Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XXXII. Psychanalytische Kritik der automatistischen und visionären Offenbarung.              (S. 304)

Es ist wiederum die Psychanalyse, der wir den Versuch verdanken, eine solche Urzeugung religiöser Begriffe aus den Grundtrieben und -vorgängen des kaum-bewußten Seelenlebens abzuleiten. Die größere psychologische Tiefenlage dieses Versuches ist unverkennbar.

Das Erzeugnis der Mythendichtung soll hier nicht bloß als äußere Zutat zum heißen Leben der Triebe dastehen, wie es nach der landläufigen Auffassung beinahe den Anschein hat, es soll vielmehr als unmittelbarer und unwillkürlicher Ausdruck jener Triebe gedeutet werden, ein Ausdruck, der darum auch in jeder mystischen Seele aufs neue erzeugbar ist.

Das ganze Leben mystischen Schauens soll etwa als Sublimierung des verdrängten kindlichen 'Schautriebs' erwiesen werden. [1] Die psychanalytische Theorie der religiösen Weltanschauung verkündet es eben als wichtigste Entdeckung, daß gewisse Symbole unabhängig von jeder Überlieferung der unbewußt

[1] So insbes. A. Kielholz, Jak. Boehrne. Ein pathograph. Beitrag... (Lpz. u. Wien 1919)  88 u. sonst.


Kap XXXII. Psychanalytische Kritik der automatistischen und visionären Offenbarung.              (S. 305)

träumenden Seele jederzeit in gleicher Weise kommen. Zu diesem Satz gelangt sie durch die Beobachtung der Ähnlichkeit zahlreicher Symbole des Traumes und des Wahnsinns mit abergläubischen und primitiv-religiösen Vorstellungen, mit Mythen und Märchen, selbst wo von einer Anregung des Träumers oder Irren durch diese keine Rede sei.

Auch die Mythen, die ja schon Freud als die 'Säkularträume der jungen Menschheit' bezeichnete, [1] und die Träume, die seine Schüler den 'Mythus des Individuums' nannten, [2] übersetzen ja, nach psychanalytischer Lehre, ganz ungesucht und unbewußt die unterdrückten Wünsche - des Einzelnen oder des Volks - in die Sprache anschaulicher Symbole.

Im Traum sind diese Symbole zwar vielfach nur durch Rückgriff auf individuelle Erlebnisse, Denkgewohnheiten usw. zu durchschauen, doch weist auch die psychanalytische Traumdeutung auf eine ganze Reihe von gleichsam natürlichen, daher immer wiederkehrenden, mehr oder minder allgemeinmenschlichen Symbolen hin. [3]

In der Traumdichtung der Völker, dem Mythus und Märchen, können natürlich nur Symbole von allgemeiner Geltung und also allgemein gefühlter Verständlichkeit sich halten, was ja u.a. in der Tatsache der überall und immer wiederkehrenden mythologischen Motive zum Ausdruck kommt.

Ein Sonderfall des Mythus aber ist im Sinne dieser Forschung die Religion als Weltanschauung, der offenbar - falls man sie überhaupt vom Mythus trennen mag - die allgemeineren, höheren und seelisch intimeren mythischen Gebilde zuzuzählen sind.

Auch Religion ist wesentlich 'in die Außenwelt projizierte Psychologie', die 'Spiegelung' einer 'dunklen Erkenntnis... psychischer Faktoren und Verhältnisse des Unbewußten'. [4] Die Hysterieforschung hat hier, auf dem Wege über die Traumforschung, mit innerer Notwendigkeit den Zugang zur Mythen- und Sagenforschung, und weiter zur Religionswissenschaft gefunden.

Und erst in diesem durchgehenden Zusammenhang erweist sich die ganze Fruchtbarkeit ihres Anspruchs, das Wesen des Jenseitigen zu deuten, denn es sind ja dieselben Grundbegriffe der Introversion und Regression, die sowohl das veränderte Gefühlsleben des Mystikers, als auch seine scheinbare neue Erkenntnis erklären sollen, - indes der naive Realismus des Religiösen jene Wandlungen seines Fühlens durch die Wirklichkeit der Gegenstände seiner vermeintlichen Erkenntnis erklären will.

Es mag an einigen Einzelbeispielen verdeutlicht werden, in welcher Art die Psychanalyse die religiösen Symbole (also auch Offenbarungsinhalte) auf ihre Wurzeln zurückführt.

Wir entsinnen uns, daß nach der Ansicht dieser Schule die Introversion, d.h. die Abkehr von der äußeren Welt und Hinwendung zu den Freuden des seelischen

[1] Samml. kl. Schrift. z. Neurosenlehre II 205.
[2] K. Abraham, Traum u. Mythus (Lpz. u. Wien 1909) 71; O. Rank, Der Künstler... (1907) 36; ähnlich Riklin, Spielrein (JPPF III 397) u. a. m.
[3] Vgl. z.B. Stekel, Die Sprache des Traumes (Wiesb. 1911);
[4] So programmatisch gefordert schon von Freud (Psychopathol. des Alltagslebens, 3. Aufl. 134).


Kap XXXII. Psychanalytische Kritik der automatistischen und visionären Offenbarung.              (S. 306)

Binnenlebens, stets mit Regression verbunden ist, d.i. mit einem Zurückgreifen auf die seelischen Arbeitsweisen (Anschauen, Halluzinieren), sowie auf die Lustbetätigungen, die Wünsche und Interessen der Kindheit. Unter diesen aber stehen die 'inzestuösen' an erster Stelle, d.h. - möglichst allgemein gesagt - die Anknüpfungen des Lebenstriebes, wenn auch nicht gerade der Geschlechtsbegierde, an die Eltern.

Als 'Imagines', d.h. dem Bewußtsein entzogene und daher unzerstörbare Bilder der Gegenstände frühester Liebe oder frühesten Lebensinteresses, als affektstarke 'Komplexe' wirken die Eltern gestaltend ins spätere Leben hinein fort, [1] übermächtig vor allem in dem Neurotischen, der sich nicht von ihnen ablösen kann zugunsten selbständiger Zukehr zum Leben.

Im religiösen Menschen sind also diejenigen Triebkräfte wirksam, 'die in der Kindheit der inzestuösen Verwendung durch das Dazwischentreten der Inzestschranke entzogen werden und die besonders in der Pubertätszeit infolge libidinöser Zuschüsse (aus) der noch unvollständig verwendeten Sexualität [2] zu ihrer eigenartigen Tätigkeit geweckt werden...

Die Urgewalt, ... das Bedingungslose und Unerbittliche, Ungerechte und Übermenschliche (der Gottesvorstellung) sind echte und rechte Attribute der Libido, die uns ins Leben hineinführt, die den Armen schuldig werden läßt, und gegen die der Kampf vergeblich ist'. 

Noch deutlicher eine Ableitung der Vater-Imago ist die Vorstellung der Gottheit als männlicher, schöpferischer, auch als furchterregender, zornig verfolgender, wie sie z.B. im Alten Testament vielfach wirksam ist, während ihre Liebe-Seite, 'das liebende Väterliche', mehr dem Neuen Testament die Färbung gibt. [3]

Die Gestalt des Heilandes und Erlösers scheint dem Psychanalytiker vornehmlich als Gegenstand der Übertragung verdrängter Libido zu gelten. Er 'trägt unsere Schuld', ist dabei selbst aber schuldlos und ein sich selber Opfernder. Verstehe ich Jung recht, [4] so soll damit eben eine Entlastung (durch eine Art von Abschiebung) von jenem Libidobetrag erzielt werden, den der Einzelne als Schuld empfinden müßte, falls er ihn sich bewußt werden ließe, anstatt ihn eben zu verdrängen.

Denn 'die Sehnsucht der zum Gott erhobenen (ins Unbewußte verdrängten) Libido ist (ja) ursprünglich sog. inzestuöse, die der Mutter gilt'. Hierdurch bestimmen sich auch weitere Eigentümlichkeiten der Erlösergestalt, z.B. die deutlich durchscheinende 'Weiblichkeit' ihres Wesens.

'Durch den Verzicht auf die Männlichkeit gegenüber der ersten Geliebten, nämlich der Mutter, tritt das feminine Element mächtig hervor, daher jener stark androgyne Charakter der sterbenden und auferstehenden.Gottheilande. [5] 

Daß (ferner) diese Heroen fast immer Wanderer sind (Gilgamesch, Dionysos, Herakles, Christus, Mithras u.a.), ist ebenfalls ein psychologisch klarer Symbolismus: das Wandern ist ein Bild der Sehnsucht, des nie rastenden Verlangens, das nirgends sein Objekt findet, denn es sucht die verlorene Mutter, ohne es zu wissen. Endlich ist das tragische Schicksal des Heilands, besonders sein Kreuzestod, in mehrfacher Hinsicht Symbol des verdrängten Urtrieblebens.

Schon das Schweben (am Kreuze) hat Symbolwert, es deutet den unerfüllten Wunsch an, weshalb Christus, Odin, Attis, Manu, Marsyas an Bäumen hangen. [6] Der Baum aber, der Lebensbaum, mit dem ja das Marterkreuz so vielfach in religiöser Symbolik zusammengestellt wird, ist wiederum ein 'mütterliches

[1] Begriffsbestimmung, mit geringer Erweiterung, nach Silberer 143 Anm.
[2] Jung, Libido I 178.
[3] Das. 164. 177.
[4] Das. 180.
[5] Das. II 249.
[6] aaO. IV 411 Anm. 2. Jung erinnert an das 'Hangen und Bangen in schwebender Pein'.


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Kap XXXII. Psychanalytische Kritik der automatistischen und visionären Offenbarung.              (S. 307)

Symbol', scbon als 'fruchttragender Stammbaum'. [1] Eben darum eignet er sich als Schauplatz des erlösenden Todesopfers, [2] denn durch Opferung des Inzestwunsches (an Stelle der ursprünglichen Überwältigung der Mutter!) hofft der Mensch das ewige Sonnenleben zu erreichen. [3]

Diese geschlechtliche Bedeutsamkeit des Baum-Kreuzes spricht sich daneben auch noch in der phallischen Bedeutung beider aus. Wie schon in Träumen der Wald einen mütterlichen, so hat der Baum als solcher oft einen phallischen Sinn. [4] Das Kreuz vollends - die crux ansata – symbolisiere 'Leben' und 'Fruchtbarkeit', die Vereinigung, die wir als cohabitatio mit der Mutter zum Zwecke der Wiedervereinigung ansprechen dürfen. [5]

Diese Bedeutung des Kreuzes findet Jung durch seine Verwendung im Sonnenkult, wie in dem der Liebesgöttinnen bestätigt. Nach einer orientalischen Legende lag in den Zweigen des verdorrten Baumes im Paradiese nach Adams Vertreibung ein Kind: 'die Mutter,' schließt Jung, 'war schwanger geworden.' [6] Der von der Schlange umwundene Baum ist die vom Widerstand gegen den Inzest verteidigte Mutter. [7]

Diese fortwährende Betonung des Inzestwunsches als Deutungsmittel mag manchem nicht nur anstößig, sondern auch einseitig beschränkt erscheinen. Indessen darf die abschwächende und damit auch vertiefende Verallgemeinerung nicht vergessen werden, die Jung diesem Begriff, wie ja dem der Libido überhaupt, angedeihen läßt, wonach jener geradezu nur mehr 'das in die Kindheit Rückstrebende' bezeichnet. [8]

Diese Kindheit aber ist, wenn auch natürlich nicht verbrecherisch bis zum 'Inzest' an der Mutter und 'Mord' am Vater, so doch amoralisch, im Sinn eines völlig naiven Egoismus. Das kleine Kind schon erlebt, wie wir heute wissen, periodische Schübe 'sexuell betonten Fühlens dem Weibe gegenüber', [9] d.h. eines Begehrens oder erotischen Für-sich-haben-wollens.

'Den Typus des begehrenswerten Weibes gibt notgedrungen ein in der Nähe vorhandenes Weib ab, insbesondere die Mutter. Insofern in der Liebe zur Mutter der Vater als Hindernis empfunden wird, muß er in der elementaren Tendenz zur Beseitigung des Hindernisses getötet werden.'

Dies ist jener schon erwähnte Oedipus-Komplex der Psychanalytiker, der zu so vielen Mythen Anlaß gegeben haben soll, aber auch viel von seiner Schrecklichkeit verliert, wenn man die naive Bedeutung dieses 'Tötens' als Beseitigens, Weghabenwollens bei einem Kinde bedenkt, das ja vom Tode überhaupt noch keinen deutlichen Begriff hat. [10]

'Die unterste Grundlage (des) inzestuösen Begehrens läuft (also) nicht auf die Kohabitation, sondern auf den eigenartigen Gedanken hinaus, wieder Kind zu werden, in den Elternschutz zurückzukehren, in die Mutter hineinzugelangen, um wiederum von der Mutter geboren zu werden.' 'Es ist nicht die inzestuöse Kohabitation, die gesucht wird, sondern die Wiedergeburt, zu der man allerdings am ehesten durch Kohabitation gelangen könnte.' [11]

Gegen den Inzest steht das Inzestverbot auf, 'daher nun die Sonnen- oder Wiedergeburtmythen von allen möglichen Vorschlägen wimmeln, wie man den Inzest umgehen könnte'. Durch solche Ersatzphantasien kann sich dann die Libido betätigen und wird doch 'auf unmerkliche Weise geistig.

Die Kraft, die stets das Böse will, schafft so geistiges Leben'. [12] Und eben diese förderliche Übersetzung in Symbole ist das Wesen der Religion. 'Denke symbolisch, sagt Jesus gewissermaßen zu Nikodemus, dann bist du Geist.' [13] So kann die Libido, die untätig im

[1] Das. 513. 262.
[2] Vgl. noch das. IV 443.
[3] Das. 307.
[4] Das. 264f.
[5] Das. 513.
[6] Das. 293.
[7] Das. 305.
[8] Das. 279 Anm. 2; 314. Vgl. o.S. 251f.
[9] Silberer 166.
[10] Das.
[11] Jung, aaO. IV 267.
[12] Das. 268.
[13] Das. 269.


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inzestuösen Wunsch gebunden liegt, unterdrückt und in Angst vor dem Gesetz und dem rächenden Vatergott, durch das Symbol der Taufe (Geburt aus dem Wasser = Mutter) und der Zeugung durch Ausgießung des heiligen Geistes, hinüber in die Sublimierung geleitet werden.

So wird der Mensch wieder ein Kind (daher die starke Betonung der Kindschaft im N.T.) und hineingeboren in einen Geschwisterkreis, aber seine Mutter ist die 'Gemeinschaft der Heiligen', die Kirche, und sein Geschwisterkreis die Menschheit, mit der er im gemeinsamen Erbteil uralter Symbole sich aufs neue verbindet.' [1]

So gefaßt, erweist sich die Idee der Wiedergeburt als verwandt dem Sonnenmythus, den ja schon frühere Forschung den Mythen vom Erlöser angenähert hatte. 'Die Sonne geht zeitweise unter, stirbt aber nicht. Sie verbirgt sich im 'Schoße' des Meeres oder in einer unterirdischen Höhle...

(Sie) kehrt in den Mutterschoß zurück und wird nach einiger Zeit wieder geboren. Natürlich ist dieser Vorgang eigentlich eine inzestuöse Handlung, wovon auch mythologisch noch deutliche Spuren erhalten sind, nicht zum mindesten in dem Umstande, daß die sterbenden und wiedererstehenden Götter die Liebhaber der eigenen Mutter sind, resp. sich durch die eigene Mutter hindurch erzeugt haben. [2]

Ebenso aber eröffnet sich hier angeblich ein Zugang zum Verständnis des Zusammenhangs von Wiedergeburt und Unsterblichkeit, denn die Sehnsucht, durch Rückkehr in den Mutterleib die Wiedergeburt zu erlangen, ist eine Sehnsucht, der ewig untertauchenden und wiedergeborenen, also unsterblichen Sonne gleich zu werden. [3]

Überdies: die Sonne, das Feuer, das Licht sind Libidosymbole, die Libido aber ist unser Unsterbliches, 'jenes Band, durch welches wir uns als nie erlöschend in der Rasse fühlen'. [4]

Ist hiermit die psychanalytische Auslegung der hauptsächlichen göttlichen Personen und sakramentalen Vorgänge angedeutet, so ergibt sich die Erklärung der hauptsächlichen jenseitigen Orte gleichsam von selber. Daß das Paradies die verlorene Kindheit oder den Mutterschoß als Ziel der introvertierten Sehnsucht mythisch veranschaulicht, ist selbstverständlich; inmitten des Paradieses steht ja der 'Baum', den wir bereits als die 'Mutter' kennenlernten.

Mütterliches Symbol ist aber auch das himmlische Jerusalem, wie überhaupt 'die Stadt', als 'Weib, das die Bewohner wie Kinder in sich hegt'. [5] Daher tragen die Muttergöttinnen, Rhea und Kybele, die Mauerkrone und wird die Stadt als die 'himmliche Braut' bezeichnet. [6]

Muttersymbol ist aber vor allem auch die Unterwelt; sie bedeutet, 'mythologisch betrachtet, nicht nur das Land, wohin die Sterbenden gehen, sondern auch woher die Lebenden gekommen sind, also für den Einzelmenschen... den Uterus der Mutter,' [7] der Abstieg in die Unterwelt demnach den Gang zu den 'Müttern'.

Ich habe im Vorstehenden nur für einige der religiösen Symbolbegriffe die psychanalytische Rückführung auf jene 'seelischen Grundkräfte' angegeben, 'mit denen wir alle ausgerüstet sind und deren typische Symbole deshalb allgemeine Geltung haben'. [8] Eben jene wurzelhafte Beziehung zu letzten Grundkräften - man kann vielleicht auch sagen:

[1] Das. 270.
[2] Christus, Mithras - Sonnengötter. Das. II 236f.
[3] Das. II 256.
[4] Das. II 245; I 199.
[5] Vgl. Jesaja 47. 1ff.
[6] Jung, aaO. IV 251. Vgl. Offb. Joh. 21, 2f. 9ff. Jung beruft sich auch auf Gal. 4. 26ff;
[7] Silberer 45; vgl. Jung. aaO. IV 335.
[8] Silberer 160.


Kap XXXII. Psychanalytische Kritik der automatistischen und visionären Offenbarung.              (S. 309)

Verhaltungs- oder Einstellungsweisen der triebhaften Persönlichkeit - würde es nun aber verständlich machen, wenn jene Symbole nicht bloß einmal in den Urzeiten der Mythenbildung, sondern dauernd immer wieder dem anschaulichen Symbolschaffen des Einzelnen sich aufdrängten. [1]

Damit wäre natürlich die vielfache Übernahme der Symbole aus dem Strom der Überlieferung nicht ausgeschlossen, sie erschiene nur, statt als ein soz. äußerlicher Vorgang, als ein innerlich vorbereiteter, in wesentlichen Neigungen des nachgeborenen Einzelnen angelegter.

Es muß nun aber weiter darauf verwiesen werden, daß zu diesen allverbreiteten Symbolbildern eine unübersehbare Zahl von solchen tritt, die mehr oder minder die Symbolsprache des Einzelnen darstellen, und erst hier würde sich die volle Anwendbarkeit der psychanalytischen Methode auf die unterbewußte Erzeugung von Offenbarungen erschließen.

Reich wie der Traum an Ausdrucksbildern ist auch das ekstatische Schauen oder das automatistische Lehren. Und wenn auch ihre analytische Deutung in vielen Fällen schon darum versagen dürfte, weil uns die Einsicht in die individuelle Erzeugung fast völlig fehlt, so läßt doch schon ein Blick in die wenigen früher angeführten Beispiele herausfühlen, ein wie reiches Feld möglicher Betätigung hier des Analytikers harrt.

In mehreren der obigen Beispiele ist überdies die Angstneurose, also ein viel erörtertes sexuales Abwehrsymptom deutlich gegeben. [2] In den kosmischen Gesichten der hermetischen Theosophin Anna Kingsford finden wir deutliche Bezüge auf ihre eigene zwiegeschlechtige Charakterveranlagung: Adonai erscheint ihr als männlich-weiblich, als ewiger Jüngling, Maria, Aphrodite und Gott fließen ihr in eins. [3]

Die Anwendbarkeit psychanalytischer Grundsätze auf die mystischen Offenbarungen erschöpft sich aber auch hiermit noch nicht, ist doch die Psychanalyse selbst in zunehmender Fruchtbarkeit über ihre anfänglichen Stellungen hinausgewachsen.

Dem kundigen Leser fallen in religiösen Offenbarungen zahlreiche Elemente von jener Art auf, die der Psychanalytiker als funktionale Symbole bezeichnet, d.i. Symbole, welche 'den Zustand, die Struktur oder die Leistungsfähigkeit des eigenen Bewußtseins' des Schauenden ausdrücken, [4] nicht also das Material, die Inhalte des bewußten oder unbewußten Erlebens, sondern nur die Art und Weise, in welcher das Bewußtsein funktioniert.

Diese funktionalen Symbole gehen unmerklich über in andere, die man ebenso treffend als programmatische bezeichnet hat, [5] indem sie das nur als möglich Vorausgeahnte, zugleich aber Ersehnte und Gewünschte darstellen, gleichsam die

[1] Merkwürdige Berichte über angebl. selbständ. Symbolerzeugung s. bei W.B. Yeats, Ideas of Good and Evil (Lond. 1903) 56f.
[2] Splittgerbers, Idelers Fall, Engelbrecht u.a.
[3] Kingsford I I90ff. Interessante religiöse Offenbarungen einer sexualpsychologisch Neurotischen berichten Sonier u. Boissier in AMP 1904 265ff.
[4] Silberer ISO; profane Beispiele das. 150ff.
[5] Das. 193f.


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Kap XXXII. Psychanalytische Kritik der automatistischen und visionären Offenbarung.              (S. 310)

kommende Frucht jener seelischen Vorgänge, die ein funktionales Symbol nur an sich abbilden würde. Hier offenbart sich eine Zielstrebigkeit der Schauungen (wie gewisser Träume), kraft welcher sie Lösungen moralischer Probleme des Einzelnen anbahnen und Vorübungen zu Taten der Befreiung ermöglichen, hierin dem Spiel der Phantasietätigkeit und andern teleologischen Leistungen des schöpferischen Unterbewußtseins verwandt. [1]

Im Falle des Mystikers müßten diese funktionalen und programmatischen Symbole sich offenbar zumeist auf jenes seelische Geschehen beziehen, durch dessen Gewaltsamkeit vor allem er sich von andern Sterblichen unterscheidet: die Verinnerlichung und Sublimierung seiner Elementarkräfte, die Ausgestaltung seiner geistlichen Wiedergeburt u. dgl. m.

Zahlreiche Elemente mystischer Gesichte werden unter diesem Gesichtspunkt ohne weiteres verständlich: der Umtausch des menschlichen Herzens gegen das des Heilands, [2] das Öffnen, das Waschen des Herzens in rotem Blut; [3] das Eintauchen des göttlichen Herzens in das menschliche, der verschiedene Grad der Schwärze oder des Glanzes,

der Fleckigkeit oder Reinlichkeit von Bewohnern der jenseitigen Orte geistiger Läuterung und Entwicklung, die Mehrzahl, die Steigerungsfolge, die wechselnden Grade von Dunkelheit und Helligkeit dieser Orte, ihre verschiedenen Einrichtungen zur geistlichen Entwicklung ihrer Bewohner; [4]

das Motiv der 'Rücksendung' aus dem Jenseits, um Nichtschauende zu belehren und auf den Weg des Heiles zu geleiten, das Motiv des 'Führers' als des vollendeteren, vorbildlichen Eingeweihten, daneben des Geliebten, 'Hinanziehenden', das Motiv der Wiederverkörperung in mehreren Erdenleben, um den Weg der inneren Entwicklung zu verlängern u.a.m.

Dabei tritt bald das individuell-biographische im Sinnbildlichen der Vision in den Vordergrund, sodaß sie die dringendsten Aufgaben persönlicher Entwicklung ausdrückt und fördert, bald das ganze Gebäude der Anschauungen, in denen der Schauende lebt, und dann erscheint die Symbolik des Schauens objektiver, ausgesprochen lehrhafter.

Jane Leade z.B. schaut das Neue Jerusalem auf einem großen viereckigen Stein, in vielen Farben ausgelegt und in vielerlei Stufen von vielerlei geistigen Wesen besetzt, und hört eine Stimme ihr gebieten, auf alle Einzelheiten wohl aufzumerken, 'denn es habe einen tieferen Sinn, der mir offenbart werden sollte'.

Und es scheint, daß ihr eigener Drang nach größerer Einsicht den Anstoß zu neuen Ekstasen gegeben habe, in denen die einzelnen Teile der Vision ihr fernere Erläuterung gaben. [5]

Ähnlich die Vision vom 'Berge der Tugend', welche Mechthild von Hackeborn im Speculum spiritualis gratiae beschreibt. Er hat sieben Staffeln, deren jede mit einer Tugend zusammengestellt wird. Auf jeder Staffel befindet sich ein Brunnen,

[1] Vgl. hierzu Maeder, üb.d. Funktion des Traumes, in JPPF IV 692ff.; vgl. V 671f. Neudeutung von Roseggers Traum (Freud, Die Traumdeutung, 3. Aufl. 317)); Jung in JPPF III 171f. (den neurot. Krankheitsverlauf vormalende Träume); ZPA III 114; Silberer 193 und Der Seelenspiegel (Pfullingen 1921).
[2] Das klassische Beispiel hierfür: Drane I 107ff. (20. Juli 1370). Vgl. Muhamed, bei Sprenger 127.
[3] Vgl. hierzu eine typische Negervision bei Davenport 15, und Gibson 102.
[4] Von 'Hirnmassage' bis zu Erziehungsanstalten, Gelehrtenhallen und seelenwaschenden Strömen.
[5] My spirit being drawn out for a further enquiry concerning this New-Jerusalem state, ... the foundation stone thereof gave forth this word etc., Jane Leade, Revelation of Revelations.


Kap XXXII. Psychanalytische Kritik der automatistischen und visionären Offenbarung.              (S. 311)

in welchem sie das entsprechende Laster abwäscht. Schließlich sieht sie zwei Throne und die vier Ströme der göttlichen Weisheit, Fürsichtigkeit, Einflusses und Wollust. Ein Knauf an den Thronen ist die Gottheit. In den Tabernakeln des Thrones wohnen die Heiligen, Propheten, Apostel, Märtyrer, Beichtiger und Auserwählten. Auf den zwei Thronen sitzen Christus und die Jungfrau usw. [1]

Der Gedanke der funktionalen und programmatisch-teleologischen Symbolik bezeichnet unstreitig die höchste Erhebung der Psychanalyse über ihre ersten einseitigen Feststellungen. Neben den 'titanischen' Aspekt der mythisch-religiösen Begriffe und Bilder tritt hiermit der 'anagogische', [2]

der die äußersten Entwicklungsmöglichkeiten jener titanischen Kräfte durch 'Sublimierung' andeutet, der also die seltsame Tatsache ermöglicht, in Bildern und Begriffen, die den Urtrieben des Kindegoisten entstammen, zugleich die letzten Erhebungen des Ich über sich selbst in die Sphäre religiös-sittlicher Ideale auszudrücken. [3]

Diese Erkenntnisse liefern unstreitig schon in den Grenzen des bloßen naturalistischen Psychologismus eine gewisse Rechtfertigung des visionären Lebens trotz seiner Subjektivität. Selbst wenn die Gesichte keinerlei metaphysische Bedeutung über den Kreis des Einzelsubjektes hinaus besitzen, so sind sie doch der Ausdruck sehr wesentlicher Entwicklungen in ihm.

Schon ältere einsichtige Psychiater [4] erkannten an, daß man niemand, weil er halluziniert, für einen Geisteskranken erklären dürfe, in dem oft gerade im Leben hochstehender und ausgezeichneter Menschen von verschiedenster Geistesrichtung die Halluzination eine Rolle spiele.

Visionen haben wirklich weltgeschichtliche Ereignisse angekündigt, eingeleitet und vollzogen, die Kulturgeschichte bereichert, sittliche Entwicklungen gefördert. [5] Sie bilden eben im besten Falle ein geschlossenes Ganzes mit der gesamten bewußten Lebensführung des Halluzinanten und beanspruchen dann mindestens eine Bedeutung, die derjenigen jenes Lebens entspricht.

Was insonderheit den halluzinierenden Mystiker anlangt, so finden wir es soz. psychologisch verzeihlich, daß er aus der dunklen Anonymität des großenteils unterschwelligen Kräftespiels seiner tiefgegliederten Seele hinausstrebt zu Gestalten des Schauens, die jenes Kräftespiel nicht nur ausdrücken, sondern auch anspornen und führen.

Das Geschaute hat ihm etwas von dem 'göttlichen' Sinn der Kunst, die, wo sie tief ist, ja auch die persönlichen wie die allgemeinen Lebenskräfte in Bildern symbolisiert und häufig genug sogar zu visionärem Leben des Künstlers geführt hat. [6] Kunst, Mythus, Dogma und Vision sind eben psychologische Vetternschaft; ihr freundschaftliches Verhältnis beruht

[1] A. Peltzer, Deutsche Mystik u. deutsche Kunst X93. Vgl. Hildegard 74f.; Drane I 113.
[2] Der Ausdruck vorgeschlagen von Silberer 138.
[3] S. bes. das. 164.
[4] Wie Griesinger (bei Kreyher I 107).
[5] Vgl. hierzu A. Meyer, Die Aufersteh. Christi (Tüb. 1905) 278.
[6]) Vgl. den visionären Einschlag im Schaffen Raffaels, Goethes, Otto Ludwigs, Ch. Dickens', u.a.


Kap XXXII. Psychanalytische Kritik der automatistischen und visionären Offenbarung.              (S. 312)

darauf, daß die Vision den äußersten Grad von Realität bedeutet, den das religiöse Symbol für den Gläubigen annehmen kann. Das sinnvolle Geheimnis des Dranges zur Anthropomorphisierung enthüllt sich uns in diesem Zusammenhang ohne weiteres.

'Die Gottheit ist wie ein unermeßlicher, uferloser Ozean', sagte Ramakrishna, 'in dem ich nur ringen und versinken kann. Nahe ich mich dagegen der in tausend Tätigkeiten spielenden persönlichen Gottheit (Hari), so erlange ich Frieden, wie der Untersinkende, der sich dem Ufer nähert.' [1]

Und so wurde ihm Kali, die Göttin, schließlich zum täglichen Umgang, zur Mutter, die aus seiner Hand Nahrung nahm, für die er stundenlang sang, mit der er sprach, vor deren Bildnis er Stunden verbrachte.

Aber dieser seltsame Mann war ebensogut imstande, das göttliche Wesen in Allah oder in Jesus inkarniert zu denken und zu schauen, und er, der geborene Brahmine, machte unbedenklich eine Art Lehrgang aller Religionen in persönlichstem Erlebnis durch. [2]

So bedeutsam nun die Anerkennung des 'anagogischen Aspekts' der anschaulichen Symbole durch die Psychanalyse ist, samt der damit ermöglichten teleologischen Verteidigung des Visionslebens, so wenig ist damit natürlich nicht nur der Boden des Subjektivismus verlassen, sondern auch im Grunde der Sexualismus des Psychanalytikers überwunden, solange man der Lehre von der Sublimierung die Bedeutung beläßt, die ihr die Schule beimißt.

Diese Lehre habe ich freilich schon oben in ihre Grenzen zu verweisen gesucht; was aber endgültig an ihre Stelle zu treten habe, das ist uns auch jetzt noch durchaus verborgen. So muß denn hier die psychanalytische Ursprungsdeutung religiöser Offenbarungen als ein Beitrag zur psychologistischen Religionserklärung einstweilen auf sich beruhen bleiben.

Die ganze Theorie ist ja noch völlig sub judice und hat um Anerkennung der Wahrheit zu kämpfen, die etwa in ihr verborgen sein mag. Während selbst ein Forscher von Flournoys feinsinniger Bedachtsamkeit sich Pfisters Ankündigung zu eigen macht, man werde dereinst vom Eingreifen Freuds eine entscheidende Epoche auch der Religionspsychologie datieren, [3] gilt die Psychanalyse andern durchaus 'modern' gerichteten Forschern als psychologische Kabbalistik [4] oder als fanatischer Sektenglaube.

Uns mag die Einführung dieser Lehre einstweilen nur den Eindruck verstärken, welcher Reichtum und Tiefsinn von Deutungsmöglichkeiten gegenüber den mystischen Offenbarungen dem Psychologismus zur Verfügung steht; genügend jedenfalls, um alle leichtfertigen gläubigen Ansprüche auf ihre objektive Geltung niederzuschlagen.

[1] Ramakrishna 31.
[2] Das. 31. 36.51; vgl. Sister Nivedita. Kali, the Mother (Lond. 1900) 11ff. 57ff.
[3] Flournoy, M. M. 191 Anm.; Pfister in JPPF III 794.
[4] Dessoir, Vom Jenseits der Seele, 2. Aufl. 214ff.

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