Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap LXXVI. Metapsychologie der mystischen Seelenspaltung.     (S.775)

Die Tatsache nun, daß Teil-Iche wie die des Black oder der Miss B. sich dem Charakter nach voneinander unterscheiden, hat uns schon auf einer früheren Stufe unsrer Untersuchung ein bescheidenes Licht für das Verständnis religiöser Vorgänge geliefert; [3] hier mag sie uns, entsprechend den inzwischen gemachten Fortschritten, zu einer wesentlich wichtigeren Einsicht anregen, welche die Anwendung des soeben Besprochenen auf die Metapsychologie des Erweckten darstellen wird.

Teilpersönlichkeiten - fanden wir - offenbaren zuweilen soz. den spiritistischen Status; sie nehmen insofern eine Mittelstellung ein zwischen gehirnumschlossenem Ich und Überich.

Nun ist - nach einer Hypothese, die ich durch immer neue Anwendungen glaubhaft zu machen suche - die psychologische Annäherung des Einzelnen an das Überich charakterologisch nicht gleichgültig; vielmehr vermuten wir im Überich Quelle und Anstoß zur überhaupt tiefstgehenden Charakterwandlung: zur Erweckung.

Aus der Nebeneinanderstellung dieser bei den Sätze ergibt sich uns folgerichtig die Annahme, daß aus dem Überich die Anregung zur Bildung charakterologisch bedeutsamer Teilpersönlichkeiten zu erwarten sei.

Hier nun steigt sogleich die Erinnerung an eine Lehre auf, welche vor Zeiten allen denen geläufig war, die sich der Erforschung von Ichphasen und Teilpersönlichkeiten mit mindestens offenem Auge auch für jenseitige Bezüge widmeten: ich meine die Lehre der alten Somnambulenforscher von der religiös-'moralischen' Erhöhung des Ich in 'zweiten' Zuständen. Wie nahe diese Tatsache, falls sie feststände, unsern augenblicklichen

        [3] S. o. S. 63 ff.


Kap LXXVI. Metapsychologie der mystischen Seelenspaltung.     (S.776)

Zusammenhang angehen würde, brauche ich kaum zu sagen. Wir sind nunmehr bereits vertraut mit dem Gedanken, daß gewisse wachferne Ichphasen dem Überich näher stehen, als das festgefügte Wach-Ich. Ihre enge Verwandtschaft mit Zuständen der Exkursion, ihre Begünstigung übernormaler Erkenntnisakte allein schon beweisen dies.

Zwischen einem durch Abkehr von der Sinnenwelt erzielten 'zweiten' Zustande und einem solchen von der Überwelt her angeregten dürfte ein wesentlicher Unterschied aber schwer zu .finden sein. Die Überwelt wirkt immerzu in uns, und in geringerer oder größerer Tiefe sind wir alle Glieder von ihr. Jene Abkehr von der Sinnenwelt würde also nur aufdecken, was in einiger Tiefe in uns angeregt war, in noch größerer stets vorhanden ist.

Was nun die fragliche Lehre selbst betrifft, so ließe sich zugunsten der behaupteten Tatsache zunächst ja schon daran erinnern, daß bekanntlich die großen ekstatischen, somnambulen und automatistischen Bewegungen aller Zeiten überwiegend religiös-moralischen Charakter getragen haben, während wir kaum von Massenerscheinungen somnambul-automatischen Charakters hören, in denen politische oder ästhetische oder banal-praktische. oder sonst welche andere Vorstellungen den wesentlichen Inhalt gebildet hätten.

Die vielleicht am weitesten ausgreifende dieser ekstatisch-automatistischen Bewegungen ist noch heute allenthalben im Gange: ich meine die 'spiritistische', die ja doch ihrer Mindestdeutung nach in einem massenhaften Auftreten spontaner und künstlicher Somnambulismen und automatischer Schrift und Rede besteht.

So mannigfaltig nach Form und Inhalt die Erzeugnisse dieser Umwelt aber auch sein mögen, die 'im großen und ganzen' religiöse und moralisierende Bestimmtheit spiritistischer Transreden und -schriften ist jedenfalls unverkennbar. [1]

Konnte doch ein so gründlicher Kenner wie Frederic Myers das Urteil fällen, daß 'der fast durchgehends hochstehende moralische Ton echter automatischer Äußerung - ob nun angeblich von Geistern, oder augenscheinlich vom Automatisten selber stammend - weder genügend beachtet, noch ausreichend erklärt worden sei'. [2] -

Und nicht nur für ihren Lehrinhalt gilt dies, sondern auch ihre Wirkung auf den Automatisten selbst bewegt sich meist in der gleichen Richtung.

'Ich wich den Lebenden aus', sagt zB. Le Baron von der Zeit nach dem Eintritt seiner Automatismen, 'um im Dunkel des Waldes oder auf den Gipfeln der Hügel mit den Geistern zu reden, das Haupt den Himmeln entblößend;...

ich wurde asketisch gesinnt und. .. im höchsten Grade empfindlich in Fragen meiner eigenen geistlichen und moralischen Unwürdigkeit...' Diese Stimmung war offenbar eine unmittelbare Folge des Automatismus, der auf äußerste Selbsthingabe und -aufopferung drang. [3]

[1] Vgl. zB. die Fälle W. St. Moses (Pr XI 110); 'Le Baron' (Pr XII 277ff.); Knorr-Schmidt (PS XXXIII 655ff.); Miss A- (Pr IX 73ff.).
[2] Myers II 133. Ebenso Dr. Hodgson Pr XIII 369.
[3] Pr XII 285; vgl. 288 und Mrs. Verralls Schrift XXI 200 Mitte.


Kap LXXVI. Metapsychologie der mystischen Seelenspaltung.     (S.777)

Es ist aber ferner bemerkenswert, wie oft uns ausdrücklich versichert wird, daß solche moralisch-religiöse Triebkräfte des Automatismus dem wachen Ich des Betreffenden durchaus ferngelegen hätten, [1] wodurch die Tatsache sich erst völlig unserem augenblicklichen Zusammenhang einordnet, welcher ja nicht Häufigkeit somnambuler oder automatischer Leistungen bei Religiösen, [2] sondern Religiosität der somnambul-automatischen Phase bei Profanen belegen will.

Wird sich vom naturalistischen Standpunkt aus der Zweifel erheben, die von Anfang an beliebte Deutung 'spiritistischer' Vorgänge durch Teilnahme von 'Geistern' habe erst assoziativ das Vorstellungsganze der Religion und der ethischen Eschatologie heraufbeschworen und damit den ferneren Inhalt 'der Bewegung suggestiv beeinflußt?

Der Einwand würde den Tatsachen gegen- über nicht standhalten. Doch mögen wir ihm ausweichen, indem wir unser Problem vom Gebiete geschichtlich schwerfaßlicher Gesamtbewegungen auf das der persönlichen Einzelbeobachtung hinüberspielen, wo ja jene fragliche Lehre der alten Somnambulenforscher recht eigentlich ihre Blüte gehabt hat.

So sagt noch Perty, ein verhältnismäßig besonnener Kenner des literarischen Niederschlags jener Zeit, daß 'ein tiefer religiöser Zug durch diese höheren Zustände' der Somnambulen gehe, so daß unmoralische Menschen ihnen darin widerwärtig seien.

Selbst unsittliche Personen erhöben sich zu sittlichem Empfinden und Gehaben, solange sie sich im magnetischen Schlafe befinden.[3] -

Kluge faßte die Meinung der älteren Magnetiseure dahin zusammen, daß in den tiefsten 'magnetischen' Zuständen der Kranke 'zu größeren und edleren Gefühlen gesteigert sei; höchste Unschuld und Reinheit... geben ihm das Ansehen eines Verklärten';' [4]

und selbst noch ein Beobachter unserer Tage von so reicher Erfahrung wie Bramweil glaubte sagen zu dürfen: irgendwelche Veränderungen in der sittlichen Gesinnung, die er bemerkt habe, seien ausnahmelos zugunsten des hypnotisierten Subjekts (verglichen mit seinem Wachzustande) gewesen. [5] -

Auch die Somnambulen der älteren Zeit selbst behaupteten oft, daß in ihren 'höchsten' Zuständen ihr religiöses Gefühl lebhafter, ihr Glaube fester, ihre Liebe zu Gott und Menschen heftiger, kurz ihre moralische Natur erhöht sei. [6]

Allerdings erheben sich gegen diese Urteile, vollends in ihrer verallgemeinerten Form, Bedenken, die sich zuweilen bis zur Behauptung des geraden Gegenteils verdichten: also der moralischen Unterwertigkeit der 'unterbewußten' Zustände, meist als Parallel erscheinung ihrer intellektuellen Minderwertigkeit.

[1] zB. in den eben zit. Fällen der Fr. Knorr-Schmidt und Miss A --
[2] Wie o. Kap. VII u. VIII.
[3] Perty, M. E. I 251. Ebenso Dupotet in JM XI 443.
[4] Kluge 112f.; vgl. 240ft.; A. Wienholt, D. Heilkraft des thier. Magnetismus (1802-5) III, 3 S. 259. 261ft. 272ff. 305ff.; Cahagnet, Heil. 369; Reichenbach I 387f.; Braid, bei Bramwell 292.
[5] Bramweil I. Aufl. 327; vgl. Perty, Spir. 15.
[6] S. zB. Perty, M. E. I 290 (üb. Heinekens Somn.); ATM 1,2 42; Deleuze, Hist. crit. du magnétisme animal ll 173; Bramwell 323 (nach Dr. Allden); Vogt in ZH IV 40. - Ähnl. bei Narkotisch-Hypnoiden: Ludlow 96. 98. 140. 175; Cahagnet, Heil. 133. 140.


Kap LXXVI. Metapsychologie der mystischen Seelenspaltung.     (S.778)

So bezeichnet Dr. Sidis das, was er subwaking seil nennt, nicht nur als bestenfalls rein reproduktiv, unpersönlich, dumm, völlig kritiklos und leichtgläubig, sondern auch als feige, unterwürfig, gesetzlos, roh und unmoralisch; [1]

und Prof. G. T. W. Patrick, in Übereinstimmung mit Urteilen Podmores, betont neben den 'primitiven' Zügen 'zweiter' Persönlichkeiten - dem Vorherrschen in ihnen von Gedächtnis und Einbildungskraft, im Gegensatz zu klarer Vernunft - auch den im allgemeinen niedrigen moralischen Ton ihrer Äußerungen (zB. im pseudo-spiritistischen Trans), ihre Gemeinheit und Unehrerbietigkeit, - lauter Züge, die an den geistigen Charakter des Wilden, des Kindes und wohl auch des Weibes erinnern ' sollen. [2]

Am schärfsten hat sich dieser Zwiespalt der Meinungen zugespitzt in der viel erörterten Frage der Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) spontan erfolgender oder suggerierter unmoralischer Handlungen - zB. Verbrechen - im somnambulen oder posthypnotischen Zustande.

Das einschlägige Schrifttum enthält eine große Zahl vielangeführter Paradefälle von Verbrechen, die von anscheinend 'moralisch' lebenden Personen während spontanen Nachtwandelns versucht oder ausgeführt wurden.

Der Ruhm des Mönches, der sich im Schlafe mit einem Dolch an das Bett seines geistlichen Oberen schlich und die Kissen durchlöcherte, [3] ist schon beinahe mythisch; und ähnliche nachtwandlerische Angriffe von Schülern auf ihre Lehrer, Ehemännern auf ihre Frauen usw. werden von Bernheim, Charpignon u. a. berichtet. [4]

Weit zahlreicher noch sind Angaben über Verbrechen, die im künstlichen Somnambulismus der Hypnose oder im posthypnotischen Zustand auf Suggestionen hin von Personen ausgeführt wurden, deren wahrer Natur derartige Handlungen angeblich völlig fern lagen. [5]

Aber hier, wo die Frage des moralischen Unterbewußtseins am schärfsten verneinend entschieden scheint, beginnt sich auch das Blatt zu wenden. Nicht nur besteht nämlich unter Fachleuten keine Übereinstimmung darüber, wieweit auf den Erfolg 'verbrecherischer' Suggestionen zu rechnen sei, - indem Einige angeben, gar keinen oder fast keinen erzielt zu haben, [6] - sondern auch die Deutung der wirklich ausgeführten suggerierten Untaten ist eine strittige, wie schon die langwierige Erörterung dieser ja auch praktisch wichtigen Frage erkennen läßt.

In den Augen der Einen [7] ist allerdings das hypnotische Subjekt ein willenloses Werkzeug der Eingebungen des Versuchsleiters, und würde darum auch vor Verbrechen nicht zurückschrecken, die nicht, wie die experimentellen Vergiftungen mit Zucker oder Erdolchungen mit Messern von Pappe, von vornherein

[1] Sidis, Suggestion 245f. 293ff.
[2] PR V (1898) 559. 577f.; vgl. Podmore, Spir.II 136f.
[3] Boismont 232.
[4] Vogt in ZH IV 40f.; ÜW XIII 114f. u. a. Somn. Selbstmordversuche: Hack Tuke 18f.
[5] S. zB. Bemheim 149; Liégeois, Rapp. sur les sugg. crim., ref. in JPN XVII 338.
[6] S. zB. Bramweil 318-30; Rieger u. Virchow. Der Hypnotismus 23f.; Gerrish in JPN XVII 262.
[7] zB. Liébeault.


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Kap LXXVI. Metapsychologie der mystischen Seelenspaltung.     (S.779)

auf einen harmlosen Verlauf angelegt sind. Nach dem Urteil Anderer [1] geht das Subjekt, wenn es nicht sogleich mit entschiedener, oft entrüsteter Weigerung der Suggestion sich verschließt, nur zum Schein auf diese ein und ist sich während der Ausführung der Harmlosigkeit seines Tuns durchaus bewußt.

Hier scheint wirklich ein Widerspruch zwischen gültigen Beobachtungen vorzuliegen, so daß wir also eine Mannigfaltigkeit der Tatsachen anzuerkennen und ihre scheinbare Zwiespältigkeit durch vermittelnde Gedanken auszugleichen hätten.

Es läßt sich zB. annehmen - und ist auch behauptet worden -, daß die verbrecherische Suggestion geheimen und unterdrückten Neigungen einzelner Subjekte, etwa gar zu einer bestimmten Handlung, entspreche und sich dadurch ihrer Ausführung empfehle; [2]

daß der Widerstand aber wachse, je mehr diese suggerierte Handlung dem Charakter des Subjekts widerspreche; [3] daß Eingebungen, die den innersten Beweggründen eines Menschen wirklich zuwiderlaufen, von ihm auch in der Hypnose entweder gar nicht, oder nur mit äußerstem Widerstreben ausgeführt werden;

oder daß gewisse Subjekte unter der' Einwirkung der Suggestion ihr Gewissen einschläfern durch beschönigende Gründe, welche die Tat empfehlen und als hinzutretende Selbstsuggestionen wirken. [4] Immerhin scheint die Tatsache, daß im somnambulen Zustande moralisch-verwerfliche Handlungen überhaupt begangen werden, der allgemeinen Lehre der alten Somnambulenforscher zu widersprechen.

Die naive Gleichsetzung von Somnambulismus und 'moralischem Zustand des Menschen' scheint damit jedenfal1s widerlegt, und es könnte dann naheliegen zu vermuten, daß Personen, die im somnambulen Zustande sich besonders 'moralisch' zeigen, diese Eigentümlichkeit überhupt in sich tragen und in jenem Zustande nur offener an den Tag legen; oder aber in jenen für Suggestionen besonders empfänglichen Zuständen ein getreues Abbild ihrer Umwelt zeigen, die ja häufig eine moral- und religion durchtränkte ist.

Allen diesen Einwänden gegenüber nun haben die alten Verehrer somnambuler Moralität ein Auskunftsmittel in Bereitschaft, das gerade in unserem Zusammenhang nachdenklich stimmen muß. Nicht vom 'somnambulen' oder jedem beliebigen 'zweiten' Bewußtseinszustand schlechthin nämlich behaupten sie moralische Erhöhung, sondern, wie schon oben mehrfach angedeutet, von gewissen 'tiefsten' Zuständen des Somnambulismus, vor al1em dem damals sog. 'Hochschlaf'. [5]

'Wir müssen behaupten', schrieb zB. Charpignon bereits im Jahre 1848, [6] daß der wirklich Ekstatische immer von möglichst vollkommener Liebe und Moralität beseelt ist, ob er nun im gewöhnlichen Leben so ist oder nicht; denn im

[1] Gilles de la Tourette, Delboeuf u. a.
[2] Delboeuf. Forel u. a.
[3] S. Moll 152.
[4] Bernheim. L'hypnotisme et la sugg. ... (Par. 1897) ch. II.
[5] Doppel- oder Wonneschlaf: Werner 346; Perty, M. E. I 290 (nach Heineken).
[6] Physiol.. méd. et metaphys. du magnétisme 102.


Kap LXXVI. Metapsychologie der mystischen Seelenspaltung.     (S.780)

letzteren Falle verwandeln sich, sobald die Ekstase eine vollkommene ist, seine Gefühle ganz und gar, und seine wache Denkungsart verkehrt sich in ihr Gegenteil. Im Somnambulismus dagegen [d. h. offenbar im weniger tiefen) behält das Subjekt zumeist seine gewöhnlichen Neigungen bei, und nur in diesem Zustande hat man eine Beeinflußbarkeit zum Schlechten beobachten können.'

Auch A. J. Davis, der immerhin Erfahrungen besaß, verfocht die moralische Erhöhung anscheinend nur bezüglich der 'höchsten' Zustände des hellsichtigen [1] Somnambulismus, denen er 'ein selbstloses Gefühl für die Menschheit, Wahrheit und Förderung edler Grundsätze' zuschrieb, während alle 'kleinlichen und gemeinen Neigungen nicht nur untergeordnet wären, sondern aufhörten zu bestehen'; und dies habe er an sich selbst erfahren, obgleich er auf fremde Anregung hin versucht habe, selbstsüchtige Gefühle in jenen höchsten Zustand hinüberzunehmen.

'Ich war ein verändertes Wesen,' alles Selbstische war 'vernichtet'. [2]

Nun bestehen ja auch für den modernen Psychologen .bedeutende Unterschiede zwischen Schlafzustand und Schlafzustand, vor allem in bezug auf den Grad und die Ausdehnung der 'Dissoziation'. Er kennt einen Zustand des verworrenen Träumens, in welchem tatsächlich der individuelle Charakter aufgehoben oder verkehrt erscheinen kann.

Von alters her ist denn auch behauptet worden, daß der banale Schlaftraum unmoralischer sei, als das Wachen. [3] Anderseits lehrt die Beobachtung 'zweite' Zustände kennen, in denen nicht nur Charakter und Persönlichkeit erhalten sind, sondern auch Sinnesfähigkeiten und Geisteskräfte sich gesteigert zeigen; [4] ganz abgesehen von übernormalen Fähigkeiten.

Und gerade die Berichte über jene Trans- oder automatischen Äußerungen, in denen sich eine religiös und moralisch erhöhte Persönlichkeit aussprechen soll, heben auffallend häufig einen gleichzeitigen intellektuellen Zuwachs hervor.

Erwägen wir also die offenbar sehr verschiedene Wertigkeit unterbewußter Zustände - wofür dies Buch ja schon zahlreiche Belege verschiedener Art geliefert hat -, so mag die Behauptung der alten Somnambulenforscher von der ethisch-religiösen Überlegenheit gewisser besonders 'tiefer' Zustände durchaus glaubhaft und jedenfalls durch die 'Unmoralität' gewisser Träume oder hypnotischer Handlungen keineswegs widerlegt erscheinen.

Auch trifft sie ja zusammen mit der Erfahrung der religiösen Mystik aller Zeiten und Länder, nach welcher mit dem fortschreitenden Abstieg in die eigene Tiefe eine ebenso fortschreitende Hinbewegung auf das eigentliche Erlebnis der 'Heiligkeit', auf die Gottheit zu verbunden ist.

Beobachtungen sowohl, als auch unser gesamter Gedankengang führen uns also in natürlichem Fortschritt zu der Annahme, daß von jener überpersönlichen Tiefe her charakterologisch besondere, abweichende Teilpersönlichkeiten den Anstoß zur Entstehung empfangen können.

[1] lucid.
[2] A. J. Davis bei Harrison 213f.
[3] Antike Belege bei Prel, Ph. d. M. 97.
[4] S. zB. Flourmoy, Des Indes 18. 162f.; Dupott in JM XVIII 377ff. Despine 95; PS XXIII 527. Vgl. o. S. 77f. 103f.


Kap LXXVI. Metapsychologie der mystischen Seelenspaltung.     (S.781)

Diese Einsicht läßt sich auch noch anders ableiten: Die seelische Tiefe ist der psychologische Ort der Ekstase, und ekstatische Erlebnisse im Rahmen wahrer Jenseitigkeit erscheinen uns jetzt nachgerade als etwas Selbstverständliches. [1]

Die Ekstase aber erfaßten wir schon auf einer frühen Stufe der Untersuchung [2] als Homologon des Automatismus, und die am reichsten entwickelte Form des Automatismus ist die 'zweite' Persönlichkeit. Die Gegend, in welche die Ekstase das Ich entführt, ist also notwendigerweise auch die Quellgegend eines zweiten Ich.

Hiermit aber ist weit mehr abgeleitet, als auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Überlegungen, die es natürlich erscheinen lassen, in dem Überich die Quellgegend von zweiten Persönlichkeiten und dementsprechend von Automatismen zu suchen, übertragen sich ohne weiteres auf die Beobachtungen von 'Führung' im mystischen Leben

(sei es in anonymer, sei es in Form eines personifizierten 'Führers' oder Gottgeliebten); auf jenen Tatsachenkomplex umfassendster Führung, den wir als 'Vergottung' kennenlernten, [3] sowie auf die Deutung jener tiefgelegenen Region des Friedens inmitten der Stürme mystischer Dürre, welche so oft die Einleitung zur Vergottung bilden. [4]

Es geht uns also hier, wie ich hoffe, das volle Verständnis auf für die Natürlichkeit des unterbewußten Habitus überhaupt innerhalb des mystischen Lebens. Diese Natürlichkeit entspricht, vom Standpunkt unsrer Grundhypothese aus, durchaus der Natürlichkeit automatischer Äußerung des übernormal-Erfahrenen von 'nachprüfbarem' Inhalt.

In bei den Fällen schreibt sich der unterbewußt-automatische Charakter der Einfügung in das persönliche Tagesleben daher, daß die letzte Quelle der Inspiration nach 'Tiefe' und Überlegenheit von diesem Wachleben beträchtlich abliegt, also zunächst zu ZwischenbiIdungen drängt, die dem Wachbewußtsein mehr oder minder selbständig gegenüberstehen und mit ihren Äußerungen in dieses gleichsam einbrechen.

Doppelt natürlich aber muß es uns danach erscheinen, daß der Automatismus der Äußerung übernormalen Erkennens der  'nachprüfbaren' Art sich zuweilen geradezu von religiösem Gefühl umwittert zeigt.

So schreibt Mrs. Henry-Anderson, deren metapsychische Leistungen früher erwähnt wurden, daß wenn der weiße Nebel vor ihr aufsteigt, auf welchem ihre Wahrgesichte ihr erscheinen, sie sich 'eines seltsamen und schwer beschreibbaren Gefühls bewußt' sei.

'Worte, Gedanken und ihr Ausdruck kommen mir mit einer Leichtigkeit, die mich kaum im Zweifel darüber läßt, daß zeitweilig eine größere Kraft, als meine eigene, meine Lippen und mein Hirn benutzt. Der erste Ausdruck dieser Gedanken hat mich zuweilen erschreckt (denn ich höre meine eigene Stimme

[1] Vgl. auch Andeutungen von Exkursion während panoramatischer Lebensschau mit erwecklichem Charakter: zB. PS XXVII 454f.
[2] o. S. 99f.
[3] o. S. 38ff. 112ff.
[4] o. S .163f.


Kap LXXVI. Metapsychologie der mystischen Seelenspaltung.     (S.782)

als eine Unbeteiligte...). Ein außerordentliches Gefühl von Kraft und Wissen - ich möchte sagen: auch Vorauswissen - ist damit verbunden. Und ich weiß, während ich rede, daß eine der großen Kräfte des Weltalls [aus dem tiefem Geheimnis des Lebens her] mich vorübergehend überschattet... Ich bin lediglich ein Werkzeug.' [1]

        [1] OR 1905 I 69.

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