unsere Zeit geht vorüber wie ein Schatten, unser Ende wiederholt sich nicht; es ist versiegelt, und keiner kommt zurück.“ (Weish 2,5)

Doch gilt es hier zu beachten, daß diese Stelle aus der „Rede der gottlosen Frevler“ stammt, die wenige Verse später verurteilt wird: „So denken sie [die Frevler], aber sie irren sich; denn ihre Schlechtigkeit macht sie blind. Sie verstehen von Gottes Geheimnissen nichts, sie hoffen nicht auf Lohn für die Frömmigkeit und erwarten keine Auszeichnung für untadelige Seelen.“ (Weish 2,21–22)

Im richtigen Zusammenhang betrachtet, entpuppt sich diese Bibelstelle als vorsichtiger Beweis für das Weiterleben nach dem Tode und dafür, daß wir uns gemäß der Karma-Gesetze für unsere Taten vor Gott werden verantworten müssen. Jemand, der diese Wahrheit nicht akzeptiert, „versteht nichts von Gottes Geheimnissen“, sagt der Verfasser der Weisheit.

Im Buch des Propheten Ezechiel (entstanden um 600 v.u.Z.) wird sogar die Wiederkunft (Reinkarnation) König Davids angekündigt, der vier Jahrhunderte zuvor gelebt hatte: „Gott sprach: Ich setze für sie einen einzigen Hirten ein, der sie auf die Weide führt, meinen Knecht David. Er wird sie weiden, und er wird ihr Hirt sein. Ich selbst, der Herr, werde ihr Gott sein, und mein Knecht David wird in ihrer Mitte der Fürst sein.“ (Ez 34,23–24)

Die wohl eindeutigste alttestamentarische Textstelle finden wir schließlich in einem Gebet des Mose im Psalter: „Du läßt die Menschen zurückkehren zum Staub und sprichst: Kommt wieder, ihr Menschen! Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht.“ (Ps 90,3–4) 

Der Talmud.
Deutlicher als das heutige Alte Testament sprechen sich dagegen diejenigen jüdischen Texte aus, die das Christentum im Gegensatz zum Judentum nicht als göttliche Offenbarungen anerkennt.

Der Talmud (hebräisch, wörtlich „die Lehre, die Wissenschaft“) ist ein Sammelwerk rabbinischer Kommentare zum jüdischen Glauben und zur Tradition desselben. Er enthält die Auslegungen, Anwendungen und Weiterbildungen der mosaischen Gesetze der Thora. Mit dem Begriff Thora (hebr., wörtlich „das Gesetz“) bezeichnet das Judentum die fünf Bücher Mose des Alten Testaments (griech. auch Pentateuch, wörtlich „Fünfrollenbuch“, genannt).

Während die Thora das „geschriebene Gesetz“ darstellt, versteht man unter dem Talmud das „ungeschriebene“, von verschiedenen Rabbinerschulen mündlich weitergegebene Gesetz, das laut Überlieferung ursprünglich – ebenso wie die Thora – von Mose (13. Jh. v.u.Z.) stammt. Erst später, beginnend im 6. Jahrhundert v.u.Z., wurden die Lehren des Talmud schriftlich in Aramäisch und Hebräisch niedergelegt (abgeschlossen im 5. Jh. n.u.Z.).

Im spätantiken Judentum und im Talmud finden sich eindeutige Aussagen bezüglich des Auferstehungsglaubens, in letzterem auch über die Präexistenz der Seele, sowie zahlreiche Hinweise auf eine Art Seelenwanderung, wenn es beispielsweise heißt, Abels Seele sei in Seths Körper und von dort in Moses übergegangen. Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus Flavius, ein Zeitgenosse Jesu, berichtet in seinen „Jüdischen Altertümern“, daß ein Großteil der Juden seiner Zeit an die Seelenwanderung glaubte, insbesondere die Gemeinden der Essener und Nazarener, aus deren Kreis Johannes der Täufer und, zumindest ideologisch, auch Jesus hervorgingen.

Nach Josephus waren die Pharisäer der Ansicht, daß die unsterbliche Seele im Jenseits ein Stadium vergeltenden Ausgleichs durchschreite, wonach für die Tugendhaften die Wiedergeburt in einem neuen Körper erfreulicher sei als für die Sündhaften.

Die traditionellen Anhänger des Talmud nahmen an, Gott habe nur eine bestimmte Anzahl von Judenseelen geschaffen, die daher immer wieder geboren würden, solange es Juden gäbe. Bisweilen würden sie auch zur Strafe in Tierkörper versetzt, seien aber am Tage der Auferstehung alle gereinigt und würden in den Leibern der Gerechten ins Gelobte Land zurückkehren.

Im Buch des Israeliten Schalom Ben-Chorin (1913–1999) mit dem Titel „Bruder Jesus, der Nazarener in jüdischer Sicht“ (1967) wird bestätigt, daß der Reinkarnationsgedanke im Judentum der Zeit Jesu offensichtlich Volksglaube gewesen war. Im Talmud fänden sich, wie der Autor schreibt, oft Notizen, „die auf einen Seelenwanderungs- oder Wiedergeburtsglauben schließen lassen, wie etwa die Bemerkung: Mordechai, das ist Samuel! Hier will gesagt sein, daß der Jude Mordechai, der Onkel der Königin Esther, eine Wiedergeburt des Propheten Samuel war.“

Ben-Chorin bemerkt weiter, daß die Reinkarnationslehre vor allem in der jüdischen Mystik, der Kabbala, weiterentwickelt worden und später auch in den chassidischen Volksglauben eingegangen sei. Nach dieser Vorstellung würde der Mensch mehrfach wiedergeboren, wobei er einen Gilgul-Neschamah (eine Seelenwanderung) durchmache oder sich einer anderen Seele „anhefte“ (Ibbur-Nescha­mah); dies dauere so lange, bis er seinen Tikkun, seine Erlösung, gefunden habe. Ben-Chorin schreibt dazu: 

Es bleibe hier unerörtert, wie alt diese Vorstellungen [der Reinkarnation] im Judentum sind. Nach der Tradition gehen sie freilich auf die Urtage der Menschheit zurück und wurden vorwiegend durch Rabbi Simon ben Jochai, einen Zeitgenossen Rabbi Akibas, in dem ihm zugeschriebenen Buch Sohar offenbart. Wir wissen heute freilich, daß der Sohar ein mittelalterliches Werk darstellt, aber das schließt nicht aus, daß hier alte Traditionen verarbeitet wurden. (S. 25)

Der Sohar (Kabbala).
Mit dem Begriff Kabbala (hebräisch, wörtlich „Überlieferung“) wird die mittelalterliche jüdische Mystik und Esoterik bezeichnet, eine Sammlung verschiedener Geheimlehren, welche nach Auffassung vieler hebräischer Gelehrter die versteckte Weisheit hinter den mosaischen Texten offenbaren. Die ersten kabbalistischen Schriften stammen aus der Zeit vom 9. bis 13. Jahrhundert und stehen unter dem Einfluß mannigfaltiger philosophischer Richtungen. So vereinen sie jüdische, neuplatonische, gnostische und christliche Lehren mit gewissen Elementen aus der indischen, persischen und islamischen Religion.

Der Sohar (hebräisch, auch Zohar oder Sepher ha Sohar genannt; wörtlich „das Buch des Glanzes“) bildet das Hauptwerk der Kabbala und stellt einen Kommentar zur Thora dar. Die Überlieferung besagt, daß der Sohar ursprünglich auf den jüdischen Theosophen Rabbi Simon ben Jochai (1. Jh.) zurückgeht, während die modernen Gelehrten seine Entstehung auf das Jahr 1280 legen, als der Sohar von Rabbi Moses de Leon in Spanien veröffentlicht wurde. Seine spätere Ausprägung erfuhr der Sohar vor allem durch einen Kommentar von Rabbi Isaak Luria (1534–1572; „palästinensische Kabbala“).

Die Kabbala enthält eine ausgeprägte Seelenwanderungslehre, die als allgemeines Gesetz dargestellt wird. Ihre Lehre besagt, daß der Mensch ursprünglich von Gott ausgegangen sei und letztlich zu Ihm zurückkehren müsse, um die verlorene Unsterblichkeit wiederzugewinnen. Hierzu sei es notwendig, sich so oft wieder zu inkarnieren, bis dieser Reifegrad erreicht sei, wobei die Inkarnationen auch im Tier- und Pflanzenreich stattfinden können. Im Sohar heißt es: 

Die Seelen müssen wieder in das absolute Dasein eintreten, aus dem sie hervorgegangen sind. Aber um dies zu erreichen, müssen sie alle Vollkommenheiten entwickeln, die sie in Samenform bereits in sich tragen. Wenn sie diese Bedingungen während eines Lebens nicht erfüllen, müssen sie ein weiteres Leben beginnen, dann ein drittes usw., bis sie den Zustand erreicht haben, in dem sie sich wieder mit Gott vereinen können. 

Und: 

Alle Seelen sind der Wanderung unterworfen, aber die meisten kennen weder den Weg noch das zugrunde liegende Gesetz, nach welchem sie nach dem Tode und ebenso vor der neuen Verkörperung das Gericht durchschreiten.

Zur Seelenwanderungslehre in der Kabbala schreibt der Schweizer Religionswissenschaftler Dr. Richard Friedli in „Zwischen Himmel und Hölle – Die Reinkarnation“: 

Der Glaube an die Metempsychosis wird auch als eine rationale Erklärung für abwesende oder mangelnde Gerechtigkeit gebraucht. Seelenwanderung gibt dann eine Antwort auf die Frage nach dem „Warum des Leidens“ in der Welt – besonders auf die Frage nach dem Leiden des Gerechten.

 

Das aktuelle Leiden eines gerechten Menschen wird somit als die Buße für im vorausgehenden Gilgul verübte Sünden interpretiert. Das Buch Job liest sich dann nach dem Modell der Seelenwanderung.
 

Das Gesetz der reinigenden Seelenwanderung ist zwar unerbittlich, aber es ist auch ein Zeichen von Gottes Erbarmen, von dem niemand für immer ausgeschlossen ist. Je nach Temperament unterstreichen Kabbalisten mehr die Dimension der Gerechtigkeit oder mehr jene des Erbarmens – so oder so ist die Seelenwanderung die Reinigung der Seele und eine Chance, in einem neuen Anlauf und Versuch die Taten zu verbessern. (S. 37) 

Chassidismus.
Die Reinkarnationslehre hat auch die neuzeitliche jüdische Volksbewegung des osteuropäischen Chassidismus (hebräisch chassidim = „die Frommen“) übernommen, die Mitte des 18. Jahrhunderts durch Israel ben Elieser (1699–1760, genannt auch Baal Schem, „Herr des guten Namens“) begründet wurde und eine mystische Gegenbewegung gegenüber der rationalistischen Nüchternheit des Talmudismus darstellt. Baal Schem lehrte: 

Der Sinn der Wiederkehr ist, daß sich die Einzigkeit – dieses wesentliche Gut des Menschen – von Leben zu Leben immer mehr reinige und vollkommen werde und daß in jedem neuen Dasein der Wiederkehrende in ungetrübter Unvergleichbarkeit erstehe.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Zweiter Teil: DIE WELTRELIGIONEN

Islam

Der Islam (arabisch, wörtlich „Gehorsam, Ergebung an Gott“) ist die von dem Propheten Mohammed (570–632) verkündete monotheistische Religion der Hingabe des Menschen an den einzigen allmächtigen Gott (arab. Allah). Die heilige Schrift des Islam stellt der von Gott durch Mohammed persönlich offenbarte Koran (arab. Qur’an, wörtlich „die Verkündigung“) dar, der in 114 „Suren“ aufgegliedert ist, welche ihrerseits der Länge nach geordnet sind. In der 2. Sure finden wir folgende interessante Aussage:

Wie könnt ihr an Gott nicht glauben, wo ihr doch tot waret und Er euch lebendig gemacht hat und Er euch dann wieder sterben läßt und darauf wieder lebendig macht. Er ist es, der euch alles, was auf der Erde ist, geschaffen hat. ... Er weiß über alles Bescheid. (2. Sure, Vers 28–29)

Der Islam weist manche Entlehnung aus Judentum und Christentum auf, ist jedoch durch eine starke Vereinfachung religiöser Fragen gekennzeichnet. Die Anhänger des Islam, die Moslems, glauben an die Vorherbestimmung der Handlungen und Schicksale der Menschen durch Allah, an ein Weiterleben nach dem Tode, an die Vergeltung der guten und schlechten Taten in Paradies bzw. Hölle sowie an die Auferstehung der Toten am „Jüngsten Tag“.

Eine ausformulierte Reinkarnationslehre hingegen ist in der offiziellen islamischen Religion heute nicht zu finden, wohl aber – wie bereits im Judentum und im Christentum – bei zahlreichen ein­zelnen esoterischen Gruppierungen.

Sufismus.
Unter den vielfältigen Strömungen innerhalb des Islam sind es vor allem die asketisch-mystischen Sufis, die den Gedanken der Reinkarnation in ihre Lehre aufgenommen haben. Der Sufismus (von arab. suf = „reine, weiße Wolle“, in die sich die Sufis kleiden) ist stark durch außerislamische Lehren, wie den Neuplatonismus und die indischen Philosophien, beeinflußt und blühte vor allem in Persien.

Die Sufi-Lehre besagt in bezug auf das Weiterleben nach dem Tode, daß der Tod für den Menschen kein Verlust sei, da die unsterbliche Seele unablässig im Zyklus der Wiedergeburten durch verschiedene Körperformen wandere, um sich so allmählich zu erheben. Diese Auffassung kommt in dem folgenden, immer wieder angeführten Gedicht des berühmten Sufi-Mystikers Djelal ed-din Rumi (1207–1273) in anschaulicher Weise zum Ausdruck: 

Ich starb als Stein und wurde Pflanze;

Ich starb als Pflanze und wurde Tier;

Ich starb als Tier und wurde zum Menschen.

Warum sollte ich mich also fürchten?

Wurde ich jemals geringer durch den Tod?

Einstmals werde ich als Mensch sterben, und

Werde ein Wesen aus Licht, ein Engel des Traums.

Aber mein Weg führt weiter –

Alles außer Gott verschwindet.

Ich werde, was niemand gesehen oder gehört hat;

Ich werde Stern über allen Sternen

Und strahle über Geburt und Tod.

Andere islamische Traditionen.
Aber auch in anderen Strömungen innerhalb der islamischen Religion tritt der Glaube an die Seelenwanderung (arabisch Tanasukh genannt) vereinzelt auf. Richard Friedli schreibt hierzu: 

...So sind die Vertreter eines Hauptstromes des Schiismus, die Ismailiten, davon überzeugt, daß die Seelen sich in der Welt von Geburt und Tod, von Entstehen und Vergehen abmühen, bis sie den „verborgenen Imam“ erkennen, der die Welt regiert. Dann erheben sich die Seelen in die Welt des Lichtglanzes.
 

Die Nusairier glauben, daß die Sünder ihrer Gemeinschaft als Juden, sunnitische Muslime oder Christen wiedergeboren werden. Die Ungläubigen, welche in Ali – Vetter des Propheten Muhammad und Gatte seiner Tochter Fatima – nicht den großen Weisen erkennen wollen, kehren als Kamele, Maultiere, Esel, Hunde oder andere Tiere zurück.

 

Nach der Lehre der Nusairier gibt es sieben Grade der Seelenwanderung, und die gläubige Seele, welche diese Bereiche durchlaufen hat, steigt zu den Sternen auf, woher sie ursprünglich auch gekommen war.
 

Die Drusen, die im südlichen Libanon leben, haben einen Teil dieser volkstümlichen Seelenwanderungs-Vorstellungen übernommen. Sie gehen davon aus, daß die Seelen der Feinde Alis sich als Hunde, Affen oder Schweine wiederverkörpern.
 

Die Kurden geben ihrerseits für die Wanderbewegung der Seelen, welche in ihren folgenden Existenzen menschliche oder tierische Körper annehmen können, Intervalle von 72 Jahren an. (S. 38)

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