Gedanken über den Sinn des Lebens


Leider und zugleich Gott sei Dank ist das Leben derart vielschichtig, dass seine Probleme nicht allgemein gültig gelöst und seine Schwierigkeiten keineswegs mit schablonenhaften Anleitungen überwunden werden können. Selbst hohe Ideale wie etwa Liebe, Treue und Wahrheit sind insofern lediglich Krücken und Richtungsanzeiger, als es im Einzelfall hin und wieder schwer fällt, diese Tugenden von Schwächen und Begrenztheiten zu unterscheiden.

Das Minderwertige tritt ja nicht selten unter der Maske des scheinbar Wertvollen in Erscheinung, besonders im Rahmen gewisser Morallehren, die sich streckenweise mehr an unerbittlichen Gesetzen als an der Dynamik und am Reichtum des Lebens orientieren.

Die daraus entstehenden Gefühle der Unerfülltheit und Unzufriedenheit führen bei manchem Menschen zu einer eigentlichen Sinnkrise, die nur bewältigt werden kann, wenn er lernt, mit Herz zu handeln und mit gesundem Menschenverstand zu urteilen, indem er vermehrt in sich hineinhorcht und nicht von künstlichen und anerzogenen Maßstäben abhängig bleibt.

Das Hören auf die innere Stimme hat meines Erachtens nichts, wie vielleicht befürchtet wird, mit überheblichem Eigensinn, sondern mit wohlverstandenem Mut und echter Demut zu tun.

Es geht um das Befolgen von Anweisungen, die zwar durchaus von unserer Eigenart mitgeprägt sind, aber letztlich aus einer Tiefe stammen, die jenseits von Gut und Böse liegt und absolute Überzeugungskraft besitzt. Wer es in seinem Leben einmal stark erlebt hat, weiß unmittelbar, was es mit diesem inneren Wort auf sich hat.

Der Gehorsam ihm gegenüber stiftet Sinn und bereitet Genugtuung, selbst wenn sich die Umgebung dagegen auflehnt. Jene, die diese Stimme nicht kennen, regen die folgenden Gedankengänge vielleicht zu Überlegungen an, die das Bewusstsein erweitern und nicht zuletzt das Selbstvertrauen stärken können.  

Unter Lebenssinn wird in der Regel eine werterfüllte und zielgerichtete Daseinsgestaltung verstanden. Je nach Erziehung, Veranlagung und Weltanschauung sind es  aber unterschiedliche Einsichten und Erfahrungen, die zum gewünschten Sinnerlebnis führen.

Es stellt sich daher die Frage, ob es kulturelle Bereiche gibt, die besonders geeignet sind, uns das Gefühl und die Gewissheit einer sinnreichen Lebensverwirklichung zu vermitteln. Eduard Spranger erwähnte in diesem Zusammenhang die Gebiete Theorie, Ökonomie, Ästhetik, Macht, soziale Hingabe und Religion. Jeder Mensch orientiere sich, wenn überhaupt, individuell an diesen sechs Wertrichtungen.

Einfacher und verständlicher drückt sich Karlfried Graf Dürckheim aus, wenn er den wesentlichen Lebenssinn darin sieht, in etwa so zu werden, wie man von der Schöpfung her gemeint sei. Es geht um das Finden der persönlichen Identität in der Auseinandersetzung mit Gott, der Umwelt und sich selbst.

Als Kontrollmöglichkeit, ob man sich da auf dem richtigen Weg befindet oder nicht, bezeichnet Karlfried Graf Dürckheim das Gewissen. Er unterscheidet drei Arten von Gewissen: das erste, kindliche Gewissen komme aus Angst vor Strafe. Dieses Gewissen habe mehr Gewicht, als man gemeinhin ahne. Das zweite Gewissen werde erfahren als Stimme des Ganzen, dem man angehöre.

Die in der Verbundenheit mit einem Menschen, einer Sache, einer Idee, einem Werk vorhandene Verpflichtung erscheine im „Biss des Gewissens“, sobald man nicht automatisch in ihrem Sinn handle, ihr gegenüber versage oder untreu werde. Das dritte Gewissen aber sei das absolute Gewissen.

Es werde dort erlebt, wo eine höhere Instanz einen zwinge, etwas zu tun, das das erste Gewissen hinter sich lasse, aber auch das zweite Gewissen ausschalte, indem es gegebenenfalls eine Untreue, einen Verrat, einen Skandal verlange. Im Gehorsam gegenüber dem absoluten Gewissen gehe es nicht um den alten Konflikt zwischen Neigung und Pflicht, sondern um eine durch eine „Neigung unseres tiefsten Wesens“ begründete Pflicht gegen Neigung und Pflicht in und gegenüber der Welt. Ich versuche den Sachverhalt mit ein paar praktischen Beispielen zu illustrieren:  

Nehmen wir an, der einzige Sohn eines Geschäftsmannes sei bildungs- und erziehungsmäßig darauf vorbereitet worden, die Firma seines Vaters zu übernehmen. Der junge Mann hat sich so lange mit diesem Plan identifiziert, bis er eines Tages scheinbar plötzlich mit der Überzeugung erwacht, dass das nicht sein Weg sei.

Handelt es sich da um einen Fall von Trotz oder Undankbarkeit und Selbstverkennung? Das kann durchaus möglich sein. Doch ebenso sehr müssen wir damit rechnen, dass sich dieser Sohn tatsächlich nicht als Unternehmer eignet und ihn nun das absolute Gewissen entsprechend auffordert, vom Vorhaben abzusehen.

Ein weiteres Beispiel: Nach relativ kurzer Zugehörigkeit zu einem Verein mit wertvollen Zielsetzungen erklärt jemand, wie das immer wieder vorkommt, den Austritt. Ist das nun unter allen Umständen ein Mensch, der nicht erfasst hat, um was es geht, und der allgemein Mühe hat, sich anzupassen und einzuordnen?

Nun, oft mag es sich so verhalten. Es ist aber auch denkbar, dass diese Person aus einer inneren Notwendigkeit heraus ein anderes soziales Umfeld benötigt, einen anderen Pfad beschreiten muss, um weiterzukommen und mit sich selbst in Übereinstimmung zu bleiben. Ich sage „muss“, weil hier der Entschluss, die Gemeinschaft zu verlassen, aus dem Herzen kommt.

Wie ich anlässlich einer Vortragsreihe über das Herzdenken erwähnte, schrieb seinerzeit ein Weiser der östlichen Christenheit, dass das Herz im geistigen Sinne nicht nur die Mitte des Bewusstseins, sondern auch des Unbewussten, nicht nur der Seele, sondern auch des Körpers - andere Philosophen halten hier den Bauchraum für die Mitte! - nicht nur des Verstehbaren, sondern auch des Unverstehbaren sei: es sei die absolute Mitte unseres Wesens wie auch der Ort der Begegnung zwischen Gott und Mensch.

Das absolute Gewissen, tief verstanden und interpretiert, darf daher mit einiger Sicherheit als die Stimme Gottes in unseren Herzen gelten. Freilich gibt es viele Menschen, die das nicht zu glauben vermögen, weil sie außerstande sind, diese Stimme zu vernehmen.

Entweder halten sie das Phänomen für ein gefährliches, wenn auch wohlgemeintes Phantasieprodukt, oder es wird ausschließlich das Gesetz mosaischer Prägung akzeptiert oder im Gegenteil orientierungslos gehandelt.

Noch ein drittes und ziemlich delikates Beispiel: Gehen wir von der Annahme aus, eine verheiratete Frau habe einen Freund und in dieser Beziehung spiele sogar eine erotische Komponente eine Rolle. Sie weiß um ihre Untreue, leidet vom zweiten Gewissen her darunter und ist außerdem vielen Kritiken seitens der Umwelt ausgesetzt.

Eventuell lässt sich der legitime Gatte von ihr scheiden. Vielleicht völlig zu Recht, aber möglicherweise auch nicht, denn es gibt zweifellos Motivationen, die wenig mit Leidenschaft und Oberflächlichkeit, sondern mit einer bestimmten und schwierigen und anspruchsvollen Aufgabe zu tun haben, die jemand für einen Mitmenschen, wiewohl manchmal nur vorübergehend, aus höheren Gründen zu erfüllen hat.

Der Auftrag kommt bei solchen Gelegenheiten aus dem Herzen und führt zur Bereitschaft, die Nachteile und negativen Konsequenzen, die daraus entstehen, tapfer zu ertragen.  

Die Moral dieser Geschichten? Ich würde sagen: Wenn zwei dasselbe tun, ist es keineswegs ausnahmslos dasselbe. Während es sich beim einen um ein ethisches Versagen, um eine moralische Fehlleistung handelt, verwirklicht der andere mühsam einen Teil seines Lebenssinnes, indem er der inneren Stimme, die ihn auffordert, das zu tun, was wesensgemäß und Gebot der Stunde ist, willig folgt, und das trotz Ablehnung und Widerwärtigkeiten von Seiten der Gesellschaft.

So betrachtet kann etwas nach konventionellen Maßstäben moralisch Schlechtes gut und etwas anerkannt Gutes letztlich schlecht oder zumindest unecht sein. Ein Grund mehr, in unseren Urteilen immer wieder besonnene Vorsicht walten zu lassen. 

Nochmals: Ein vermutlich umfassender Aspekt des Lebenssinnes ist, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten die Person zu realisieren, die wir, philosophisch kühn ausgedrückt, aus der Sicht Gottes werden sollten.

Besonders Menschen, die keine oder im Gegensatz dazu erstarrte und unlebendige Leitbilder besitzen, können das kaum nachvollziehen. Wer aber das absolute Gewissen einmal überwältigend erfahren hat, dem wird sofort klar, was hier zur Diskussion steht. Diese ebenso mutige wie möglichst vernünftige und situationsgerechte Sinnverwirklichung verleiht Frieden mit dem, der uns auf die Reise geschickt hat, und damit auch Frieden mit uns selbst.  

„Ruhe und Frieden“, schreibt Jolande Jacobi, eine Schülerin von Carl Gustav Jung, „gibt es nur in der Mitte, wo der Mensch ganz Mensch sein kann, weder Teufel noch Engel, sondern einfach Mensch, der an beiden Welten teilhat. Die Suche nach dieser Mitte, nach diesem Gleichgewicht der Seele, stellt ein lebenslanges Bemühen dar.

Denn diese „Mitte“ ist - wie wir bereits gehört haben - auch jener Ort, wo das Göttliche in die Seele „hineinragt“ und sich im Selbst manifestiert. Das hier gemeinte „Gleichgewicht“ hat jedoch nichts mit dem zu tun, was die Menschen im üblichen Sinn als „Glück“ bezeichnen, nichts mit jenem Zustand der Sorglosigkeit, des Freiseins von Leid und Anstrengung, der den meisten als höchstes Sehnsuchtsziel vorschwebt.

Viel eher ist damit ein Zustand gemeint, in dem beide Welten, die helle und die dunkle, die gute und böse, die leidvolle und die freudvolle, in selbstverständlicher Hinnahme vereinigt sind und dem wahren Wesen des Menschen, d.h. seiner eingeborenen Doppelnatur, entsprechen.

In diesem Sinne führt auch der Prozess der Selbstwerdung zu einer höchstmöglichen Ausreifung und Vollständigkeit der seelischen Persönlichkeit und somit zum Bereitwerden für das Ende des irdischen Lebens.

Gemeint ist also weder das willentliche Tun noch das bewusste Leugnen des Bösen, sondern das  Bekennen, dass kein Menschenleben ihm gänzlich auszuweichen vermag. Der Mensch bemüht sich krampfhaft, nur die guten, die erlaubten Gedanken und Gefühle im Bewusstsein zu halten.

Dasselbe gilt für zahllose Triebe und Eigenschaften, die zu unserer „nicht-engelsgleichen“ Seite gehören und die wir nicht einmal uns selber, geschweige denn einem anderen zugeben wollen. Daher auch die starren Fassaden, die panikartige Angst und oft aggressive Verteidigung, sobald eine leise Kritik diese Engelhaftigkeit in Frage stellt.

Zu wissen, dass stets Böses auch in uns selber haust, dieses Wissen tragen zu lernen, anstatt es auf die anderen abzuschieben, d.h. die „Schuld“ für alles immer beim Mitmenschen zu suchen, ist eines der vordringlichsten Postulate der Reifung.

Je mehr von den ursprünglich unbewussten Persönlichkeitskomponenten, auch der „bösesten“, dem Bewusstsein angegliedert und vom Menschen im Auge behalten werden können, desto eher lässt sich Böses vermeiden.

Dies jedoch auch nur in der bescheidenen Erkenntnis, dass Böses wie Gutes zur menschlichen Existenz gehören und dass das Böse auch zu jener beata culpa - selige Schuld - zu werden vermag, aus deren Finsternis das Licht geboren wird.

Daher kann alles Verdrängte, Minderwertige, Unmoralische, ja Kranke, so Gott will, den  Mutterboden zu einer Erneuerung, zu einer Wiedergeburt auf „höherer“ Stufe bilden. Im Negativen und Bösen können Keime der Wandlung zum Positiven, zum Guten verborgen sein, sie können zum Ausgangspunkt einer Umkehr und Läuterung werden.

Nicht umsonst hat der englische Maler William Blake den teuflischen Luzifer als strahlend schönen Engel dargestellt, denn sein Name heißt ja „Lichtbringer“. Die „Vollständigkeit“ und „Ganzheit“ der menschlichen Persönlichkeit darf nicht mit einer moralisch-religiösen „Vollkommenheit“ verwechselt werden.

Erstere ist ein psychologisches Ziel, das eine Ausgewogenheit und Gesundheit der Seele, Weisheit und Toleranz herbeiführen soll und damit einen inneren Frieden.

Sie ist auf das irdische Leben ausgerichtet, hier erfahrbar und mehr oder minder erreichbar. Dagegen stellt letztere, nämlich die „Vollkommenheit“, das ideelle Ziel der christlichen Konfessionen dar, gemäss dem alles irdische Leben als Durchgang zum Jenseits auf diese höchste Tugend hintendieren muss, weshalb auch ihre letzte Verwirklichung jenseits aller psychologischen Bemühungen im Rahmen der religiösen, der Glaubenstatsachen liegt.

Jedes psychologische Anliegen, auch dasjenige von Jung, wird daher vom Kirchlich-Theologischen her gesehen als unbefriedigend betrachtet werden, denn nach Christus „sind etliche verschnitten, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen“.

Das hieße, mit den Worten der Psychologie ausgedrückt: Solche, die ihre Ganzheit und  Vollständigkeit zugunsten einer erstrebten und erhofften Vollkommenheit geopfert haben. Das Ziel des Lebens wäre demnach - theologisch formuliert - der Himmel,  Gott, und nicht die „Vollständigkeit“ bzw. „Ganzheit“ der Persönlichkeit.

Und doch, vom psychologischen Standpunkt aus müsste man erwidern: Richtig gedeutet und gelebt, dürften die beiden Gesichtspunkte und Ziele einander keineswegs ausschließen, sondern sich eher ergänzen.

Vielleicht darf man zur Erhärtung dieser Behauptung ebenfalls die Bibel heranziehen. Denn in ihr heisst es: Euer Vater im Himmel lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist. Christus postuliert also eine „Vollkommenheit“, die - Gott gleichend - alle Gegensätzlichkeiten des Seins umfasst.

Von welcher Seite her man sich ihnen auch immer annähert, ob vom Religiösen oder vom Psychologischen her, wäre somit das Ergebnis gleichsam dasselbe: innerer Friede.“  

Das Finden des mit diesem Frieden verbundenen Lebenssinnes setzt also ein Suchen nach unserer relativ harmonischen  Mitte voraus. Das hat selbstverständlich weder mit Mittelmäßigkeit noch mit Leidfreiheit und Mühelosigkeit zu tun.

Gemeint ist ja das beständige Ringen um jene gesunde, weil ebenso wesensentsprechende wie allseitig angemessen  offene Lebensform, die ihre Kraft aus dem Zentrum unserer Individualität schöpft, - also aus jenem heilen, erlösenden und schöpferischen Herzensbereich, wo unsere begrenzte und zwiespältige Persönlichkeit verhältnismäßig geeint an das Unendliche, Allumfassende und Überraumzeitliche zu rühren scheint.

Nach meinem Empfinden hat Eugen Drewermann den Weg zur eigenen Mitte und damit zur sinnvollen Lebensführung am schönsten, am anschaulichsten und am eindrücklichsten beschrieben. Ich zitiere aus seinem Buch über das Markusevangelium: 

„Es ist das Wichtigste, was wir im Leben lernen können: das eigene Wesen zu finden und ihm treu zu bleiben. Allein darauf kommt es an, nur auf diese Weise dienen wir Gott ganz: dass wir begreifen, wer wir selber sind, und den Mut gewinnen, uns selber zu leben.

Denn es gibt Melodien, es gibt Worte, es gibt Bilder, es gibt Gesänge, die nur in uns, in unserer Seele schlummern, es bildet die zentrale Aufgabe unseres Lebens, sie auszusagen und auszusingen. Einzig zu diesem Zweck sind wir gemacht; und keine Aufgabe ist wichtiger, als herauszufinden, welch ein Reichtum in uns liegt.

Erst dann wird unser Herz ganz, erst dann wird unsere Seele weit, erst dann wird unser Denken stark. Und erst mit allen Kräften, die in uns angelegt sind, dienen und preisen wir unseren Schöpfer, wie er es verdient.“
G.J.


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