Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap LXXVIII. Metapsychologie der mystischen Neurose.         (S. 787)

Die Tatsache nun, daß sich in Frauen, Kindern und Primitiven auch ein engeres Verhältnis zur Neurose begründet, als in andern natürlichen Gruppen, mag uns hier zu einem weitem Schritte rückgreifender Deutung anregen, der so naheliegt, daß der Leser ihn in Gedanken schon vorweggenommen haben dürfte.

Aus der natürlichen Verbindung zwischen ech. ter Jenseitigkeit und unterbewußtem Habitus ergibt sich ohne weiteres auch die Natürlichkeit spaltungsneurotischer Bildungen in mystischen Naturen.

Ist doch die Schizophrenie gewissermaßen die äußerste, ins Kraut geschossene Form jenes Habitus; und gerade je mehr wir den Gegensatz von mystischem Komplex und 'natürlichem Menschen' metaphysisch vertiefen, desto begreiflicher wird, bei vorhandener Anlage, [5] die Erzeugung hysterischer Symptome auf Grund von Gesetzen, wie sie auch dem durch Verdrängung entstandenen Komplexe dienstbar

        [5] Vgl. o.S. 265ff.


Kap LXXVIII. Metapsychologie der mystischen Neurose.         (S. 788)

sind. Schon der einfachste Automatismus führt ja, wie wir wissen, meist Anästhesien der benützten (und insofern abgespaltenen) Körperteile mit sich, dazu häufig Gliederschmerzen, Kopfweh und Schwindel; und das Auftreten ekstasegeborener Teilpersönlichkeiten gibt, wie wir früher sahen, zu Krampfzufällen Gelegenheit, - alles Symptome auch der Hysterie.

Wir wissen auch, daß Medien zwar zuweilen als 'gesund', häufig aber als hysterisch imponieren; und der Grund ist offenbar ein verwandter; [1] nur daß bei ihnen die wesentliche und gewohnheitsmäßige Berührung mit dem Metapsychischen klarer erweisbar ist, als im Falle des automatistischen Heiligen.

Wie aber die gewohnheitsmäßige metapsychische Einwirkung Medien 'hysterisch' macht, so werden bezeichnenderweise auch bei klinischen Hysterischen in gewissen Arten von Anfällen ziemlich häufig metapsychische Leistungen, besonders hellseherische, beobachtet, [2] und würden wohl noch öfter beobachtet werden, wenn die Aufmerksamkeit unsrer Nervenärzte in diesen Fragen willig und geschult wäre.

Das hellseherische Können ist dann gelegentlich jener 'zweiten' Persönlichkeit vorbehalten, die wie ein ruhiger Untergrund unter der stürmischen Oberfläche der kranken Seele ruht [3] und schon in diesem Betracht an den überlegenen metapsychischen Unterbau erinnert, den wir unter jedem Einzelnen, ob leidend oder gesund, voraussetzen.

Im Falle der Medien wie der Heiligen ist jedenfalls der Mehrbesitz im Vergleich zum Durchschnitt der Menschen ein außerordentlicher. Beide, mit einer Hälfte ihres Wesens einer Welt angehörend, die dem Durchschnitt verschlossen ist, erscheinen uns insofern als 'Genies', denen eine gewisse Krankhaftigkeit dann wie etwas Natürliches anhaftet;

sofern das Geniale eine überlegene Wirklichkeitserfassung bedeutet, deren voller Auswirkung nur eben das menschliche Gefäß nicht immer standhält. Im Genie ist, nach den Worten eines ärztlichen Beurteilers, 'die Kraft zu gewaltig für das Organ', [4] und wir entsinnen uns aus dem Früheren, daß ebenfalls ärztliche Beobachtung sich gezwungen sah, die hysterische Spaltung zuweilen aus einer 'psychischen Überleistung' abzuleiten. [5]

Diese Überleistung aber scheint mir im Falle gewisser Jenseitiger eben auf den überwältigenden Antrieb metapsychischer Wirklichkeiten zurückzugehen. Dieser Antrieb aus dem Innersten ist es, was häufig schon die überraschend frühe Introversion des Mystischjenseitigen [6] begründet, späterhin aber jene gewaltsamere' Ansaugung', [7] die sein Seelenleben spaltet und der Neurose überliefert, wobei - ich wiederhole früher Gesagtes - die nun-

[1] Vgl. den gedanken- und beobachtungsreichen Vortrag von Mrs. Finch in Light 1907  247 (auch PS XXXIV 588 ff.).
[2] Vgl. zB. die flüchtige Andeutung betr. Hellsehen bei Janets Extatique: PS 1902 68f.
[3] Vgl. o.S. 165 (A. Winsor).
[4] Dr. C. Pelman, Psychische Grenzzustände (1881) 36.
[5] Breuer u. Freud, Stud. üb. Hysterie 205. Ich bitte o.S. 268 nachzulesen.
[6] Vgl. o.S.265.
[7] o.S. 267. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen bei Dr. G. Geley, L'être subconscient, 2. Aufl. (Par. 1905) 112 f.


 Kap LXXVIII. Metapsychologie der mystischen Neurose.         (S. 789)

mehr in äußerste Gegensätzlichkeit gedrängten Instinkte offenbar eine sekundäre Rolle in der Begründung neurotischer Symptome spielen.

Von der neurotischen Introversion gilt also schließlich, was von unterbewußten Zuständen, von automatistischen und halluzinatorischen Einstellungen, von 'vertieften' Ichphasen im allgemeinen gilt: sie kommt der Berührung des Einzelnen durch die übersinnliche Welt entgegen (ohne daß sie solche Berührung bewiese), und anderseits entsteht sie unter dem Einfluß einer solchen Berührung, oder ihrer Anbahnung.

Der Hysterische an sich ist kein Heiliger; und der Heilige braucht kein Hysterischer zu sein; aber die Annäherung an die Welt des Heiligen begünstigt, zumal bei 'Veranlagten', die Entstehung von Hysterie, wie umgekehrt bestehende Hysterie vom 'vertieften' Typ eine Annäherung an die Welt des Heiligen begünstigen mag.

Denn ist auch neurotische Introversion vergleichsweise seicht gegenüber mystischer Introversion, so sind doch beide in bestimmtem Sinne Stufen und Abarten eines psychologischen Vorgangs. - Mit diesen Gedanken sind wir endgültig über den Geltungsbereich der psychanalytischen Begriffe hinausgelangt.

Die Psychanalyse enthält unstreitig ein genügend bedeutendes und wertvolles Stück Tiefenpsychologie, um ihre faszinierende Wirkung auf so viele Geister begreiflich erscheinen zu lassen. Aber sie läßt, wie die geltende Psychologie überhaupt, die eine Hälfte der geistigen Tatsachen außer Betracht, - Tatsachen, die uns völlig neue Einsichten in den letzten Ursprung gewisser Arten neurotischer Verdrängung und Spaltung gewähren.

Und mit geringen Änderungen werden sich diese Gedanken auf die wesentlich psychologisch zu deutenden 'Geisteskrankheiten' übertragen lassen. Unbestreitbares Irresein liefert keinen bündigen Beweis gegen irgendwelche mystische Bedeutsamkeit des Erlebens.

Der Anhauch des Göttlichen zertrümmert oft den minder festgefügten Geist; ist doch der völlig festgefügte jenem Anhauch häufig überhaupt kaum zugänglich; die Lockerung des Ich aber, die er voraussetzt, geht allzu leicht in Formen über, die nach Maßstäben irdischer Tauglichkeit als krank zu bezeichnen sind.

Aber selbstverständlich wäre die mystische Bedeutsamkeit in Hysterie oder Paranoia von Fall zu Fall zu prüfen, indem die äußerliche Übereinstimmung bedeutsamer und ganz bedeutungsloser Vorgänge jedenfalls eine völlige sein mag.

Gleichwohl bleibt die Möglichkeit bestehen, eine unterbrechungslos in sich geschlossene Reihe von Bildern aufzustellen, die mit dem wirren Getriebensein durch erd- und leibgeborene Gewalten in den Randgebieten der Seele begänne und mit dem friedevollen Ruhen auf dem führenden und tragenden Strom der göttlichen Tiefe endete.

Um aber auch die andere Hauptform der hagiologischen Neurose, die Psychasthenie, wenigstens flüchtig in diesem Zusammenhang zu berühren, erinnere ich zunächst an das, was über ihre natürlichen Beziehungen zur


Kap LXXVIII. Metapsychologie der mystischen Neurose.         (S. 790)

Hysterie gesagt wurde, [1] um eine künftige metapsychische und metaphysiologische Vertiefung der Theorie auch in ihrem Falle möglich erscheinen zu lassen. Die Psychasthenie ist im wesentlichen das Leiden der ungenügenden 'Nervenkraft', der herabgesetzten psychischen Spannung gegenüber den Aufgaben des leiblichen Wachlebens.

Bedenken wir nun, daß ein großer Teil der asketischen wie der ekstatischen Übung in einer Abtragung eben der gespannten Wachsynthese besteht, so erhellt die Begünstigun.g, die eine bestehende psychasthenische Verfassung unter Umständen auch echtem, mystischem Leben gewähren mag.

Diese Verfassung bietet überdies in besonderem Maße die Möglichkeit starker Schwankungen der Synthese: des Wechsels von Krampf und Erschlaffung; [2] und auch von diesem besondern Dynamismus kann man offenbar annehmen, daß er entweder (als Anlage) einer Einwirkung aus der metapsychischen Tiefe entgegenkomme, oder (als erworbener) die Folge einer solchen Einwirkung darstelle.

Denn der Eingriff aus der überpersönlichen Geistwelt her ist begreiflicherweise oft ein außerordentliches, von Stürmen des Gefühls begleitetes Erlebnis, dessen Wellenschlag weder rasch verebben, noch ohne Spuren bleiben kann.

Die nächste Folge erwecklicher Erlebnisse ist jedenfalls sehr häufig ein ausgesprochen maniakalischer Zustand - und zwar auch bei ursprünglich 'gesunden' Personen - , eine Übererregung, die zu außerordentlichen Leistungen ohne Ermüdung befähigt. [3]

Es soll gewiß nicht außerachtgelassen werden, daß profan-maniakalische Zustände sich religiös verkleiden können; [4] oder daß die reichliche Verwendung bloß 'automatischer Zentren' im religiösen Leben bei dieser Unermüdbarkeit eine Rolle spielen mag;

obschon dies sicher noch keine Erklärung ist, wenn die Leistung eine ausgesprochen persönliche und synthetische ist; wie zB. Mme. Guyon ihren vielbändigen Bibelkommentar halbautomatisch und ohne Beschwerde in den Nächten weniger Wochen schrieb, während sie nur 1-2 Stunden schlief und ihre Tage in ununterbrochener Unterhaltung verbrachte. [5]

Jedenfalls werden wir die Möglichkeit im Auge behalten müssen, daß eine Erhöhung der nervösen Spannung metapsychisch angeregt werde: - wennschon nicht durch Zuleitung 'metätherischer Energie', [6] sondern durch Erschließung physiologischer Vorräte.

Denn auch der Ekstase höchster Artung wird ja von den Mystikern häufig eine belebende und stärkende Wirkung von zuweilen beträchtlicher Dauer zugeschrieben, [7] und wir sollten uns in unserer biologischen Unwissenheit hüten, auf solche Vorgänge allzu eilfertig das dynamische Schemas einer bloßen und ursprünglichen Psychasthenie anzuwenden, während wir ihm wohl die Einsicht entnehmen dürfen, daß die Höchsterregungen des

[1]  o.S. 142f.
[
2] Vgl. das o.S. 152-157 über ekstat. Erhebungen u. émotions sublimes Gesagte.
[3] Vgl. zB. J. Livingstone bei Gibson 4f. 99; Phillips 232. 356; Davenport 187; Calmei! II 290.
[4] S. o.S. 121.
[5] Delacroix 157.
[6] Ein Begriffsvorschlag Myers' (I 217f.).
[7] Vgl. o.S. 154.
[8] Vgl. o.S. 138f. 153.


Kap LXXVIII. Metapsychologie der mystischen Neurose.         (S. 791)

mystischen Lebens häufig nur um den Preis einer tiefen Erschöpfung oder einer Zerstörung des nervösen Gleichgewichts zu haben sein mögen. -

Erscheint somit jede Art von Neurose durchaus natürlich im Rahmen metapsychischer Jenseitigkeit, so dürfen wir sie doch, wie angedeutet, nicht für eine unvermeidliche Beigabe mystischen Lebens halten.

Nicht nur an lebhaft Frommen, auch an mystisch Erlebenden im engeren Sinne wird völlige Gesundheit Leibes und Geistes oft genug beobachtet. [1] Es ist eben darum wahrscheinlich, daß bei der Erkrankung Mystischer eine zufällige Anlage zur Neurose oder die Schädigungen der oft geradezu unsinnigen asketischen Selbstbehandlung wesentlich mitwirken. [2]

Wobei daran zu erinnern ist, daß der modernen Pathologie der Begriff einer durch Erschöpfung erzeugten Hysterie nicht unbekannt ist, wenn auch die Rolle der' Anlage' dabei eine natürlich schwer durchschaubare sein mag. [3]

Unter diesem Gesichtspunkt muß es auffallen, daß die orientalische Mystik im gleichen Maße weniger neurotische Züge an ihren Jüngern erkennen läßt, wie sie eine sehr viel gründlicher durchgearbeitete Theorie der Askese aufweist, mit dem ausgesprochenen Zweck, 'die Gefahren der Hysterie bei denen zu vermeiden, die mit den höheren Ebenen [geistigen Lebens] in Berührung kommen'. [4]

Diese Theorie ist fraglos in sehr Vielem phantastisch und wissenschaftlich wertlos; aber die uralte praktische Erfahrung, die sie ausdrückt, dürfte um so bedeutsamer sein. (Ich erinnere bloß an die verbreitete indische Übung, den Eintritt ins mystische Leben erst in vorgerückten Jahren und nach Erfüllung der Pflicht zur Fortpflanzung zu vollziehen.)

Es wäre immerhin denkbar, daß die Anregung zum ekstatisch-mystischen Leben, die das orientalische Christentum unter die westeuropäischen Völker warf, zu rasche Früchte getragen habe, als daß umfassende Erfahrung auch hier eine prophylaktische Überlieferung hätte aufkommen lassen können.

[1] s. zB. Mrs. Oliphant, Laurence Oliphant 269; Evans, Shakers 121 (A. Lee).
[2] Ursprüngl. Gesundheit wird zB selbst von den beiden Katharinen behauptet! üb. Franz v. Assisi vgl. in diesem Zusammenhang Dr. Charbonnier, Maladies et facultés diverses des mystiques [Bruxelles 1874] 65ff. 252.
[3] S. zB. Sollier I 514ff.; Binswanger 19; Féré 158f.; Richer 310.
[4] So A. Besant, Theosophy and the new psychol. 46 (bei im übrigen dilettant. Einzeldeutung). Über Gesundheitsfestigung durch Yoga s. Keller, aaO. 16; Paul, aaO. 32. 35; Ramakrishna 45; Oman, aaO. 19 (nach Dr. Bhattarcharji); Mahanirvanatantram, ed. N. Dutt (Calcutta 1899) S. XIII. Ein Beispiel eines anscheinend kerngesunden indischen Mystikers von hohen Graden: F. Max Müller, Sri Agamya Guru Paramahamsa (Lond. 1901) II 414; Sri Brahma Dhilra, Shower from the highest (Lond. 1905) S. IV. V.

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