REINKARNATION von Ronald Zürrer |
Internet-Veröffentlichung Juli 2008, |
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KAPITEL 2: WAS IST REINKARNATION?
Die ältesten Quellen über Reinkarnation: Die vedische Literatur
Nachdem wir aus den Betrachtungen in Kapitel 1 erkannt haben, wie aktuell und wichtig die Fragestellung nach der Reinkarnation gerade in der heutigen Zeit des geistigen Auf- und Umbruchs der abendländischen Kultur ist, möchten wir uns in diesem Kapitel nun mit der offensichtlichen Frage befassen, was wir überhaupt unter dem Begriff der Reinkarnation zu verstehen haben.
Zur Beantwortung dieser Frage werden wir insbesondere die alten indischen Schriften zu Rate ziehen, da sich darin die ersten und umfassendsten schriftlichen Aufzeichnungen über das menschliche Sterben und Wiedergeborenwerden finden.
Diese alten indischen Schriften heißen „vedische Literatur“, und ihre Ursprünge reichen nach eigenen Aussagen bis in die Zeit vor 5000 Jahren zurück. Sie gehören damit zu den ältesten überlieferten Schriftwerken, die in der Menschheitsgeschichte bekannt sind. Das vedische Schrifttum ist äußerst umfangreich und umfaßt Hunderte von Bänden, in denen ausführliche Abhandlungen über die verschiedensten Wissensgebiete enthalten sind.
Man kann sogar sagen, daß es kaum einen Themenbereich oder eine Wissenschaft gibt, die nicht irgendwo in der vedischen Literatur diskutiert würde. Dies ist allerdings auch nicht weiter verwunderlich, denn das Sanskritwort Veda an sich bedeutet nichts anderes als „Wissen“.
Zum Beispiel werden in der vedischen Literatur Wissensgebiete wie Medizin (Ayurveda), Astronomie und Astrologie (Jyotir-Veda), Geometrie und Mathematik (Shilpa-shastra), Sozialwissenschaften (Varnashrama-dharma), Geschichtswissenschaften (Puranas), Architektur und Ingenieurwesen (Sthapatya-Veda), militärische Wissenschaften (Dhanur-Veda), Rechtswissenschaften (Manu-samhita und Yajnavalkya-samhita) sowie Physik und Chemie behandelt, aber auch Musikwissenschaften (Gandharva-Veda), Schauspiel- und Dichtkunst (Natya-shastra) und überhaupt alle Aspekte des zivilisierten menschlichen Lebens.
So ist es nicht weiter verwunderlich, daß sich einige dieser vedischen Werke heutzutage großer Popularität erfreuen und inzwischen in viele Sprachen übersetzt worden sind (z.B. Ayurveda). Die Kenner des Veda sind sich jedoch einig, daß das Ziel des vedischen Gedankenguts nicht in der bloßen Ansammlung von akademischem Wissen besteht, sondern vielmehr darin, letztlich allgemeingültige Wahrheiten zu erreichen, deren Erkenntnis dann zur Freiheit der Seele führt.
Der Hauptzweck des Veda ist es also, dem Studenten Hilfe auf seinem inneren Pfad der Bewußtseinswandlung, der Selbstverwirklichung und der Gotteserkenntnis und damit Befreiung vom Leid des materiellen Daseins zu vermitteln. Heinrich Zimmer (1890–1943), einer der größten deutschen Indologen, stellt in diesem Zusammenhang fest: „In der Tat strebt das indische Denken nicht nach Information, sondern nach Transformation.“
KAPITEL 2: WAS IST REINKARNATION? - DIE ÄLTESTEN QUELLEN ÜBER REINKARNATION: DIE VEDISCHE LITERATUR
Eine außergewöhnliche Stellung innerhalb der vedischen Literatur nehmen die zahlreichen philosophischen und historischen Werke ein (Upanishaden, Puranas und Mahabharata), die ausführliche Beschreibungen und Analysen des menschlichen Daseins enthalten, wie sie in der gesamten vergleichbaren Literatur ihresgleichen suchen. Hier sind vor allem auch die Beschreibungen der Reinkarnationsphänomene zu finden.
Das bedeutendste dieser Werke ist sicherlich die Bhagavad-gita (wörtlich: der „Gesang Gottes“), ein philosophisches Gespräch zwischen Krishna und Seinem Freund und Geweihten Arjuna. Die Bhagavad-gita (ein Teil des Mahabharata-Epos) wird in Indien schon seit Jahrtausenden von allen philosophischen Schulen als Buch höchster Weisheit und Wahrheit verehrt.
In ihr werden alle grundlegenden Aspekte des vedischen Gedankenguts beschrieben, und sie enthält auch bemerkenswerte Erklärungen zur Wissenschaft der Seele, des Sterbens und der Seelenwanderung. Bei der vorliegenden Betrachtung werde ich mich daher des öfteren auf dieses Werk beziehen.
KAPITEL 2: WAS IST REINKARNATION?- DIE ÄLTESTEN QUELLEN ÜBER REINKARNATION: DIE VEDISCHE LITERATUR
Bevor ich auf unser eigentliches Thema eingehe, möchte ich versuchen, in aller Kürze einige weitverbreitete Mißverständnisse im Zusammenhang mit der vedischen Literatur zu klären.
1. Unterschied zwischen
vedischer Kultur und „Hinduismus“.
In den westlichen Lehrbüchern über indische Kultur und Philosophie wird in bezug
auf die altindische Religionskultur der Begriff „Hinduismus“ häufig verwendet,
oder es wird gesagt, die vedischen Schriften bildeten einen Teil der
„Hindu-Religion“.
Dies ist jedoch nur bedingt richtig. Zunächst einmal muß festgehalten werden, daß der Ausdruck „Hindu“ oder „Hinduismus“ in der vedischen Literatur gar nicht zu finden ist, denn dieser Begriff wurde erst viel später, zur Zeit der Moguln-Einfälle in Indien (ab 7. Jahrhundert), eingeführt.
Da der erste Eroberungszug der islamischen Moguln nur bis zum Sindh-Fluß (heutiger Indus in Pakistan) kam, wurde das gesamte nicht eroberte Gebiet östlich dieses Flusses pauschal als das Land der „Sindhus“ oder eben „Hindus“ bezeichnet (in ihrer Sprache wird das „s“ als „h“ ausgesprochen).
Mit anderen Worten: Ursprünglich umfaßt die Bezeichnung „Hindu“ sämtliche Formen der Kultur, der Religion, der Philosophie und des praktischen Alltagslebens, die sich damals östlich des Indus vorfanden und nicht islamisch waren. Natürlich waren diese in sich höchst mannigfaltig und unterschiedlich, so daß der Begriff „Hindu“ durch seine undifferenzierte und unkonkrete Natur im Grunde bedeutungslos und hinfällig wird.
Die willkürliche Entstehung von „Hindu“ erklärt auch die oftmals verwirrende Tatsache, daß sich die modernen Indologen und Ethnologen in keiner Weise darüber einig sind, was man genau unter „Hinduismus“ zu verstehen hat. Der Einfachheit halber werde ich diesen Ausdruck in der vorliegenden Arbeit nicht verwenden.
Ich hoffe auch, daß es mir im Verlaufe meiner Ausführungen gelingen wird, gewisse vorgeprägte Auffassungen von dem, was „Hinduismus“ oder indische Philosophie und Religion bedeuten, revidieren zu können, denn das westliche Verständnis der vedischen Kultur beinhaltet leider viele Vorurteile und Fehlauffassungen.
Wie wir jedoch erkennen werden, haben gängige Mißverständnisse wie Fatalismus (Schicksalsgläubigkeit), Polytheismus (Vielgötterglaube), Kastensystem, Weltverneinung und Weltflucht, Selbstbefreiung, „heilige“ Kühe usw. mit dem ursprünglichen Inhalt der vedischen Kultur nicht viel zu tun, sondern müssen im Zusammenhang mit ihrer historischen Entstehung betrachtet werden. Zum Beispiel erklärte Mahatma Gandhi (1869–1948) im Jahre 1962 in „All Religions Are True“:
Ich widerspreche der Behauptung, die Hindus glaubten an viele Götter. Sie sagen zwar, es gebe viele Götter, aber sie erklären auch unmißverständlich, daß es einen Gott gibt, den Gott der Götter. ... Das ganze Unheil ist durch die englische Wiedergabe des Wortes Deva entstanden, für das ihr keine bessere Bezeichnung als „Gott“ gefunden habt. Aber Gott ist œshvara, Devadhideva, Gott der Götter. ...
Ich denke, ich bin durch und durch Hindu, aber ich habe nie an viele Götter geglaubt. Nicht einmal in meiner Kindheit glaubte ich daran, und niemals lehrte mich jemand diesen Glauben. ... In den Veden gibt es viele Götter. Andere Schriften nennen sie Engel. Aber die Veden besingen nur einen Gott.
2. Unterschied zwischen
Dvaita- und Advaita-Philosophie.
Die indische Philosophie weist im wesentlichen zwei grundsätzlich voneinander
verschiedene Hauptrichtungen auf, nämlich:
1.) Dualismus (Dvaita), die ursprüngliche theistische Lehre der vedischen Philosophie – die übrigens der christlichen Tradition erstaunlich nahe verwandt ist, wie wir später noch sehen werden (Kapitel 6: Reinkarnation im Christentum).
2.) Monismus (Advaita), eine neuere Lehre, die auf den einflußreichen Philosophen Shankara (um 800 n.u.Z.) zurückgeht und eine atheistische, unpersönliche Interpretation der vedischen Schriften darstellt.
Ich möchte an dieser Stelle nicht unnötig auf die Einzelheiten dieser Philosophien eingehen, denn dieses Buch beschäftigt sich in erster Linie mit dem Vergleich zwischen den zeitgenössischen europäisch-amerikanischen Reinkarnationsvorstellungen und den Aussagen der vedischen Schriften, insbesondere der Bhagavad-gita, und nicht mit den späteren spekulativen Auslegungen und Veränderungen innerhalb der indischen Tradition.
3. Unterschied zwischen
Dvaita-Philosophie und Buddhismus.
Auch der Lehre Buddhas (560–480), der etwa 2000 Jahre nach der
Zusammenstellung der vedischen Literatur lebte, liegt die Ansicht der
Reinkarnation zugrunde. Diese weicht jedoch dort in vielerlei Hinsicht von der
ursprünglichen vedischen Version ab, da Buddha erklärterweise die Veden
ablehnte.
Der wohl bedeutendste Unterschied zwischen der Reinkarnationsvorstellung des Buddhismus und jener, wie sie sich in den Lehren der Bhagavad-gita und der Puranas findet, besteht darin, daß es gemäß der buddhistischen Auffassung nicht eine individuelle Seele ist, die nach dem Tode fortbesteht und in eine nächste Inkarnation wandert, sondern nur das unpersönliche Karma, das als charakterlos und unbewußt beschrieben wird.
Es handelt sich dort also sozusagen um eine „Seelenwanderung ohne Seele“. Der Vorgang der Wiedergeburt wird durch das folgende Beispiel verdeutlicht:
Die Wiedergeburtsexistenzen sind nicht wie die Perlen eines Perlenhalsbands durch eine Schnur, die „Seele“, verbunden, die sich durch alle Perlen hindurchzieht, sondern sind eher aufeinandergetürmten Würfeln ähnlich: Jeder Würfel ist separat, trägt aber den nächsthöheren und ist mit ihm funktionell verbunden. Zwischen den Würfeln besteht keine Identität, sondern Bedingtheit. (aus: Schumann, „Der historische Buddha“, S. 72)
Wie bei Shankara und seiner Advaita-Lehre möchte ich aus Platzgründen auf eine detaillierte Analyse dieser Unterschiede verzichten.
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