Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 468)

In keinem Abschnitte dieses Buches habe ich die oben begründete Notwendigkeit der Beschränkung in Auswahl und Darbietung des Stoffes so bitter empfunden wie in den letzten, entscheidenden Kapiteln, und damit die Notwendigkeit des Verzichts auf die Kraft der Überzeugung, die auch von der Häufung der Anschauung ausgeht: der Anschauung des Immer-wieder und Immer-gleich zu allen Zeiten und an allen Orten.

Im Besitze wesentlich reichlicherer eigener Anschauung fällt es mir denn auch schwer, zu beurteilen, welchen Grad von Überzeugtheit das Dargebotene beim


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 469)

Durchschnitt meiner Leser bewirkt haben mag und inwieweit sie mir zu folgen bereit sind, wenn ich nunmehr die Absicht bekunde, die Vorschau 'zufälliger', d.h. durch keine endliche Steigerung normaler 'Voraussicht' und Vorausberechnung zu erschließender Ereignisse als eine wirkliche Tatsache in meine Überlegungen einzustellen.

Wer sich gänzlich außerstande fühlt, diese Annahme mit mir auch nur zu 'riskieren', für den kann alles noch folgende nur sehr eingeschränktes Interesse haben.

Das lange Verweilen indessen bei der Frage dieser Tatsächlichkeit wird den Leser nicht haben vergessen lassen, daß ihre Behandlung für uns einen Teil unsrer Bemühungen um eine Theorie des Hellsehens bildet.

Die Möglichkeit der Vorschau sollte beweisen, daß die 'Lockerheit' des Hellsehens in zeitlicher Hinsicht sich auf die Zukunft ebensosehr beziehe wie auf die Vergangenheit; beides aber sollte beweisen helfen, daß der Hellseher überhaupt nicht die Wirklichkeit sehe, sondern nur subjektive Symbole wirklicher Dinge und Geschehnisse.

Selbst für das Sehen gleichzeitiger Wirklichkeit ließ sich erweisen, daß es seiner psychologischen Artung nach ein 'Vorstellen' oder Halluzinieren sei, von 'telepathisch' gewonnenen Inhalten verstand sich das ohnehin von selbst.

Bilden so die gewöhnlich unterschiedenen Arten übernormalen Erfahrens ihrem äußeren Auftreten nach eine einheitliche Gruppe, so liegt ein Hinweis auf ihre einheitliche innere Artung darin, daß sie nicht nur häufig zusammen auftreten (indem eine bestimmte Einstellung des Bewußtseins der Reihe nach bald diese, bald jene auftreten läßt),

sondern auch ineinander übergehen, in dem Sinne, daß in einem einheitlichen, aber nicht einfachen Erlebnis 'telepathische', 'hellsehende' und 'vorschauende' Elemente sich unterscheiden lassen, ohne daß der Anteil des einen sich gegen den des andern überhaupt eindeutig abgrenzen ließe.

Ich erinnere z.B. daran, in wie zahlreichen Fällen aktives Hellsehen durch telepathische Beeindruckung ausgelöst erscheint, indem der Perzipient des angeblich rein telepathischen Vorgangs in der Umgebung des Agenten anwesend zu sein glaubt und Dinge wahrnimmt, von denen nicht anzunehmen ist,

daß er sie der telepathischen Mitteilung verdankt; und doch läßt das häufige Zusammentreffen solchen Hellsehens mit einem krisenhaften Erlebnis des anscheinenden Agenten keinen Zweifel darüber, daß der erste Anstoß - die 'Einladung' - zum Hellsehen von diesem 'Agenten' ausgeht. [1] –

Auch zwischen unserer zweiten und dritten Tatsachenreihe - Hellsehen einerseits, Rück- und Vorschau anderseits - haben wir fließende Übergänge und Ineinanderverwebung mehrfach beobachten können, nämlich in jenen Fällen, in denen das rück- oder vorschauende Wissen sich in Bildern darstellte, die mit einer dem Perzipienten normalerweise unbekannten Wirklichkeit übereinstimmten. [2]

Ebenso aber glauben wir gelegentlich ein

[1] Vgl. hierzu den Fall Pr VIII 505 und o. S. 355. 387 f.
[2] Vgl. o. die Fälle auf S. 424. 444f. 461. Weitere Beispiele von Ineinander von 'Hellsehen' und Vorschau siehe ÜW X 322. (Frau G. Lukaschik); du Prel, Entd. II 182; Pr XI 390f.; PS XXI 504.


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 470)

Ineinander von 'Telepathie' und Vorschau zu finden, ohne daß wiederum der Anteil der einen gegen den der andern sich eindeutig abgrenzen ließe.

Der Lehrer Karl Mittelmayer in Wallerdorf träumte z. B., der Kooperator T. im nahen Künzing, der erst seit kurzem dort lebte und noch nie mit M. einen Ausflug gemacht hatte, lasse ihn durch einen die Frühmesse besuchenden Bauern aus Wallerdorf zu 1 Uhr zu einem Ausfluge nach Forsthart abholen:

sie gehen durch die Dorfstraße, sehen bekannte pflügende Bauern und treffen in Forsthart eine Gesellschaft von Geistlichen und Lehrern. An einem Nachbartisch sitzt ein sozialistisch gesinnter Gütler, der mit offenbarer Absicht eine Ausgabe der 'Münchener Post' hervorholt. - Dies alles ging genau so in Erfüllung.

Den Gütler ersuchte ein Herr um die Zeitung, und eine verlesene Stelle aus dem Zeitungsroman 'brachte die anwesenden Geistlichen in große Erregung’. Die Frau des M. bezeugt die Erzählung des Traumes vor seiner Erfüllung. [1] -

Es liegt hier offenbar nahe, den ersten Anstoß dieses Vorschautraumes in einer telepathischen Beeinflussung zu suchen, die der bereits gehegten Absicht des Kooperators zu dem gemeinsamen Ausfluge entsprang.

Diese innere Vermischung der einzelnen Arten übernormalen Erfahrens, die ja auch in der etwas schwimmenden volkstümlichen und wissenschaftlichen Terminologie zum Ausdruck kommt, [2] schafft, wie gesagt, ein Vorurteil zugunsten ihrer einheitlichen inneren Artung, das eine Theorie derselben, wäre sie möglich, vielleicht rechtfertigen könnte.

Als die beste Art aber, zu einer solchen zu gelangen, erscheint es mir, diese vermutete Einheitlichkeit der übernormalen Erkenntnisvorgänge versuchsweise ('heuristisch') gelten zu lassen: die Grundgedanken zur Deutung einer Gruppe müßten sich dann auch für die Deutung der übrigen nützlich erweisen oder bei selbständiger Deutung dieser letzteren in ihr eine erwünschte Bestätigung finden.

Soll aber zu diesem Behufe einer der Gruppen der Vortritt in der Deutung gegeben werden, so dürfte das offenbar nur diejenige sein, die unserm Denken als die schwerst begreifliche erscheint, ohne deren theoretische Bewältigung also die Hoffnung auf einheitliche Deutung des ganzen Gebietes gerade um ihre schönste und wichtigste Erfüllung betrogen wäre.

Gelänge die Deutung dieser Gruppe nur in sich selbst, so wäre immerhin schon ein Wichtigstes geleistet, übertrüge sich ihre Deutung auch auf die anderen Gruppen, so wäre außerdem noch die weitergehende Hoffnung erfüllt. Schieben wir also unsere Theorie des Hellsehens hinaus, indem wir, eben zu ihren Gunsten, mit der theoretischen Erwägung der Vorschau beginnen.

Hierbei zwingt mich die Forderung logischer Vollständigkeit, wenigstens in aller Kürze auf eine denkbare Wegdeutung des ganzen

[1] Brief an Dr. Bormann vom 27. Okt. 1899. in ÜW X 289. Vgl. auch Pr VIII 101-103.
[2] Richet z.B. empfahl früher 'telepathische Clairvoyance' für das 'Lesen' von vergessenen Erinnerungen Entfernter, spricht jetzt fast unterschiedslos von 'Kryptästhesie'.


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Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 471)

Tatsachengebietes hinzudeuten. Diese ähnelt jenem Gedanken, welcher einzelne Gruppen von Vorahnungen dadurch zu beseitigen suchte, daß er Ereignis und Ahnung aus einer Quelle entspringen ließ: indem der Wille zu einer bevorstehenden Tat sich telepathisch dem Seher kundtun und ihn so zu der scheinbaren Vorahnung befähigen sollte.

In ähnlicher Weise könnte nämlich auch dem gesamten Tatsachengebiet gegenüber die Annahme versucht werden, daß alle Prophezeiungen bloß Kundgebungen einer Macht seien, die sowohl entschlossen als auch imstande wäre, alles das zu vollbringen, was jemals Gegenstand einer eingetroffenen Vorschau gewesen ist.

Eine solche Macht müßte z.B. imstande sein, Naturereignisse größten Stils herbeizuführen, die mit Gewißheit vorausgesagt wurden, sie müßte die Herzen der Menschen lenken und ihnen Worte und Handlungen eingeben können, um Auftritte so zu gestalten, wie sie in prophetischen Gesichten geschaut wurden; sie müßte im bestimmten Augenblick den Kessel einer Maschine zum Bersten bringen, die Bahn des Blitzes oder einer Granate lenken, zu festgesetzten Zeiten die Säfte menschlicher Leiber verderben, und was dergI. mehr ist.

Und sie könnte, wenn alles dies in ihrer Macht stände, nach Belieben den Propheten spielen oder vielmehr Menschen den Propheten spielen lassen, indem sie ihnen Bilder, Erwartungen, Befürchtungen inspirierte, die sie im Laufe der Zeit zu verwirklichen gedächte.

Bei alledem brauchte eine solche Macht durchaus noch nicht von einem phantastischen Willen zum Verblüffen beseelt zu sein, sie könnte mit der ganzen Würde der göttlichen Vorsehung, der moralischen Weltregierung, der väterlichen Lebensführung bekleidet sein. Leitet Gott oder ein zwischen Gott und Welt eingeschaltetes Geisterreich in persönlich tätiger, willkürlicher Weise die Ereignisse der Natur und des Lebens, so kann der Mensch diese Ereignisse voraussehen, sobald sein Wissen von jenen beabsichtigenden Mächten erleuchtet wird. [1]

Dabei müßten diese Vollstrecker vorgeschauter Ereignisse aber mindestens imstande sein, ein Ereignis auf einen bestimmten Tag festzusetzen und durch ein Wunder in den natürlichen Verlauf der Ereignisse einzuschalten.

Dies letztere ist offenbar eine notwendige Voraussetzung: denn wiche der Wille jener Geistwesen, vor allem Gottes, nie und nirgends vom 'natürlichen Lauf der Ereignisse' ab, gingen Gottes 'Absichten' ausnahmelos parallel zu diesem 'naturnotwendigen' Laufe, so wäre auch sein Beabsichtigen im Grunde nur ein Vorhersehen und wir fielen auf die Annahme eines allwissenden Voraussehens alles Geschehens, also der noch erst zu deutenden Prophetie zurück. [2]

Nun mag auch eine solche Theorie nichts Undenkbares enthalten. Ich

[1] Gedanken dieser Art s. z.B. bei Jung, Theorie 142f. (§ 141); Sir O. Lodge, La survivance humaine (Par. 1912; das engl. Orig. ist mir nicht zugänglich) 128.
[2] Dies scheint mir Dr. Ermacora in einer sonst scharfsinnigen Abhandlung in PS XXVI zu übersehen; s. bes. aaO. 671.


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 472)

glaube aber nicht, daß sie sich wissenschaftlichem Denken empfehlen wird. Und zwar nicht, weil sie Annahmen machte, die nicht in sichern Erfahrungsanalogien ihre Stütze fänden, sondern weil das wundermäßige Erzeugen einer Übereinstimmung von persönlicher Vorschau und Weltlauf eben doch in vielen Fällen ein geradezu spielerisches Kunststück darstellen würde, dazu nicht selten von so bittern Folgen für die zunächst Beteiligten, daß die Theorie mit Notwendigkeit zur Annahme eines satanischen Reiches gedrängt wäre.

Wir müßten der verborgenen persönlichen Macht die bewußte Absicht zuschreiben, an einem bestimmten Tage einen Knaben unter einen Wagen zu schleudern, ein Schiff auf einen Felsen abzulenken, eine Kerze umzustoßen, um ein Haus in Brand zu stecken, und was dergI. mehr von früher gegebenen Beispielen gefordert wird.

Erkennen wir an, daß solche Voraussetzungen, die mit dem strengen Begriff der Vorschau allerdings gründlich aufräumen würden, sich nie widerlegen lassen, so ist es doch ebenso sicher, daß es sich auf vielen Gebieten nicht um Gewißheiten, sondern um Wahrscheinlichkeiten handelt und daß gegen die Wahrscheinlichkeit von Annahmen, wie der eben angedeuteten, unsere wissenschaftlichen Instinkte sich auflehnen.

Die unbefangene Betrachtung der Tatsachen hinterläßt weit eher den Eindruck, daß hier ein Ausblick getan werde auf ganz bestimmte Momente im Fluß der Ereignisse, die, wenn sie eintreten, durchaus 'natürlich' eintreten. Es ist die Möglichkeit dieses Ausblicks, die nach wie vor unser Problem bildet. [1]

Und hier ist es zunächst noch eine andere der bei der gruppenweisen Betrachtung der Vorahnungen versuchten Alternativdeutungen, die zu analogischer Übertragung auf das Gesamtgebiet des Vorauswissens reizt. Ich meine jene, welche die Voransage im Einzelnen aus einem Induktionsschluß hervorgehen ließ, der sich auf bereits gegebene und übernormal erkannte Tatsachen gründen sollte.

Diese Deutung (fanden wir) versagt gegenüber 'zufälligen' Ereignissen der Zukunft, weil deren Erschließung nachgerade Allwissenheit und ein unendliches Vermögen induktiver Berechnung erfordern, damit aber alle 'menschlichen' Maße auch unbewußten Denklebens augenscheinlich weit überschreiten würde.

Indessen: setzen wir ein unendliches Bewußtsein, ein unendliches Durchschauen der Welt und einen unendlichen Verstand voraus, so dürfen wir diesen wohl eine natürliche Erschließung und somit Voraussicht auch des 'zufälligen' Geschehens zuschreiben, d.h. eines Geschehens, dessen Ursachen sich ins Unendliche verzweigen.

Die Zukunft ist eben schon gegeben, 'in Form der Kräfte und Gesetze, welche sie herbeiführen werden', [2] und 'derjenige,

[1] Ich übergehe tautologische 'Deutungen', wie Schlenters 'Fernsinn' (Das zweite Gesicht (Lpz. 1893) 27), Sebregondis 'die Schranken der Zeit überschreitendes Gemeingefühl' (bei Zurbonsen 96), oder die ganz gedankenlose Subsummierung unter 'Kryptästhesie' bei Richet 304.
[2] du PreI, Entd, II 357.


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 473)

der alles sieht in dem, was ist, sieht alles, was sein wird'. [1] Dieses' Alles' sieht freilich nur ein Allwissender, von dessen 'göttlichem Allwissen' aber das menschliche Vorauswissen ein 'Abglanz' sein könnte. [2]

Ich habe, wie der Leser noch sehen wird, keinen Einwand gegen diese Theorie, soweit sie einen Rückgriff auf ein allumfassendes kosmisches oder göttliches Bewußtsein enthält; es ist offenbar kein Zufall, daß uns die Tatsachen nunmehr immer wieder in diese Gebiete emporführen.

Dagegen kann ich mich wenig mit dem Gedanken an ein rechnendes, 'induzierendes' Allbewußtsein befreunden, das z.B. das Stürzen eines Wagens an einem bestimmten Stein oder das Zünden einer ungesehen glimmenden Kohle zu bestimmter Zeit aus den unendlich zahlreichen Tatsachenreihen erschließt, welche von allen Richtungen her zusammenlaufen müssen, um das Ereignis gerade so und zu solcher Zeit zuwege zu bringen; - was sonst aber sollte mit dem Hinweis auf die 'notwendige Verkettung' [3] von Gegenwart und Zukunft angedeutet sein?

Der Grund dieser meiner Abneigung ist derselbe, der mich schon die endliche, menschliche Induktion als Alternativdeutung bezweifeln ließ: daß nämlich die Vorschau ein mehr unmittelbares Ergreifen des Künftigen im Bilde zu zeigen scheint, dagegen fast nie ein Wissen jener Tatsachen, aus denen das Ereignis hätte 'erschlossen' werden können.

Gerade das Zufälligste und Nebensächlichste, das gleichgültige Drum und Dran wird dem Seher oft mit peinlicher Genauigkeit gezeigt, während das eigentlich Ursächliche, alles, was 'erklären' könnte, was also ein berechnender Verstand vor allem im Sinn haben müßte, ihm verborgen bleibt.

Dr. Wiltse z.B. sieht in einer Reihe von Bildern ein Unglück, das sich nach einiger Zeit zutragen soll; er kennt oder erkennt dabei weder die Umgebung, noch die Handelnden, noch den Sinn dessen, was vorgeht. Diese gänzliche Verständnislosigkeit hindert ihn aber nicht, einen blutigen Handabdruck 'vorauszusehen', den ein schwerverletzt aus einem Hause Taumelnder am Türpfosten zurücklassen wird. [4]

Es ist wahr, daß diese Bildhaftigkeit nicht immer gegeben ist, daß zuweilen z.B. nur eine unbestimmte Furcht oder ein soz. abstraktes Wissen ein kommendes Unglück vorherverkündet, so daß es wohl denkbar scheinen könnte, daß diese inhaltarme Ankündigung die menschlich bewußte Übersetzung des rechnenden, schließenden höheren Wissens wäre. Allein auch hier ist es unzweifelhaft möglich, der unbestimmten Ahnung ein

[1] Leibniz, zit. das. Ähnlich die indische Sâmkhya-Philosophie; s.R. Garbe, Die Sâmkhya-Philos. (LpZ.1894) 187.
[2] S. Zurbonsen 117f. Z.s sonstige Bemerkungen über 'tief in den Kreis des allgem. Natur- und Menschheitslebens versinken' sind augenscheinlich halb zu Ende gedacht. Auch H. B. Schindler (Das magische Geistesleben... (Breslau 1857) 139ff.) verknüpft den obigen klaren Begriff mit Halbdurchdachtem über den 'magischen Pol' der Seele, durch den der Mensch zum 'Inbegriff des ganzen telluren und kosmischen Lebens' und Spiegel 'aller kosmischen Zeiten, Zahlen und Maße' werde.
[3] Schindler, das.
[4] Pr XI 573ff Vgl. oben die Fälle S. 434. 444. 445. 446f. 448f. 451f. 461. 466.


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Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 474)

außerbewußt gegebenes Bild zugrundeliegend zu denken; und jedenfalls sind ja die geschauten Bilder der künftigen Wirklichkeit der deutlichere Fall, der vor allem erklärt werden muß. Die einzige noch übrige Ausflucht, daß eben die Bilder das Einzige seien, was der unendliche rechnende Geist ins menschliche Einzelbewußtsein fallen lasse (nachdem er auch sie gewissermaßen 'errechnet' hat), - diese Ausflucht mag nicht streng widerlegbar sein, wirkt aber auch nicht eigentlich überzeugend.

Denn letzten Endes entscheidet die Tatsache, daß ein deutlicher 'Abglanz' jenes vorausgesetzten Errechnens der Zukunft sich eigentlich nie in menschliches Erleben hinein verirrt.

Immerhin verdient ausdrücklich herausgehoben zu werden, daß, wer die Theorie der unendlichen Vorausberechnung des Zukünftigen dennoch glaubt vertreten zu müssen, dies nur vermag um den Preis der Annahme, daß der endliche Geist eingebettet oder angeschlossen sei einem unendlich an Inhalt und Fähigkeit Überlegenen, an dessen Wissen er unter bestimmten Umständen teilnehmen könne.

Will man dann diesen überlegenen Geist als einen verborgenen Teil oder 'Pol' des Einzelmenschen fassen, so vervielfältigt und verwickelt man, wie mir scheint, die Hilfsbegriffe ohne genügenden Zwang. Die Leistung von Millionen soz. Allwissender könnte mühelos auch einem übertragen werden, nachdem uns das Teilhaben eines Geistes am Vorstellungsbesitz eines andern nun doch schon etwas Banales geworden ist. -

Jenes mehr unmittelbare und eben darum bildhafte, ereignismäßige Erfassen des Zukünftigen suchen nun andere Theorien zu erklären, indem sie der ursprünglich erkennenden Instanz ein von Grund aus anderes Verhältnis zum zeitlichen Ablauf der Ereignisse zuschreiben, als dem menschlichen Bewußtsein.

In ihrer gewöhnlichen Form versetzt diese Lehre den überlegen vorschauenden Geist überhaupt außerhalb der Zeit: zeitlicher Ablauf sei ein Merkmal der endlichen und täuschenden Erfahrung des Menschen, ein Bestandteil des 'Scheines'; in der 'wahren' Welt der Dinge und Geister 'an sich' sei Zeit nicht gegeben.

Sei diese Welt-an-sich bewußt oder geistig, so doch nicht zeitlich-bewußt, und somit vollkommen unvorstellbar für uns, die wir Bewußtsein nur als zeitlichen Ablauf von erlebten Inhalten vorstellen können.

Immerhin müßten wir jenem Wissen an sich eine Mannigfaltigkeit zuschreiben, die mit der Mannigfaltigkeit des menschlichen Zeitinhalts in einem soz. funktionalen Verhältnis stände: so daß ein jedes Element der einen Mannigfaltigkeit in der andern irgendwie 'vertreten' wäre, nur daß das 'Auffassen' dort nicht auf den zeitlichen 'Eintritt' zu warten hätte, sondern innerhalb der gesamten Mannigfaltigkeit jederzeit, weil zeitlos, auch das für uns erst Künftige wissend besitzen könnte - was auch immer solches Wissen 'dort' bedeuten mag.

Dieser Gedanke hat bekanntlich eine ehrwürdige Geschichte. Plato z.B. schon hatte die Zeit als das rhythmisch bewegte Gleichnis (eikon) eines Zeitlosen 


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 475)

bezeichnet, [1] mit dem 'Himmel' (der Welt der Erscheinung) geboren und mit ihm wieder schwindend. S. Augustin, in einem berühmten Erguß über das dunkle Problem der Zeit, stellte den 'Zeiten, die nie stille stehen', die 'Herrlichkeit der ewig stillen Ewigkeit' gegenüber, in welcher 'nichts vor sich geht, sondern das Ganze gegenwärtig ist', [2] wovon das Echo durch die ganze Scholastik des Mittelalters schallt, welcher Begriffe wie das totum simul und das nunc stans geläufig sind, [3] und noch in Luthers kernigem Wort verpoltert:

Gott sehe alles auf einen Haufen, nicht der Länge, sondern der Quere nach. Von Kant und seiner Gefolgschaft nicht zu reden.

Die Anwendung dieser Begriffe auf die Deutung menschlichen Vorauswissens wurde gemacht, sobald diese Tatsache ernstlich Gegenstand ruhiger Beobachtung und Überlegung wurde, wie etwa zur Blütezeit der deutschen Somnambulen. Passavant z.B., dem die Ewigkeit das absolute Sein ist, die Zeit - das Sein, in dem die Momente des vollständigen Seins auseinandertreten, und der sich das göttliche Bewußtsein 'alle Dinge in ihrer Totalität zugleich ohne Sukzession umfassend' denkt, -

Passavant läßt auch 'in einer größeren Konzentration der Seele – in der Ekstase - eine zeitlose Anschauung dadurch möglich werden, daß sie die Dinge weniger in ihrer Sukzession, sondern in ihrer Totalität, in ihrem Zugleichsein erkennt. . .', [4] und es ist in gewissem Sinne gleichgültig, ob man dies zeitlose Schauen allein dem göttlichen Geiste, oder dem Geiste-an-sich des Menschen, seinem 'magischen Ich' hinter dem empirischen (Perty), seinem 'transzendentalen Subjekt' (du Prel) oder einem besonderen Urvermögen [5] der Seele (Kuhlenbeck) zuschreibt.

Man mag sich diesen Gedanken dadurch näher bringen, daß man das 'ganze' zeitliche Geschehen flächenhaft ausgebreitet vorstellt: die beschränkte Auffassung des Menschen glitte mit dem Auge des Kurzsichtigen von Punkt zu Punkt darüber hin, das Auge des Geistes-an-sich dagegen übersähe die ganze Fläche mit einem Blicke, das Kommende nicht anders, wie das Vergangene.

Oder man mag das 'ewige' Bewußtsein in den Mittelpunkt eines die Zeit darstellenden Kreises versetzen, von wo aus es das Ganze der Peripherie - des Zeitablaufes - anschauen kann, längs welcher sich das zeitliche Bewußtsein im Kreise hin bewegt. [6]

Solche naiv-räumliche Versinnlichungen können nun freilich bei genauer Betrachtung nicht darüber hinweghelfen, daß jede auch nur annäherungsweise wirkliche Veranschaulichung des geforderten Verhältnisses uns natürlich gänzlich unvollziehbar bleibt, eben weil wir dabei aus einer Grundbedingung des Anschauens und aller Anwendung von Erfahrungsbegriffen auf Anschauung uns hinausversetzen müßten, - als welche Kant eben die Zeit bestimmte.

Bei dem hier von uns geforderten Begriff 'steht' uns eben einfach 'der Verstand still', und jener erweist sich letzten Endes als eine bloße Umschreibung der Forderung, daß der

[1] Timaios 37, 38 (Ed. Bipont. 1786 IX 315ff.).
[2] Confess. I. XI C. 11.
[3] Vgl. S. Thomas Aquin., Summa Theol. I qu. 12 art. 10 ('alle Dinge werden [im Himmel] gleichzeitig und nicht aufeinanderfolgend gesehen'); Taulers Pred. 20 (bei Preger III 159); Eckehart 2, und Giord. Bruno: für Gott sei tutto il tempo in essenza e sustanza non altro che instante.
[4] Passavant, 2. Aufl. 109.
[5] im Benekeschen Sinn.
[6] So Miss M. Joynt in einem gedankenreichen Aufsatz in OR Juni 1906 312.


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 476)

prophetische Geist, um das Zukünftige voraussehen zu können, es eben sehen müsse. - Trotzdem hat man sowohl in wissenschaftlicher Theoretik wie in psychischer Erfahrung Beweise für die Richtigkeit der fraglichen Erklärung gesucht. In ersterem Betracht war zu erwarten, daß die Gedankengänge der Relativitätstheorie herzuhalten haben würden.

Nach dieser geht die Zeit in die Naturgesetze in derselben Form ein, wie die drei räumlichen Koordinaten, und die Welt der Physik wird damit aus einem Geschehen im dreidimensionalen Raume gewissermaßen zu einem Sein in einem vierdimensionalen. Nach relativistischer Anschauung werden mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegte Längenmaße = 0, und gehen mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegte Uhren unendlich langsam.

Die Zeit stehe also stilI und die Ereignisse rücken zur Gleichzeitigkeit zusammen [?] in einer Welt, in der die Zeitmesser mit Lichtgeschwindigkeit hinschwimmen. [1] Die Relativitätstheorie wird somit von Manchen nachgerade als eine erfahrungsmäßige Bestätigung des transzendentalen Idealismus Kants betrachtet, wonach Raum und Zeit bloß menschliche Anschauungsformen sind, das Absolute aber transzendent, nämlich raum- und zeitlos ist.

Denkt man sich soz. eindimensionale Wesen, so wäre ihre 'Anschauungsform' der Punkt, während sie, um eine Linie zu erfassen, sie in der Zeit erleben müßten, von Punkt zu Punkt sich forttastend, indes ein zweidimensionales Wesen von der Fläche aus die Linie - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Eindimensionalwesen - mit einem Blick übersehen würde.

Die Anschauungsform der Zweidimensionalen wäre die Linie. Die Fläche könnten sie nur erschließen oder in der Zeit erleben; während ein dreidimensionales Wesen, sich in die dritte Dimension erhebend, die Fläche, also einen ganzen Lebenslauf der Zweidimensionalen, mit einem einzigen Blick übersehen könnte.

Entsprechend wäre die Anschauungsform der dreidimensionalen Wesen - die Fläche, und sie könnten den Raum nur mit dem Verstande erschließen oder in der Zeit erleben, während ein vierdimensionales Wesen, sich in die vierte Dimension erhebend, den Raum (und offenbar auch das zeitliche Geschehen in ihm) mit einem einzigen Blick erfassen könnte. [2]

Solche Gedanken mögen für Viele etwas Verlockendes haben. Es ist aber selbstverständlich, daß sie uns über die Grenzen mathematischen Theoretisierens unter für uns unwirklichen Voraussetzungen nicht hinausführen.

Vielleicht werden sie uns ermöglichen, das Postulat eines Geistes, für den Zeit nicht besteht, in mathematisch-physikalische Begriffe zu fassen; dagegen ist natürlich nicht zu hoffen, daß sie den Begriff der Allgegenwart uns Bewohnern einer Welt der stationären Maßstäbe anschaulich näher bringen.

Was die angeblichen psychologischen Beweise für die fragliche Deutung betrifft, so glaubte du Prel einen Hinweis auf die von ihm sog. 'Verdichtung des transzendentalen Zeitmaßes' in dem beschleunigten Ablauf gewisser psychischer Leistungen in abnormen Bewußtseinszuständen zu

[1] Vgl. F. W. Beck, Jenseits v. Vergangenheit und Zukunft (Pfulling (1921)).
[2] Das Vorstehende, außer dem [Eingeklammerten], nach Dr. L. Pick, Die vierte Dimension als Grundlage des transzendentalen Idealismus (Lpz. 1920) 10.


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Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 477)

Finden, ein Ablauf, der sich bei gewissen Träumen fast bis zur Zeitlosigkeit verkürzen sollte, nämlich bei jenen, die durch einen äußeren Sinneseindruck veranlaßt werden, der doch im Traume selbst als dramatisch bedingte Schlußwirkung erscheint.

Man entsinnt sich z.B. eines bekannten Berichtes bei Maury, der in einem lang ausgesponnenen Traume in sich dramatisch zusammenhängende Ereignisse während der französischen Revolution durchlebt, die ihn schließlich aufs Schafott führen, dessen Fallbeil ihn weckt und sich gleichzeitig als herabgefallene Bettvorhangstange erweist. [1]

Dieser Sinneseindruck soll den Traum angeregt, also gleichzeitig an seinem Anfang und Ende gelegen, somit aber dem scheinbar Jahre umfassenden Traum kaum irgendwelche Zeit übrig gelassen haben! Kaum irgendwelche, denn offenbar verläuft zwischen dem Augenblick, da der fragliche Sinneseindruck bereits ins Traumbewußtsein anregend hineinwirkt, und dem, in welchem er als Vorstellung darin bewußt wird, doch immerhin eine sehr geringe Zeit.

Du Prel behauptet denn auch tatsächlich nicht völlige Zeitlosigkeit solcher Träume.

Gleichwohl kann die Tatsache der Subjektivität der Zeitschätzung nicht drastischer uns zu Gemüte geführt werden, als eben durch solche Beobachtungen. Es liegt dann nahe, diese nicht nur von Zustand zu Zustand, sondern auch von Wesen zu Wesen verschiedene Erfahrung des Zeitverlaufes auf die wechselnden Bedingungen der Ausfüllung objektiv gemessener Zeitstrecken mit Vorstellungen zurückzuführen, diese Bedingungen aber etwa in den physischen Grundlagen des Vorstellungslebens zu suchen.

Verschiedene Organe des Vorstellens möchten dann in wechselndem Maße eine Verzögerung in den bewußten Ablauf hineintragen, und keines mehr, als dasjenige, welches unserm Wachen zugrunde liegt, in welchem uns die Erfahrung den langsamsten Verlauf aller seelischen Leistungen zeigt.

Etwas Derartiges dürfte Myers vorgeschwebt haben (der mir überhaupt von du Prel beeinflußt scheint), als er von mehrfachen Medien der Verzögerung sprach, durch die hindurch das zeitlose Vorstellen bis zur Verlangsamung des Wachlebens gelange. 'Stellen wir uns vor, schrieb er, daß ein ganzes Erdenleben in Wahrheit ein schlechthin augenblickhaftes [2], wiewohl unendlich zusammengesetztes Phänomen sei.

Nehmen wir an, daß unser transzendentales Ich gleich unmittelbar jedes Element dieses Phänomens erkennt und unterscheidet, daß aber unser empirisches Ich jedes einzelne Element mittelbar und durch Medien hindurch empfängt, welche wechselnde Maße der Verzögerung bedingen, gerade wie wir den Blitz schneller wahrnehmen, als den Donner. Könnten dann nicht gerade so gut siebzig Jahre

[1] Maury, Le sommeil et les rêves 161. Ähnliche Fälle bei R. Newbold in Pr XII 30; bei D. Syme, Tbe Soul... (Lond. 1903) 197ff. und Fechner, Zend-Avesta, 1. Aufl., III 30f. (Lord Holland u. Cte. de Lavalette). Du Prel’s Deutung in: Oneirokritikon, Deutsche Vierteljahresschr. 1869; Ph. d.M. 73ff.; Psychol. d. Lyrik 28ff. Vgl. auch Splittgerber, Schlaf, 2. Aufl.) I 96ff. und einige der 'Panoramal'-Fälle, o. Kap. IX. Zur Kritik du Prel’s s. auch Egger in RPh XL 41ff.
[2] instantaneous.


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 478)

zwischen meinen Wahrnehmungen von Geburt und von Tod liegen, als sieben Sekunden zwischen meinen Wahrnehmungen von Blitz und von Donner? Und könnte nicht irgendeine Vermittlung des Bewußtseins das umfassendere, mehr innerliche Ich instandsetzen, dem engem, mehr äußerlichen (den kommenden Donner gewissermaßen im voraus anzuzeigen)?' [1]

Es leuchtet nun aber ein, daß die Annahme derartiger Zwischenstufen zwischen der All-Gegenwart des höchsten, innersten und der ausgedehntesten Zeitlichkeit des niedersten, äußerlichsten Bewußtseins zwar die Anschauung bereichern mag, zur Aufhellung der letzten eigentlichen Undenkbarkeit aber wieder nicht das geringste beitragen kann.

Die größte denkbare 'Verdichtung' des Zeitmaßes läßt noch ein Nacheinander übrig, solange sie eben nicht bis zur Aufhebung der Zeit fortschreitet; gerade wie die größte Annäherung des Kegelschnittes an die Spitze des Kegels noch Fläche übrigläßt, solange eben nicht diese Spitze selbst erreicht ist.

Wie aber erst die Spitze des Kegels jede geometrische Ähnlichkeit mit jedem beliebigen Kegelschnitt verliert, so stellt sich das ganze Problem der Prophetie erst dort ein, wo der Schritt von der größtmöglichen Verdichtung des psychologischen Zeitmaßes zur All-Gegenwart des Geistes-an-sich getan werden soll, unter Beibehaltung (wohlgemerkt!) eines sinnvoll geregelten Verhältnisses zwischen der besonderen zeitlichen Anordnung jedes Ereignisses im scheinbaren Flusse der Zeit und der Art seiner 'Vertretung' in dem zeitlosen Gesamtwissen des 'ewigen' Geistes-an-sich, - ohne welches Verhältnis dieses ja nicht den empirischen Unterschied von Früher und Später zugunsten des endlichen Geistes ausnützen könnte.

Es ist dies immer der Punkt, wo uns der 'Verstand still steht', wo die 'Worte umkehren', wie der Inder von seinem Absoluten sagte, und das Ahnen und Hoffen an die Stelle des Erschauens und Erfassens tritt. [2]

Daß dieses Ahnen und Hoffen durch die erwähnten Veranschaulichungen mächtig gefesselt werde, ist freilich zuzugeben. Mehr und mehr werden wir empfinden, welche Erleichterung und Verdeutlichung mystischer Grundanschauungen (wie sie sich uns aufdrängen werden) durch den Begriff einer Weltanordnung gegeben wäre, nach welcher alles in Raum und Zeit verbreitete Werden und Geschehen irgendwie in einer völligen Einheit zusammenliefe,

von der aus es insgesamt erfaßt werden könnte, wofür dann wohl kein besseres anschauliches Symbol zu finden sein mag, als der Mittelpunkt eines Kreises gegenüber seinem Inhalt, besser noch: einer Kugel gegenüber ihrem Inhalt. Und auch für die Erfaßbarkeit dieses Inhalts in

[1] Myers II 273. Ähnliche Gedanken bei v. Hellenbach, Magie der Zahlen 144ff.; in K. E. v. Baers Vortrag: Welche Auffassung der Natur ist die richtige? (1862); bei K. Joel, Seele  und Welt (Jena 1912) 402. Vgl. auch die buddh. Lehre von den verschiedenen Zeitmaßen der Göttersphären, die zuoberst in die Zeitlosigkeit des Nirwana münden (Beckh I 54f., nach Anguttaranikäya IV, 252ff.).
[2] Den kuriosen Ausdruck einer angeblichen 'Erfahrung' dieser Verhältnisse ('wie Zeit gemacht wird') s. in der 'anästhetischen Offenbarung' B. P. Bloods, bei James, Varieties 389 Anm. 2.


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 479)

jenem Mittelpunkt ließe sich dann vielleicht eine gewisse Symbolisierung gewinnen aus Begriffen wie dem der Spannung oder der potentiellen Energie, die das ausgebreitete 'aktuelle' Geschehen gleichsam in die Punkt- und Augenblickförmigkeit der 'Möglichkeit' zusammenfaßte und doch auch in dem geforderten funktionalen Verhältnis zu diesem Ausgebreiteten stände.

Alles, was die Welt des Erlebens - meinetwegen des Scheines - an ausgebreitetem Geschehen enthält, enthielte dann eben jener aller Anschaulichkeit entrückte Mittelpunkt in einer Form des zusammengefalteten 'gespannten' Seins. [1]

Die Mehrzahl der Leser wird nun unstreitig alle diese Denkbeschwer für völlig vermeidbar und nur willkürlich herbeigezwungen erklären, weil sie den Gedanken der Scheinhaftigkeit der Zeit überhaupt nicht zugesteht, vielmehr die Wirklichkeit des Zeitverlaufs für etwas unbedingt Sicheres und Letztes erklärt, worüber hinauszustreben ein sinnloses Unterfangen sei.

Ich will auf die oft und scharfsinnig verfochtenen Einwände gegen den Gedanken der Idealität der Zeit nicht eingehen, es ist unmöglich, dieses Kapitel u.a. noch mit einer vollständigen Erkenntnistheorie zu belasten, und aller Aufwand von Gründen würde nicht eine Einstimmigkeit erzwingen, die einige Jahrhunderte des Meinungsstreites nicht zuwege gebracht haben. Bleibe also jeder bei seinen Denkneigungen.

Nur daran erinnere ich den Anhänger des Zeitscheines: daß auch dieser Deutungsversuch uns zu der Forderung einer überlegenen, übergreifenden und als geistig anzusetzenden Instanz geführt hat, welche die eigentliche Quelle des Vorauswissens für den endlichen Einzelgeist darstellt, sofern dieser irgendwie Zugang zu ihrem Wissen erlangt, indem es auch hier natürlicher sein dürfte, die überlegen übergreifende Instanz -

die ja praktisch eine Unendlichkeit ist - nur einmal gemeinsam für alle Einzelgeister anzusetzen, anstatt einer 'ineinandergeschobenen' Masse soz. individueller Unendlicher, nämlich der überzeitlichen Iche-an-sich der einzelnen Sterblichen. –

Wende ich mich nun mehr zu Deutungen der Vorschau, welche die metaphysische Wirklichkeit der zeitlichen Abläufe voraussetzen, so ist es mir im übrigen gleichgültig, ob man dabei eine Anschauung vorzieht, die alles Geschehen in bewußten Abläufen sucht, oder eine, die auch Abläufen außerhalb alles Bewußtseins Wirklichkeit zuschreibt. Jedenfalls wird nun mehr ein wirkliches zeitliches Geschehen innerhalb und außerhalb des Einzelbewußtseins angenommen und insofern der Boden des Realismus betreten.

Man empfindet sogleich, daß - zumal nach Ablehnung eines unendlichen 'Berechnens' der Zukunft - die Theorie der Vorahnung nunmehr einen verzweifelten Stand hat. Ist zeitliches Geschehen letzte Wirklichkeit, so

[1] Diesen Gedanken faßte schon Aristoteles in den Begriff der xxxxxxx, an den F.C.S. Schiller sehr anregende, aber - wie mir scheint - vielfach anfechtbare Spekulationen knüpfte, (Humanism 206ff. [ch. XII]; zuerst in Mind [New series] IX (1900) 457ff.)


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Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 480)

ist das Künftige in einem endgültigen Sinne überhaupt noch nicht; und soll es nicht errechnet werden, so ist schwer einzusehen, wie denn ihm beizukommen sein möchte. Aus der Literatur entsinne ich mich denn auch nur noch eines Gedankens, der dieser Schwierigkeit Herr zu werden sucht.

Bekanntlich gibt die heutige Psychologie dem Unterschied zwischen physikalischer und psychologischer Zeit eine bedeutsame Wendung in der Fassung des Gegenwartsbegriffes. Daß zwei Zeitmomente im mathematischen Sinne gleichzeitig bewußt seien, ist eben so unmöglich und widersinnig, wie anderseits ohne Frage die Jetztvorstellung im psychologischen Sinn eine 'gleichzeitig' gegebene ausgedehnte Größe ist, wenn auch, zum Unterschied von allen Raumvorstellungen, eine stetig fließende. [1]

Der Augenblick, das Nun, umfaßt eine Reihe wechselnder Inhalte, an denen schon Fluß und Dauer, ein Früher und Später wahrzunehmen sind. Psychologen berechnen dieses Jetzt der banalen menschlichen Erfahrung auf mindestens einen kleinen Bruchteil einer Sekunde und höchstens einige wenige Sekunden. [2]

Daß aber diese Spanne des Jetzt in Wesen von verschiedener geistiger Entwicklungshöhe verschieden groß sein könne, erscheint fraglos und wurde schon angedeutet: dem kurzlebigen Insekt mag wie eine ausgedehnte 'Stunde' erscheinen, was uns ein Augenblick ist, während sein 'Augenblick' für uns nichts Angebbares mehr enthalten kann.

Diese psychologischen Feststellungen nun würde der jetzt fragliche Gedanke durch die metaphysische Annahme eines Wesens ergänzen, dessen psychologische Gegenwartsspanne die unsrige noch unendlich viel mehr Male überragte, als die unsrige die des niedersten Bewußtseins, dem irgend welche Zeitvorstellung zukäme.

Prof. Royce insbesondere hat die Theorie eines Ewigen Bewußtseins ausdrücklich auf Analogien aus der Beobachtung der psychologischen Gegenwartsspanne gegründet.

Wie wir z.B. eine Melodie, unbeschadet des wesentlichen Nacheinander und Außereinander ihrer Elemente, auch als ein Ganzes und eine Einheit mit einem mal auffassen, 'nicht durch das Gedächtnis allein, sondern kraft wirklicher Erfahrung', [3]

so lasse sich ein Ewiges Bewußtsein (im Absoluten) denken, 'welches zu der Gesamtsumme der Abläufe der Welt und der Gesamtheit der Zeit sich verhält, wie wir zu einer einzelnen Melodie oder einem einzelnen Rhythmus und zu dem kurzen und doch noch ausgedehnten Zeitraum, welchen diese Melodie oder dieser Rhythmus einnimmt'.

'Im Grunde stimmten beide Auffassungsweisen überein, verschieden seien sie nur in ihren Ausmaßen'. - Prof. Royce wendet seinen Gedanken nicht ausdrücklich auf die Erklärung der Prophetie an, es ist aber augenscheinlich, daß diese Deutung als Sonderfall in ihm enthalten ist:

ein Bewußtsein, welches den gesamten Weltlauf als Gegenwartsanschauung umgreift, umgreift natürlich auch ein beliebiges Ereignis darin, das für ein endliches Erleben 'später' ist, als ein beliebiges anderes, und von einem endlichen Geiste aus diesem nicht abgeleitet werden kann.

[1] Vgl. z.B. Wundt. III 87, und W. James, Princ. of Psychol. über d. specious present.
[2] J. Royce, The World and the Individual (N. Y. 1901) II 122.
[3] Not through mere memory, but by virtue of actual experience.
[4] das. 142.


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 481)

Eine Verknüpfung des zeitlichen mit dem Ewigen Bewußtsein - und hierin käme diese Deutung auf das Schema aller bisherigen heraus - müßte also jenem auch das Voraussehen eines beliebigen Ereignisses ermöglichen.

Ich weiß nicht, ob einer meiner Leser sich soweit von dem vorgetragenen Gedanken hat bestechen lassen, daß er den Denkfehler übersieht, der ihm zugrundeliegt. Prof. Royce verrät ihn selbst durch eine jener plötzlichen kleinen Ungenauigkeiten des Ausdrucks, durch die eine 'uneingestandene Verworrenheit sich fast unwillkürlich im entscheidenden Augenblick zu verbergen sucht'.

'Wie könnte Gott' - so läßt er sich einwenden - 'alles auf einmal sehen, wenn doch eben jetzt, in der Zeit, die unendliche Vergangenheit nicht mehr ist, und die Zukunft noch nicht?' Ich erwidere: Genau in demselben Sinne sind alle Töne der Melodie entweder nicht mehr oder noch nicht, ausgenommen diese (bestimmte) Note, während sie ertönt.

Und doch kann man eine Reihe dieser Töne mit einemmal (im Bewußtsein) erfassen'. [1] Warum, so fragt man, heißt es hier 'eine Reihe' und nicht: 'die Reihe der Töne'? Offenbar weil, 'während diese (bestimmte) Note ertönt', ich zwar 'eine Reihe' von Tönen als Einheit auffassen kann, nämlich die bis zu dieser Note erklungenen, aber nicht 'die' Reihe, nämlich die ganze Reihe, welche die Melodie ausmacht, also einschließlich der Töne, die bis zum Schluß der Melodie noch folgen sollen, denn diese sind noch nicht.

Und doch würde die Richtigkeit des grundlegenden Vergleiches durchaus fordern, daß die einheitliche Auffassung bei jeder Note sich auf 'die' Reihe, d.h. die gesamte Tonreihe der Melodie beziehe, gleichwie ja auch Gott die ganze Reihe des Weltablaufs übersehen soll, selbst während ein beliebiges Ereignis desselben 'gegenwärtig' ist, die ihm folgenden aber 'noch nicht' sind.

Wie aber das menschliche Bewußtsein seine psychologische Jetztspanne von der eben zuletzt erklungenen Note rückwärts rechnet, so kann auch die unendlich überlegene Spanne des Ewigen Bewußtseins sich von dem gegenwärtigen Augenblick des Weltverlaufes offenbar nur rückwärts unendlich viel weiter erstrecken, wogegen die an das Noch-nicht stoßende Grenze dieses einheitlich erfaßten Jetzt im Falle des endlichen und des unendlichen Bewußtseins offenbar zusammenfällt und mit dem mathematischen Jetzt einer objektiven Zeit identisch zu setzen wäre.

Der Unterschied der psychischen Spannweite des Gegenwartsbewußtseins kann mithin nur darauf beruhen, daß in dem Ewigen Bewußtsein Elemente des Weltgeschehens noch zum Jetzt gehören, die für das endliche Bewußtsein bereits in den Bereich der Vergangenheit getreten sind. -

Nach Ablehnung auch dieser Auskunft weiß ich nun bloß noch einen weiteren Gedanken vorzubringen, um die Tatsache der Vorschau unter Anerkennung eines objektiven Zeitverlaufs dem Verständnis näher zu bringen, einen Gedanken, der meines Wissens unserm Problem gegenüber noch nicht verwendet worden ist.

Dieser letzte Gedanke stützt sich auf die Annahme eines periodisch sich gleichartig wiederholenden Ablaufs des Weltgeschehens. Der Begriff der ewigen Wiederkehr, den schon im Altertum

[1] das. 145.


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 482)

die Stoa kannte und dem neuerdings Guyau und Nietzsche Volkstümlichkeit verschafft haben, [1] besagt etwa, daß die endliche Größe der Welt und die endliche Zahl ihrer Teilelemente auch nur eine endliche Zahl ihrer Zusammenordnungen zulasse, so daß nach Ablauf einer endlichen Zeit ein Zustand (B) erreicht werden müsse, der einem früheren (A) in jeder Hinsicht gleiche und somit der Anfang eines Ablaufs werde, der mit dem Ablauf A-B inhaltlich vollkommen übereinstimme. -

Es ist mir unmöglich, die Richtigkeit dieses Gedankens an sich zu prüfen, er möge um des Argumentes willen zugestanden werden. Das völlig Neue, das er in unsre Voraussetzungen einführt, liegt offenbar in dem Umstande, daß das Vorgeschaute nicht bloß als ein Zukünftiges, sondern auch als ein Vergangenes Bestand hätte.

Die weitere Voraussetzung, daß es - als Vergangenes - Spuren irgendwelcher Art hinterlassen habe, die zu seinem Vorgestelltwerden auch in einem endlichen Bewußtsein führen können, wäre uns durch die Beobachtungen über Rückschau bereits glaublich geworden.

Diese Voraussetzung aber legt den weiteren Gedanken nahe, daß die 'Spuren' früherer WeItabläufe mit dem Fortschreiten des 'gegenwärtigen' WeItablaufs in eine gleicherweise stetig fortschreitende 'Erregung' geraten, wie etwa demjenigen, der einen Text nicht zum ersten Male liest, einzelne Zeilen, die den augenblicklich gelesenen mehr oder weniger nahe folgen, schon im voraus einfallen oder doch in 'Bewußtseinsnähe' rücken.

Nun greifen ja gewisse Vorahnungen, nach menschlichem Maß gerechnet, ziemlich weit in die Zukunft vor, wenn auch die Mehrzahl sich auf unmittelbar oder doch nahe bevorstehende Ereignisse bezieht.

Aber diese menschlichen Maße sind nicht die der Ewigkeit, und verglichen mit denen eines WeItablaufes würden selbst Prophezeiungen über Jahrhunderte hin bloß Vorwegnahmen des nächsten Augenblickes sein.

Und wäre dem auch nicht so, so würde unser Vergleich doch lehrreich bleiben, denn auch beim wiederholten Lesen mögen uns selbst weit vorausliegende Teile des Lesestücks im voraus einfallen, sofern sie nur mit dem augenblicklich Gelesenen in einem inneren Zusammenhang stehen.

Gerade ein solcher innerer Zusammenhang aber - nämlich der persönlichen Schicksalsgemeinschaft - ist ja sehr häufig zwischen dem Vorahnenden und dem Inhalt seiner Vorahnung gegeben. Man kann sogar so weit gehen zu sagen:

Vorausgesetzt ein solches Welt - oder Erdengedächtnis, sollten wir eigentlich ein Voraussehen des Kommenden darin als die Regel ansehen und das seltene Auftreten von Vorgesichten im Einzelmenschen auf die Schwierigkeiten zurückführen, die sich der Übermittelung dieses übermenschlichen Vorauswissens an das Einzelbewußtsein entgegenstellen.

Daß solche Schwierigkeiten der Versinnlichung, ja des bloßen Bewußtwerdens von übernormal erworbenem Wissen bestehen, ist ja aber eins der

[1] Nietzsche, Also sprach Zarath., 'Von Gesicht u. Rätsel' (Gr.-8°-Ausg. VI 231f.); vgl. auch A. Blanqui, L’éternité par les astres, hypothèse astronomique (Par. 1872); Epikur, bei Lukrez, De rer. nato OO, 480ff.


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Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 483)

banalsten Ergebnisse der Beobachtung. Sie werden bewiesen durch alles, was eine gelegentliche längere Latenz des Gewußten anzeigt, sowie durch die Notwendigkeit einer Methodik (Askese, Ekstatik u. dgl.), welche die Heraufsaugung des unterbewußten Besitzes in die Wacheinstellung begünstigen soll. -

Die Tatsache, daß ein künftiges Ereignis mitunter bildhaft gerade so vorausgeschaut wird, wie es sich später einem einzelnen Zuschauer darstellen wird, würde diese Theorie dadurch erklären, daß gerade ein solches Bild schon einmal von einem einzelnen Zuschauer wahrgenommen und vermöge der teilweisen Gemeinschaft, die zwischen seinem Bewußtsein und dem Weltgedächtnis bestände, auch in diesem aufbewahrt worden wäre, aus welchem es im Verlaufe der 'Assoziationen', die dem Ablauf des Weltgeschehens entspringen, wieder in das Einzelbewußtsein des Sehers übertreten könnte.

Anderseits würde die Theorie durchaus nicht ein bildhaftes Auftreten des Vorwissens in jedem Falle fordern. Wie normal erworbene, aber zeitweilig 'unterbewußte' Vorstellungen sich dem Bewußtsein gelegentlich durch unerklärliche Gefühle oder Antriebe zu Handlungen, oder wiederum durch unbestimmte assoziierte Vorstellungsbruchstücke - Ahnungen u. dgl. - kundtun können, so natürlich auch übernormal erworbene... aber noch außerbewußt verharrende, ja vielleicht auch Vorstellungen jenes größeren Bewußtseins selbst, mit welchem nach der Theorie das Einzelbewußtsein sich im Austausch befände. -

Sollen wir nun aber ein solches der Vorschau zugrunde liegendes Weltgedächtnis als eine materielle, oder eher als eine psychische Tatsache denken? Ich kenne keinen Begriffszusammenhang (und kann mir selbst auch keinen erdenken), welcher das erstere in befriedigender Weise zu denken gestattete, so sehr auch neuere Spekulationen über die 'Mneme' als Eigenschaft alles Daseienden und über 'Engramme' jeder Art als ihre Grundlagen dazu verlocken mögen. [1]

Die Theorie der Vorschau verschmilzt hier offenbar mit derjenigen der Rückschau, und darum müssen hier die Begriffe erwogen werden, durch die man die letztere zu deuten gesucht hat, sofern sie uns etwa einer selbständigen Theorie der peinigenden Tatsache der Vorschau überheben könnten.

Ganz unglücklich und unklar erscheint mir der Versuch, [2] das Schauen des Vergangenen durch eine Fortpflanzung von Bildern alles Geschehens im Raume zu deuten, nach Analogie der Verhältnisse, die uns das Licht eines Sternes dort sehen lassen, wo vor Zeiten ein Stern gewesen ist.

Offenbar ist der Durchmesser der Erdbahn verschwindend klein gegen die Strecken, die das Lichtbild eines irdischen Ereignisses durchlaufen hat, ehe der Seher überhaupt an einen Punkt der Erdbahn kommt, an welchem er dieses Bild auffangen könnte. Ereignisse der Vergangenheit werden ja häufig geschaut am Orte ihres früheren Ablaufs, also (unter Vernachlässigung der verschwindenden Streckenzahlen der Erdbahn) an dem Ort, von

[1] R. Semon. Die Mneme.
[2] Vertreten z.B. von Srichandra Basu, Introd. to esoteric science (ref. in ÜW VIII 450).


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 484)

dem, nach der Voraussetzung, ihr Bild am weitesten entfernt sein müßte. Und was sollen wir von der Zumutung halten, daß ein endliches Auge das Bild eines eng umgrenzten irdischen Vorganges aufnehmen soll auf Entfernungen, die man als kosmisch bezeichnen darf?

Solche Gedanken verdienen in der Tat Erwähnung nur als Hinweise darauf, wie wenig aussichtsreich die physikalische Deutung von Tatsachen wohl sein mag, die zu solchen verzweifelten Ausflüchten verleiten. Endlich aber: was könnte eine solche Theorie, selbst ihren Grundgedanken zugestanden, zur Deutung der Vorschau beitragen, bei der doch zu kosmischen Entfernungen noch kosmische Zeiten - und zwar 'kleine Ewigkeiten' - treten würden?

Bestimmtere Grundlagen einer Theorie könnte ein Gesetz zu versprechen scheinen, welches Dr. W. P. Montague von der Columbia-Universität folgendermaßen gefaßt hat: Was je an irgendeinem Punkt eines ausgedehnten Dinges vorgegangen ist, das geht dort noch vor und wird dort immer vorgehen; wofür die Erklärung in der Rückschlagswirkung liegen soll, die während der Ausbreitung der Wirkungen auf jedem Schritt dieser Ausbreitung stattfindet. [1] -

Die Richtigkeit dieses Gedankens vorausgesetzt, scheint er - in unserm Zusammenhang - die Wahrnehmbarkeit eines Ereignisses am Orte seines Geschehens für alle Zeiten, aber auch für jedermann zu fordern, oder doch für jeden 'Sensitiven'. Rückschau am 'fremden' Ort, Rückschau angeregt durch 'psychometrische' Gegenstände, fiele außerhalb des Rahmens einer solchen Deutung.

Ebenso aber auch die Vorschau unter der Voraussetzung eines wiederholten gleichen WeItablaufs, sofern solche Vorschau nicht am Orte des Geschehens stattfände, was sie doch nur in Ausnahmefällen tut. In all diesem entsprechen also die Beobachtungen und Tatsachen nicht den Voraussetzungen, die aus dem Gesetze folgen würden.

Ich weiß nicht (bezweifle aber), ob die Vertreter einer weiteren Theorie geneigt sein werden, in Dr. Montagues Gesetz eine wissenschaftliche Bestätigung derselben zu sehen: 'Okkultisten' aller Zeiten haben nämlich von bildhaften Spuren gesprochen, die alles Geschehen in einem übermateriellen Medium hinterlasse; von astralen Abdrücken (astral prints), einer Art eidola, in denen jede Handlung und jeder Gedanke auf einer der 'höheren Daseinsebenen' für ewige Zeiten aufbewahrt werde.

In dieser 'kosmischen Bildergalerie' vermöge der Seher gleichsam Umschau zu halten und die Vergangenheit weit genauer und unmittelbarer kennenzulernen, als durch die mittelbaren Methoden der Wissenschaft vom Vergangenen. – Ob diese Behauptungen nun auf ein unerhörtes Geheimnis deuten oder nicht: ich muß gestehen, daß ich nie mit ihnen einen irgendwie angebbaren Sinn habe verbinden können.

Ich kann mir nicht einmal annäherungsweise vorstellen, in welcher Weise diese Bilder sich von den Gegenständen oder den einzelnen Phasen (!) eines Vorgangs ablösen, noch in welcher Weise sie sich neben- und durcheinander erhalten, noch auch wie der Seher in diesem Durcheinander zu deutlicher Wahrnehmung gelangt. Und ich fürchte, daß die, die solche Behauptungen aufstellen, in diesem Punkte nicht günstiger daran sind, als ich selbst.

[1] S. HJ 1903/4 291 f.


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 485)

Ein letzter zu erwähnender Versuch der physischen Deutung kosmischen Gedächtnisses ist auf dem Boden des Parallelismus folgerichtigster Form erwachsen: in der Lehre nämlich, daß nicht nur Spuren in einem Gehirn die Erinnerung des Vergangenen aufbewahren, sondern daß alle verbleibenden Wirkungen eines Menschen in der objektiven Welt - sein 'Tatenleib' - einem individuellen Gedächtnis als Unterlage dienen können. [1]

Diese Lehre vom Tatenleib soll eine Art persönlicher Unsterblichkeit nach Verfall des Körpers ohne Aufgabe der parallelistischen Grundanschauung möglich erscheinen lassen. Allgemein gewendet aber führt sie zur Vorstellung eines kosmischen Gedächtnisses als bewußten 'Aspektes' aller physischen 'Spuren', d. i. Wirkungen, die alles Geschehen überhaupt hinterlassen hat.

Im Falle einer Rückschauleistung müßte nun - auf der materiellen 'Seite' - das Gehirn des Sehers von den materiellen Spuren des vergangenen Ereignisses erregt werden, damit die entsprechenden kosmischen Erinnerungen sich in seinem Bewußtsein spiegeln; im Falle einer Vorahnung müßten - unter Voraussetzung der eben zur Erörterung stehenden Deutung von Vorschau - die Spuren des bevorstehenden Ereignisses aus dem ganzen Zusammenhang heraus soweit anklingen, daß sie einen gleichen Vorgang ermöglichen.

Ich brauche kaum zu sagen, daß diese Anschauungsweise von außerordentlichen Schwierigkeiten strotzt, ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die sie mit der parallelistischen Anschauung überhaupt gemein hat. [2]

Wir sollen uns vorstellen, daß ein gewisser Teil des physischen Gesamtzustandes in einem ansehnlichen Weltbezirk unmittelbar und unter Umgehung der Sinnesorgane (denn es handelt sich ja nicht um Sinneswahrnehmung) in dem Zustand eines Einzelgehirns sich derartig spiegle, daß die Vorstellungen, die diesem Hirnzustand zugehören, das Abbild eines vergangenen oder bevorstehenden Ereignisses darstellen.

Dieser 'gewisse Teil' des umgrenzten physischen Weltzustandes, der die 'Spuren' des fraglichen Ereignisses bildet, ist natürlich in den meisten Fällen außerordentlich verbreitet und - wenn ich so sagen soll - verzettelt, wie es die Wirkungen sind, welche das vorzustellende Ereignis (so häufig eine Tat) im Laufe der Zeit gehabt hat.

Es ist doch aber offenbar äußerst schwierig, sich unter diesen verzettelten Spuren einen Zusammenhang zu denken, der im Augenblick seiner Einwirkung die gleichzeitige störende Einwirkung jedes andern Elementes des physischen Zustandes ausschlösse. Man sträubt sich, im Bereiche physischer Tatsachen jene 'Selektivität' zu erwarten, die im Bereiche des Psychischen durch Aufmerksamkeit, Willen, Interesse, Bedeutung u. dgl. m. erzielt wird, und ist dementsprechend geneigt, jene

[1] Fechner, Zend-Avesta, 3. Aufl., II 253ff.; Bücher v. Leben nach dem Tode 8f. Vgl. W.James, A pluralistic universe (1909) 4. Vorles. - Ein vager Vorklang der Lehre bei Poiret (s. Corrodi III 489).
[2] Die ich für widerlegt halte (Külpe, Joel, Busse, Becher u.a).


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Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 486)

kosmische Aufspeicherung und des Sehers Schöpfen aus ihr von vornherein ausschließlich nach psychologischen Analogien zu fassen.

Doch wie immer dem auch sei: wem die angedeutete Anschauung möglich erscheint, der mag an ihr festhalten.

Ich will ihn dann nur darauf aufmerksam machen, daß die letzte Theorie der Prophetie in ihrer einzigen wissenschaftlich beachtenswerten Begründung auch mit der Voraussetzung (nicht nur eines materiellen, sondern auch) eines psychischen, bewußten Zusammenhanges von überindividuellen, übergreifenden Ausmaßen rechnet, in welchen das Einzel-Ich eingeordnet ist, wie der Teil in das Ganze, und von welcher Einordnung es einen besonderen Gebrauch macht, wenn es übernormales Erkennen ausübt, weil in jenem übergreifenden psychischen Zusammenhang der Gesamtzustand der Welt über Raum und Zeit hinweg sich spiegelt, so daß jeder Teil dieses Zustandes daraus zu erfahren ist. -
 

Ich habe verschiedene Theorien der Vorschau dargelegt, ohne indes dem Leser zumuten zu wollen, daß er allem beipflichte, was ich zu ihrer Beurteilung gesagt habe: gegenüber den Schwierigkeiten letzter Fragen soll den Denkneigungen des Einzelnen der weiteste Spielraum gelassen werden.

Das für uns Wichtige aber ist, daß alle angedeuteten Theorien in der eben formulierten Anschauung übereinkommen, die seit ältesten Tagen zum Bestande mystischer Weltansicht gehört hat: daß über oder hinter dem bewußten Einzelwesen übergreifende Zusammenhänge psychischer (oder quasi-psychischer) Art bestehen, die schließlich in einen letzten, alles umgreifenden Zusammenhang auslaufen. [1]

Ich sage 'psychischer oder quasi-psychischer Art', um kein Vorurteil darüber zu schaffen, ob das innere Wesen jener Zusammenhänge durchaus unserm menschlichen Ich-Erleben entsprechend anzunehmen sei, selbst wenn es wegen seiner erkenntnisgebenden Leistungen als quasipsychisch vorzustellen wäre.

Als quasipsychisch aber würden wir es auch noch bezeichnen dürfen, wenn der Gedanke der Überzeitlichkeit der höchsten wissengebenden Instanz sich durchsetzte, schon darum, weil sie eine wissengebende wäre und doch außerhalb alles objektiv-physikalisch Beschreibbaren läge.

Auch wäre es m. E. übereilt, daraus, daß doch die kleineren Zusammenhänge (also auch die menschlichen Iche) als Teile der größeren gelten sollen, zu schließen, daß diese größeren nichts weiter und nichts anderes enthalten dürften, als jene kleineren.

Es ist möglich (wie mir scheint) anzuerkennen, daß die größeren Zusammenhänge außer den Inhalten der kleineren noch eine Unübersehbarkeit eigener Inhalte besitzen könnten. Und was mehr ist: die Inhalte der kleineren Zusammenhänge (z.B. menschlicher 

[1] Von Neueren vgl. natürlich vor allem Fechner (Zend-Avesta, 3. Aufl., I 159ff.) und seine Schüler (Wille, Möbius u.a.); vgl. auch J. Bergmann, Unters. üb. Hauptpunkte der Philos. 281f.


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 487)

Bewußtseine) könnten in den größeren in parallelen Reihen von eindeutiger Sinnzuordnung noch einmal, oder beliebig häufig vertreten sein. Es ließe sich z.B. denken, unter Voraussetzung eines metaphysischen Dualismus,  daß das menschliche bewußte Erleben von seiner Bindung an einen physischen Organismus der Art nach bestimmt sei, daß diesem Erleben aber in dem größeren psychischen Zusammenhang eine andere Reihe quasipsychischen - oder meinetwegen 'überbewußten' -

Erlebens parallel gehe, die von jener Bindung nichts weiß und die ihrerseits nur einen Teil sehr viel reicheren übermenschlichen Erlebens ausmacht, aus welchem aber ein Übertreten in menschliche Einzelbewußtseine möglich ist, - etwa in Form einer Sensualisierung (einer Versinnlichung) übernormalen Erfahrens.

Vielleicht ließen sich Anklänge und Vorbereitungen solcher Gedanken auch in der Geschichte des Denkens auffinden: wie etwa in der Lehre der Upanischads vom Brahman-Ätman, in welchem aufgehend das Ich nicht länger selbstbewußt und weltentgegengesetzt sei, [1] oder in der Lehre Schellings vom Absoluten als dem Zusammenfallen von Objekt und Subjekt, und wo immer sonst.

Aber nicht auf geschichtliche Vertretungen der alten Lehre von übermenschlichen Bewußtseinszusammenhängen und von der bewußten Einheit der seelischen Welt überhaupt will ich hier verweisen, empfindet unsere Zeit sie doch als 'Spekulationen', denen geringe Glaubwürdigkeit zukommt, - wohl aber auf eine Tatsache der psychologischen Beobachtung , die den theoretischen Voraussetzungen, zu denen uns die Vorschau-Leistungen gedrängt haben, in sehr bemerkenswerter Weise entgegenkommt.

Ich meine die Tatsachen des 'konzentrischen' Typs der Ich-Spaltung, bei welchem also eine Bewußtseinsphase die andere (oder die anderen) als Teil (oder Teile) in sich einschließt und ihnen doch als selbstbewußte Einheit gegenübersteht. [2] Es ist sonderbar, daß noch niemand (wenigstens soweit ich sehen kann) auf die große Bedeutung dieser merkwürdigen Tatsachen für jede Metaphysik von der Art der Fechnerschen hingewiesen hat.

Alles Wesentliche und zugleich wunderbar Unglaubliche solcher Metaphysik finden wir hier in der Erfahrung menschlichen Lebens als Wirklichkeit: nämlich das Zusammenbestehen von Gemeinbesitz gewisser Bewußtseinsinhalte und Getrenntheit der Mittelpunkte von Ichbildung bei augenscheinlicher Überlegenheit (nach Umfang, Masse, Einsicht, Charakter) des einen Ich über das andere.

Aber eben dies, ins Unendliche vergrößert, vervielfacht und vermannigfaltigt, behauptet die Metaphysik der Über-Iche und des All-Ich, zu der uns die Tatsachen der Prophetie drängten, wie immer wir sie dem Begreifen zu nähern trachteten. Es ist unverkennbar, daß der gemeinsame

[1] z.B. Brih. 2, 4, 12; oder Kena 3 und 11: 'verschieden ist's vom Wißbaren und doch darum nicht unbewußt.' (Deussen, Allg. Gesch. d. Philos. I. 2 (Lpz. 1899) '76.)
[2] Vgl. o. S. 55ff.


Kap XLIV. Theorie der Vor- und Rückschau.                 (S. 488)

Grundgedanke aller solcher Deutungsversuche weniger 'in der Luft hängt', nachdem wir sein schematisches Analogon in psychologischer Erfahrung aufgedeckt haben, wenn er auch natürlich nicht durch solche Aufdeckung 'bewiesen' wird, wie wir denn mit Beweisen in metaphysischen Fragen vermutlich noch lange werden Zurückhaltung üben müssen.

Auch würde diese metaphysische Ausnützung der Beobachtung konzentrischer Iche selbst mit der Annahme der bloßen Scheinhaftigkeit des Zeitverlaufes wohl verträglich sein.

Was jene Ausnutzung hier sehr schwierig und widerspruchsvoll erscheinen läßt, ist ja lediglich die Verschiedenartigkeit der gewählten anschaulichen Symbole; im Bilde der konzentrischen Kreise erweitert sich jedes 'tiefer' gelegene Ich gegenüber dem von ihm beherrschten, im Bilde der Kugel und ihres Mittelpunkts dagegen schrumpft das Alles-umfassende Ich zum Punkt zusammen.

Beiden Symbolen ist aber gemeinsam, daß sie - jedes in seiner Art - eine Vermehrung der psychischen (bzw. quasi-psychischen) Inhalte andeuten sollen.

Wir dürfen also immerhin jener Übereinstimmung von selbständig angeregter Theorie mit weit abgelegenen Beobachtungen die verstärkte Ermutigung entnehmen, jenen Grundgedanken aller angedeuteten Theorien der Vorschau als wirklich grundlegenden versuchsweise festzuhalten, in der ahnungsvollen Hoffnung, daß er durch die zunehmend erweiterte und vertiefte Beschäftigung mit den Forschungsgebieten dieses Buches ständig an Leben und Farbe und damit an Glaubwürdigkeit gewinnen werde.

Liegt er doch ohnehin im Zuge einer heute weit verbreiteten Denkart, die im Geistigen - und, dem parallel, im Lebenden überhaupt - das Moment des Einheits- und Formschaffens betont, gegenüber dem ewig ins Gleichgewicht und Einerlei strebenden 'Mechanismus', und somit in der Psychologie der Freiheit wie in der Lebenslehre der Vitalisten auf letzte, alle Einheiten und Formen umgreifende Welttatsachen hindrängen muß. [1]

[1] Ob der hier andeutungsweise angenommene Dualismus als ein metaphysisch-endgültiger anzusehen und wie er etwa zu überwinden sei, auf diese Fragen könnte ich in der hier gebotenen Kürze nicht eingehen.

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