Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XLI. Rückschau.             (S. 420)

Schon in seinem Habitus gleicht das Ferngesicht meist einer Halluzination. Nun mag es gewiß einen guten Sinn haben, auch jede Wahrnehmung als objektiv gültige Halluzination zu bezeichnen, aber gerade entscheidende Merkmale dieser objektiven Bezogenheit fehlen dem Ferngesicht: neben der (vielfach mangelnden) sinnlichen Deutlichkeit vor allem die sinnvolle Lokalisiertheit vor dem Wahrnehmungsorgan und die feste Umrissenheit des Auftretens, wie sie der objektiven Wahrnehmung eignet.

Ferngesichte bilden sich häufig aus Wölkungen, Nebeln, Lichtscheiben, hellen Punkten - typische Vorstufen von Halluzinationen, wie sie ja auch häufig in Kristallen geschaut werden, auf dunklen Spiegelscheiben und ähnlichen Beihilfen zur Erzeugung von Halbhypnose und Versinnlichung


Kap XLI. Rückschau.             (S. 421)

des Unterbewußten. Ferngesichte liegen, wenn sie da sind, nicht immer 'ordentlich' im Raume, viel mehr 'auf einer andern Ebene, als alles übrige Gesehene', in völlig unbestimmter, unbestimmbarer Entfernung, oder ' im Kopfe', sogar hinter dem Kopfe, werden irgendwo mehr 'gewußt' wie gesehen, und was dergleichen typische Paradoxien des Halluzinierens mehr sind. [1]

Wir haben diese Art der Lokalisiertheit schon bei den Erzeugnissen der Inschau bemerkt, und es ist eine Stütze der theoretischen Assimilierung des Nahhellsehens durch das Fernsehen, daß jenes auch sonst vielfach mehr die Art von aufsteigenden subjektiven (wiewohl wahren) Vorstellungen von andeutendem und umschreibendem Inhalt an sich trägt, als die Art von objektiven Wahrnehmungen der Wirklichkeit. [2]

Aber auch inhaltlich gleicht das wahre Hellgesicht mehr einem subjektiven Gespinst oder einem Traum, als direktem Wahrnehmen des Wirklichen. Oft nimmt. es z.B. die Form eines Dramas an, an welchem der Seher, sogar der Kristallseher, selbst lebhaft handelnd teilnimmt, so daß es etwa geschehen kann, daß der Seher 'im Kristalle' Flucht und Kampf durchmacht, die ihn völlig außer Atem bringen, [3] oder daß eine auf 'Reisen' Geschickte zusammenzuckt, weil sie sich 'unterwegs' einen Fuß vertritt oder ihr jemand aufs Kleid getreten ist. [4]

Das anscheinende Wachhellsehen ist hier eben gewissermaßen ein Wahrtraum in halbwachem Zustand und entspricht seiner Gestaltung nach durchaus dem dramatischen Nachttraum, der ja auch so häufig übernormal Erfahrenes halb phantastisch darstellt und doch Wahres mitteilt.

Wie wenn z.B. ein Perzipient den Tod seines verreisten Bruders in einem Traum erfährt, der ihn durch ein ihm fremdes Dorf an eine Gasthaustür führt, an der er u.a. nach seines Bruders Weib fragt und die Antwort erhält:

Nicht dessen Weib, sondern Witwe sei dort; wobei die mehr als telepathische Natur des Traumes darin angedeutet ist, daß das Traumbild von Dorf und Gasthaus sich später als wirklichkeitsgetreu erweist, obwohl beides dem Träumer bis dahin völlig fremd und der Bruder nur zufällig auf einer Reise dort gestorben war. [5]

Oder die subjektive Gestaltung des Ferngesichts erhellt daraus, daß zu dem unverkennbar Wahrgeschauten sich einzelne Entstellungen und Irrtümer gesellen, die augenscheinlich der persönlichen 'Masse' des Sehers entstammen, [6] ein Übelstand, der ja auch die überzeugendsten 'Sitzungen' guter hellsehender Medien immer wieder entstellt. [7]

[1] S. z.B. Mr. Thorpes Gesicht bei Gurney II 31 f. u. Mrs. Hollands Aussage Pr XXI 185.
[2] Man erwäge unter diesem Gesichtspunkt sorgfältig H.v. Gumppenbergs Ausführungen über 'Die Art der Wahrnehmung beim Hellsehen', in Die Kritik IV (1895) S. 1793ff., bes..797ff. (auch ÜW VI 140ff.). S. den Vergleich mit 'Träumen' bei Perty, M. E. I 332 (R. Görwitz).
[3] Vgl. den sehr interess. Fall bei Maxwell 195f. 'Lebensgröße' der Gesichte selbst im kleinsten Kristall: das. 194.
[4] S. den Fall bei du Prel, Entd. II 63.
[5] Die Verläßlichkeit des Berichts auch in dieser Einzelheit vorausgesetzt. - Gurney II 391. Vgl. das. Nr. 121 (E. J. Hector) und Pr XI 390f. (Mrs. Jeffries 'findet' im Traum einen Vermißten als Ertrunkenen).
[6] Vgl. o. S. 394, und etwa Pr VII 207ff.
[7] S. z.B. Pr XVII 97 (pipe); 108 (black dress); 126 usf.


Kap XLI. Rückschau.             (S. 422)

Aber der stärkste Beweis für die Subjektivität des Hellgesichtes, unbeschadet seiner Wahrheit, gründet sich auf die lockere Freiheit seiner zeitlichen Beziehungen zur dargestellten Wirklichkeit. Es ist in den früher gegebenen Beispielen schon aufgefallen, daß Hellgesichte nicht immer dem geschauten fernen Tatbestand oder Geschehen zeitlich parallel ablaufen, daß sie z.B. Augenblicke aus der Vorgeschichte eines gleichzeitigen Geschehens ebenfalls zur Darstellung bringen.

Sie enthalten also ein Element der Rückschau, vermittelst dessen sie dann zuweilen jenen schon angedeuteten Charakter des dramatischen Ablaufs gewinnen, dessen Beginn in der Wirklichkeit mitunter weit vor dem Beginn des Hellgesichts zurückliegt, während in anderen Fällen der ganze wirkliche Ablauf vor dem Ablauf des Hellgesichts vollendet ist. [1]

Eine Perzipientin z.B. (ich führe dies lediglich zur Verdeutlichung an) sieht einen erwarteten, aber ausbleibenden Freund in einer 'deutlichen Vision' an einem bestimmten Punkte der Stadt an einem 'zu vermietenden Hause' vorübergehen, seinen Zug und das Fährboot versäumen,

den Fluß in einem kleinen Boot überqueren, das steile Ufer emporklimmen und dabei straucheln, durch ein gepflügtes Feld eilen und den Zug dadurch an einer Seitenstation einholen; aber sie sieht es, nachdem die völlig richtig geschauten wirklichen Ereignisse kurz zuvor bereits abgelaufen sind. [2]

Man mag dies für eine in den genauen Einzelheiten phantastische Dramatisierung dürftiger telepathisch vermittelter Wissenselemente halten, ein Einwand, der mich indessen im Rahmen alles bisher Dargelegten und gleich Darzulegenden wenig wahrscheinlich dünkt. -

Aussichtsreicher konnte zuweilen die Annahme scheinen, daß der Akt des Hellsehens tatsächlich früher begonnen habe, als der Ablauf der Gesichte, aber zum Teil oder als Ganzes bis zum Beginn der Gesichte unbewußt geblieben sei.

In dem oben angeführten Falle der Schwägerin des Mr. J. B. Dyne z.B. ging der Tod des befreundeten Arztes der Wahrnehmung des Toten in dem kleinen fremden Hospitalzimmer um etwa 10 Stunden voraus, die Perzipientin aber hatte sich vom Erwachen an bedrückt gefühlt.

Hier ließe sich also annehmen, daß die hellsichtige Wahrnehmung in Wahrheit während des Schlafes der Perzipientin erfolgt sei, ihr Aufsteigen ins Bewußtsein aber während einer einsamen Nachmittagsruhe, wenn auch angeblich bei 'offenen Augen'. -

Ein anderer Fall, der ähnlich gedeutet werden könnte, ist der des Mr. J. Hunter Watts, der eines Morgens, während er sein Haar kämmt, sich bei dem Gedanken ertappt, 'es sei doch schade, daß (eine - wenn auch völlig wertlose - Gipskopie der Venus von Milo, die er im Garten stehen hatte,) durch den Wind in der Nacht heruntergeblasen und zerbrochen worden sei. ..

'Seltsam auch’, dachte ich bei mir, 'daß der Kopf so säuberlich abgeschlagen ist, obgleich (sie) der Fall sonst keinerlei Beschädigung verursacht hat. Dann gab ich mir im Geiste einen Ruck, denn plötzlich kam es mir zum Bewußtsein,

[1] APS VI 295ff. 302; Gurney I 202 (Nr. 24); 261 (Nr. 61); 263f.; II 601.
[2] Das. I 262 (Nr. 62); vgl. Esdaile 78-80.


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Kap XLI. Rückschau.             (S. 423)

daß ich geträumt hatte, und ich lächelte bei dem Gedanken, daß solch ein elender Kitsch der Gegenstand meiner Träume sein konnte.' Ein zufälliger Spaziergang in den Garten (weil das Frühstück noch nicht aufgetragen war) brachte aber zutage, daß der 'Traum' der Wirklichkeit genau entsprach. Jede normale Wahrnehmung aus dem Fenster oder während Nachtwandelns ließ sich ausschließen. [1]

Die Annahme der zeitweiligen Latenz hellsichtiger Wahrnehmung findet eine weitere Stütze in der gelegentlichen Beobachtung, daß ein rückschauendes Gesicht durch nachfolgende Gesichte Ergänzungen und Verdeutlichungen erfährt, [2] als gelänge die vollständige halluzinatorische Ausmünzung des in der Tiefe schlummernden Wissens erst nach und nach.

Anderseits muß jene Annahme offenbar um so willkürlicher und unwahrscheinlicher anmuten, je weiter sich der wirkliche zeitliche Ablauf des Geschauten in die Vergangenheit zurückerstreckt und je mehr erst der Zeitpunkt des Beginns des Schauens einen Anreiz zum Schauen überhaupt mit sich brachte, was offenbar besonders in experimentellen Fällen hellsichtiger Rückschau der Fall ist.

Eine Hellsichtige z.B., Fräulein Eliza Dixon, wurde aufgefordert, einen verlorengegangenen goldenen Manschettenknopf zu finden; sie sah daraufhin die Vorgänge, die zu dem Verschwinden des Gegenstandes geführt hatten, in einer Reihe von Bildern, die ihr die Ereignisse mehrerer Tage wiederzugeben schienen.

Sie durchwanderte schauend das Haus, beschrieb die Möbel, die Lage des (inzwischen gefundenen, aber unberührt gelassenen) Manschettenknopfes in einem Schubfach, dann den Knaben, der den Gegenstand dorthin gelegt hatte, die Ortsbewegungen des Knaben, während er den Gegenstand versteckte, hörte dann ein Gespräch zwischen Mutter und Söhnen, das Suchen der Eltern nach dem Gegenstande...

Dann sagte sie: 'Jetzt ist es wie der nächste Tag, die Magd sucht unter dem Teppich, usw , jetzt scheint wieder ein neuer Tag zu sein, der kleine Knabe ist wieder in der Kinderstube, er hat den Manschettenknopf aus dem Spielelephanten genommen (in den er ihn zwei Tage vorher durch ein in die Brust gerissenes Loch hineingelegt haben sollte), jetzt hat er ihn in jenes Schubfach geworfen. . .' -

Soweit diese Angaben sich nachprüfen ließen, waren sie bis ins kleinste richtig, einschließlich sogar der Beschädigung des Spielzeugs, obgleich die Hellsehende nie das Haus betreten hatte, das sie nebst Insassen beschrieb. [3]

In den umfangreichsten typischen Gruppen von Rückschauleistungen kommen Ausflüchte wie die angedeuteten nicht mehr ernstlich oder schlechterdings nicht mehr in Frage. Das 'psychometrische Lesen' von Gegenständen [4] fördert meist eine Fülle von Wissen über die Geschichte des Gegenstandes, seiner Besitzer und anderer zu ihm in Beziehung stehender Persönlichkeiten zutage, wobei es lächerlich wäre anzunehmen, der 'Psychometer' habe alles dieses Geschaute unbewußt hellsichtig miterlebt,

[1] Ähnlich zu erklären vielleicht der Fall Pr XI 378f.
[2] S. z.B. Pr XI 134 unten.
[3] Pr VII 66f. Mischung von Erfahren des Gleichzeitigen und Kurzvergangenen auch Pr VII 206 oben.
[4] Neuerdings auch Psychoskopie genannt.


Kap XLI. Rückschau.             (S. 424)

während es geschah, oder die ihm meist unbekannten Teilnehmer an jenen Geschehnissen hätten sie ihm gleichzeitig telepathisch mitgeteilt. [1]

Ich wähle ein Beispiel aus der Erfahrung einer nicht-gewerbsmäßigen Hellseherin, die uns in anderen Zusammenhängen schon begegnet ist. Frau K. E. Henry-Anderson, während eines längeren Besuches in der Eingangshalle des betreffenden Hauses allein gelassen, bemerkte eine kleine rötlichbraune Elfenbeinschachtel, von der auf sie, sooft sie die Hand danach ausstreckte, ein 'fast Übelkeit erregendes Gefühl des Widerwillens und Grauens' ausging, wie sie es 'nie zuvor gefühlt'.

'Ich glaubte leise flüsternde Stimmen zu hören und eine wogende Menge von Gesichtern zu sehen, welche Schrecken und Furcht ausdrückten.' Seltsam gefesselt und abgestoßen zugleich, blickte sie minutenlang auf die Schachtel, ohne sie zu berühren.

Hierzu entschloß sie sich erst abends nach einem Gespräch mit der Wirtin, bei der sie sich nach der Geschichte der Schachtel erkundigte, von der jene aber nichts zu wissen behauptete; doch versprach sie, der Hellseherin nach einem 'Versuche' mit der Schachtel zu sagen, wer ihr diese gegeben und woher sie stamme.

Frau H.-A. nahm also die Schachtel in beide Hände und schloß die Augen. 'Augenblicklich war ich in ein fernes Land entrückt. Ich sah, wie die heiße afrikanische Sonne (ich fühlte, wußte, daß sie es sei) auf eine Stadt der Wilden herabbrannte.' Sie sah lange, niedrige Hütten, Palmdächer, Palmen und Sand.

'Das Bild verschob sich ein wenig und gerade vor mir sah ich ein langgestrecktes, niedriges Gebäude mit Pfeilern aus Palmbaum.. .und hinter den Pfeilern einen merkwürdigen Zaun, seltsam aus einander kreuzenden weißen Dingen hergestellt. Ich richtete mein geistiges Schauen angestrengt auf diese Hecke, und mit einem Ausruf der Furcht und des Schreckens sagte ich:

Es sind Knochen ! Große Knochen ! Hinter diesen schaute ich etwas, was wie ein Altar aussah, auf welchem undeutlich zwei mächtige Hörner sichtbar waren. Das Gesicht schwankte wie ein Lichtbild und vom Hintergrunde her erschien die groteske Gestalt eines großen Mannes, angetan in Scharlach und Gelb.' Dieser stellte sich zur Linken des Altars auf und sie sah in seiner Rechten ein eigentümliches Schwert, das sie näher beschreibt.

Die sich bewegenden Augen in seinem grausamen Gesicht waren auf die Seherin gerichtet. Hinter ihm erschienen andere, undeutliche Gestalten. - Die Schachtel stammte letzten Endes aus Benin und war der Besitzerin geschenkt von einem der ersten Europäer, welche die Stadt nach ihrer Einnahme betreten hatten. Sie bestand aus einem Stück eines Elephantenstoßzahnes, den jener von dort mitgebracht.

Zwei Tage später traf die Besitzerin diesen Geber 'zufällig', erzählte ihm das Gesicht und erfuhr, daß jener Zahn eines der Hörner des Opferaltars des Tempels in Benin gewesen, den die Seherin genau beschrieben hätte. Der Altar war umgeben von einem Zaun, bestehend aus menschlichen Arm- und Beinknochen, und in jenen Zahn 'waren zahllose Darbringungen menschlichen Blutes gegossen worden.' [2]

Der psychometrische Gegenstand kann aber, und augenscheinlich mit Vorteil, durch die lebendige Anwesenheit eines Menschen ersetzt werden, dessen dem Seher unbekannte Vergangenheit dann den Inhalt der aufsteigenden Rückschaugesichte liefert. Auch gewerbsmäßige Medien

[1] Beispiele etwa Pr XVII 212; XXI 257f.; 329ff.; APS V 43.
[2] OR 195 I I35ff. Vgl. PS XXVIII 405; Haddock 140ff.


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Kap XLI. Rückschau.             (S. 425)

verzichten ja auf Objekte, wenn sie statt dessen z.B. die Hand ihres Kunden fassen können.

Zschokkes Gabe dieser Art, von der er in seiner Selbstbiographie eingehend und ziemlich kritisch berichtet, ist sehr bekannt, und ich mache daher nur auf die wichtigsten Einzelheiten ihres Auftretens aufmerksam. Er betätigte sie, völlig ungesucht, selbst bei ersten Begegnungen mit völlig Fremden und ihm 'höchst Gleichgültigen', zu seinem eigenen Erstaunen, ja 'geheimen Schauder', und hatte nie einen Nutzen von ihr.

Die Einsicht in das vergangene Leben seiner Subjekte kam zu ihm als 'Bild', das 'mit vielen einzelnen... Umständen, einem Traume gleich, aber deutlich, zusammenhängend. . ., einige Minuten dauernd, an mir vorüberzog'. In einem ausführlicher von ihm berichteten Falle schloß es z.B. 'eine kleine Spitzbüberei (ein) welche (das Subjekt, ein junger Mann,) an der eisernen Geldkasse seines Lehrherrn begangen hatte.

Ich beschrieb das unbewohnte Zimmer mit seinen weißen Wänden, in welchem rechts von der braun angestrichenen Tür der kleine schwarze Geldkasten auf dem Tisch gestanden habe usw.' Gerade in solchen 'Nebendingen' des Schauplatzes, der Kleidung usw. will er verschwenderisch gewesen sein, und 'bei jeder Gelegenheit', wenn er seine Angaben nachgeprüft, hätten sie sich durchweg bestätigt.

Während des Schauens versank er, bis er schließlich das Antlitz seines Subjektes nicht mehr deutlich wahrnahm, 'obgleich ich es, wenn auch vergeblich, anblicke', auch die Stimme nicht mehr deutlich vernahm, 'die ich doch anfangs als einen Kommentar zu dem Texte seiner Physiognomie benutzte'.

In den letzten Jahren seines Lebens habe sich diese Gabe nicht mehr geäußert. [1] - Sie ist übrigens keineswegs ganz selten. Zschokke selbst will einen alten TiroIer gekannt haben, der sie besaß. Frau Henry-Anderson, von der soeben die Rede war, beansprucht sie für sich als ständige Begleiterin und beschreibt sie in durchaus ähnlicher Weise.

'Hinter den Leuten, die ich beobachte, erblicke ich einen dünnen weißen Nebel, auf dessen Oberfläche in den Farben des Lebens ein Drama abläuft, ein lautloses Theaterstück, dessen Sinn mir durch einen andern Sinn als Gehör oder Gesicht zukommt,. ... denn die Gedanken der Spieler mit all ihrem geheimen Hin- und Widerspiel liegen mir so offen, wie die meines eigenen Gehirns.' Untersuchung erweise stets die Wirklichkeitstreue dieser Bilder. [2]

Aber die Ansprüche der Psychometer reichen weiter zurück als das Leben ihrer Zeitgenossen. Es gibt viel zitierte Berichte, nach denen der Seher an irgendeiner geschichtlichen Stätte plötzlich den Raum erfüllt sieht von Gestalten in altertümlicher Tracht, die ein Schauspiel aufführen, wie es der Ort gesehen haben mag oder nachweislich gesehen hat. [3]

Um die Deutung solcher Erlebnisse als halluzinatorischer Ausgestaltung geschichtlichen Wissens (wenn auch 'unbewußten') auszuschließen, müßte natürlich das Fehlen solchen Wissens erwiesen werden - ein negativer Beweis, der kaum jemals zu führen sein wird.

[1] H. Zschokke, Eine Selbstschau (Aarau 1843) 227-9.
[2]) OR 1905 II 68. Ganz ähnlich Miss Goodrich-Freer, z.B. Pr XI 125; Gurney I 238 (C. B. Morse); II 356-8; d'Espérance 117ff.; Wyld 174; RPJ 16. Aug. 1879; Daumer II 49; Pr VII 56, 3. Abs. (Jane).
[3] S. z.B. das Gesicht des Regierungspräs. v. Oerz, bei Hennings 624; vgl. Horst Deut. I 113.


Kap XLI. Rückschau.             (S. 426)

Ich will daher zur Verdeutlichung nur ein Beispiel anführen, aus der sehr reichen seherischen Erfahrung der Miss A., einer hochstehenden englischen Dame, für deren persönliche Glaubwürdigkeit Myers selbst aus nächster Bekanntschaft bürgte.

Am 23. Febr. 1890 befanden sich Miss A. und Lady Radnor in der Hungerford-Kapelle der Kathedrale in Salisbury, als Miss A. folgende Szene sah, die ich nach Lady Radnors Bericht kurz andeute:

Ein hoher Stuhl, der die Aussicht den Chor hinab behindert - allmähliches Hereinströmen von Klerikern u.a. - ein stattlicher Mann schreitet langsam herein, angetan in Rot und Weiß mit Spitzenüberwurf, glatt rasiert, mit wenig gelocktem Haar und blaugrauen Augen –

Andere in prächtigsten Gewändern - zahlreiche Knaben in Rot und Weiß und Spitzen, Kerzen und Bücher haltend - die Hauptperson kniet mit westwärts gekehrtem Gesicht einige Zeit vor dem Stuhl, den darauf zehn Knaben aufheben und vor den Altar tragen, worauf die Hauptperson zwei Schritte altarwärts tut und sich nach Osten kehrt - sie kniet wieder nieder und der prächtigst Gekleidete der andern Geistlichen setzt ihr eine Mitra aufs Haupt.

'Miss A. fragte, was sie sehe, und die Antwort kam in Klopftönen [1]: 'die Einführung des Briant Uppa'. Da die Möglichkeit eines solchen Namens bezweifelt wurde, ergab ein zweiter Versuch: 'Du irrst dich. Es ist Duppa, nicht Uppa. Brian Duppa.' Frage: Wer war Brian Duppa? Antwort: 'Chister.'

Frage: Was war er? Antwort: 'Bischof hier.' - Wann? - '44-16. Seine Forschungen würden dir helfen. Manuskripte müssen in Winchester liegen.' - Am Abend nahm Lady R. Brittons 'Geschichte (der Grafschaft) Wiltshire' zur Hand, um sich über den Bischof zu unterrichten. Die Seiten, auf denen die Namen der Bischöfe standen, waren unaufgeschnitten, sowohl am äußern wie am obern Rande.

Ich schnitt sie auf und... wir fanden auf S. 149: 'Brian Duppa oder De Uphaugh, D.D. .,. Erzieher des Prinzen Karl ... auf dem Stuhl von Chichester (vgl. oben Chister) ... Bischof von 1641 ...' Er soll Karl I. bei der Abfassung von dessen Buch Eikon Basilike geholfen haben, ein Buch, welches Miss A. einige Tage zuvor in meinem Boudoir angesehen hatte, welches aber ihn selbst oder seinen Namen nirgends erwähnt.'

Lady R. stellt außerdem fest, daß die Lage des Altars, wie sie von Miss A. gesehen wurde, zwar von der gegenwärtigen abwich, aber mit der geschichtlich nachweisbaren früheren übereinstimmte. [2]

Andere Hellseher geben uns ausführliche Schilderungen Pompejis, seiner Umgebung und seines Lebens, unter der Anregung einiger Reliquien aus jener Stätte versunkener Herrlichkeit. Ja selbst in vorgeschichtliche Zeiten entführen uns die Psychometer, und wir vernehmen z. B. Schilderungen von Jagden langhaariger Menschen niederer Rasse auf Riesenelephanten während des Donners eines Vulkanausbruchs, angeregt durch ein Elfenbeinbruchstück aus Kalifornien, das 20 Fuß tief in Lava gebettet gelegen hatte. [3] -

Hier verlieren wir uns nun freilich nicht nur ins gar nicht Nachprüfbare und telepathisch Verdächtige, sondern auch ins Phantastische. Doch verzichte ich solchen und ähnlichen Berichten gegenüber nicht

[1] Eine buchstabierende Sprache des Unterbewußten, deren Natur uns hier nicht zu beschäftigen braucht.
[2] Uphaughspr. : Up'á. D.D. = D.Theol. - Pr VIII 508f. Vgl. die Fälle das. 506f., 509, 5I0ff.
[3] Aus Dentons Soul of Tbingsin Sphinx Xl  26.


Kap XLI. Rückschau.             (S. 427)

nur auf jede klare Aussiebung des etwa Wahrgesehenen, sondern auch auf jede Sicherung dieses Elements gegen den 'telepathischen Verdacht', ja selbst auf Erwägung der Verläßlichkeit der Berichte an sich.

Der Grund für diese Gleichgültigkeit liegt darin, daß ich im Begriff stehe, die zur Erörterung stehende 'lockere Freiheit der zeitlichen Beziehungen des Hellsehers zur dargestellten Wirklichkeit' auf einem sehr viel bedeutsameren Gebiet zu erweisen, dessen gründlichere Behandlung den anscheinenden Fällen von Rückschau ihre Beweislast größtenteils abnehmen wird.

Geht es doch in metapsychischer Forschung vielfach so, daß der verbleibende Zweifel an einem gewissen Typ des Geschehens alsbald untergeht in den Beweismassen eines noch schwerer glaublichen Typs, zu dessen Bekämpfung uns nur die Zugestehung des eben noch bezweifelten befähigt.

So wehrt sich der Zweifler gegen die Tatsache des Hellsehens, indem er die der Telepathie voraussetzt, die er zuvor in Frage stellte. Und ebenso wird er froh sein, sich auf Hellsehen, und darunter auch auf Rückschau, als Abwehrmittel berufen zu dürfen, wenn ihn die nunmehr zu wägenden Tatsachen zwingen wollen, die zeitliche Freizügigkeit des Hellsehens auch in die Zukunft greifen zu lassen.

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