Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

  zum Inhaltsverzeichnis 


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 236)

Das Gesamtergebnis der vorstehenden Betrachtungen läßt sich, wie mir scheint, in dem Satz zusammenfassen, daß die mystischen Wonneerlebnisse in der Mehrzahl der Fälle keinen 'Rückschlag' in offenbar geschlechtliche Wollust darstellen, mithin auch keinen Beweis dafür liefern, daß die religiöse Liebe eine Sublimierung des Geschlechtstriebes sei, falls diese Ansicht nicht anderweitig zu begründen ist.

Sowohl ihrem Anlaß als ihrer Qualität und Lokalisierung nach unterscheiden sie sich von Wollustempfindungen, denen sie sich nur in gewissen Fällen - vermutlich durch Vorgänge der Miterregung und Übertragung - zu nähern scheinen. [2]

Daß die Lehre von der Sublimierung des Geschlechtlichen gerade da, wo ihr Beweis für Viele handgreiflich gegeben schien, ohne Stütze bleibt, hat nun aber für uns den Vorteil, unsere Aufmerksamkeit auf diesen Hauptbegriff der sexualistischen Anschauungsweise' selbst zu lenken, wo denn seine Dunkelheit und verhängnisvoll-fruchtbare Halbdurchdachtheit alsbald zum Bewußtsein kommt.

Zu diesem Behuf ist es nützlich, sich den ganzen Umfang der geistigen Erscheinungen zu vergegenwärtigen, zu deren Deutung er aufgeboten wird. Nach der sexualistischen Lehre sollen ja nicht nur die 'geistigsten' Regungen der 'Liebe', sondern selbst alle Leistungen des Verstandes und der Vernunft durch Sublimierung geschlechtlicher Spannungen zustande kommen, nicht nur die sittlichen und religiösen, auch alle künstlerischen und wissenschaftlichen Triebe werden als 'tertiäre' Geschlechtscharaktere angesprochen und damit letzten Endes als Lebensäußerung der Geschlechtszellen gedeutet. Nicht bloß im


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 237)

'künstlerischen Schaffen' und der 'Energie des Willens', sondern selbst in der 'rücksichtslosen Logik des Denkens' und dem 'Pflichtbewußtsein' - natürlich nebst allen sonstigen männlichen Wesenseigentümlichkeiten - erblickt ein neuerer Schriftsteller 'nur eine Dépendence der Zeugungsorgane'. [1]

Die Theorie hat denn auch für jedes Gebiet der kulturellen Betätigung ihre besonderen Ableitungen. Die Erzeugnisse der Kunst sucht sie als Abreaktionen persönlicher Einzelspannungen erotischen Inhalts zu erweisen, [2] den Forscherdrang der Wissenschaft als Sublimierung jener Fragesucht, die bei den Kindern angeblich als Maskierung ihrer Neugier betreffs der geschlechtlichen Geheimnisse auftritt; und was dergleichen mehr ist.

Die Schwierigkeiten der Durchführung dieser Anschauung beruhen offenbar auf der außerordentlichen Verschiedenartigkeit dessen, was als Wurzel, und dessen, was als Frucht angesetzt wird. In der Tat vermag zum mindesten der erste Blick zwischen dem Entleerungstrieb einer Drüse und den höchsten Formen geistigen Schaffens eine inhaltliche Verwandtschaft schlechterdings nicht zu entdecken.

Ebenso dunkel sind ihm die Vorgänge, vermöge welcher sich z.B. Newtons geschlechtliche Enthaltsamkeit in 'die rücksichtslose Logik seines Denkens', diejenige Kants in sein 'Pflichtbewußtsein' umgesetzt haben soll. Wo liegt und welcher Art ist der Schaltapparat, der diesen völligen Wandel der Inhalte herbeizuführen imstande ist?

Das ist die Frage, auf die wir einstweilen eine ganz ungenügende Antwort erhalten. Was uns immer wieder geboten wird, ist lediglich der Nachweis einer gewissen funktionalen Abhängigkeit, meist in 'umgekehrten' Verhältnissen - ein Argument, das wir in seiner üblichen lockeren Form bereits kennenlernten. [3]

In diesem unbestimmten Sinn ist die Anerkennung der Sublimierung, wenn man so will, allerdings auch bezüglich der abstraktesten geistigen Leistungen, eine altehrwürdige Banalität.

Schon Plato scheute sich nicht, das Streben der Dichter nach Einsicht und Tugend, das der Erfinder und der Staatsmänner als einen 'Zeugungsdrang' zu bezeichnen, der sich an der Schönheit geliebter Menschen entzünde [4], und Newton nannte es eine wichtige Einsicht,

daß, wenn das 'Kraftelement der schöpferischen Urkraft' im Körper zurückbehalten werde, es in neue Gedanken, vielleicht in neue Erfindungen oder in großartige Konzeptionen des Wahren, des Guten und Schönen umgewertet werden, oder auch in erfrischende Gemütsfreuden, in die alle Mitmenschen umfassenden Triebe der Güte und des Wohltuns sich umwandeln könne'. [5]

Und mit der Lehre hat sich natürlich hundertfältig die Beobachtung verbunden, wie wenn z.B. Schopenhauer an Tagen brennendster fleischlicher Gier

[1] H. Driesmans, Die plast. Kraft in Kunst, Wiss. und Leben (Lpz. 1898) 176. 177, verwandte Äußerungen Virchows (in Das Weib u. d. Zelle) paraphrasierend. Ähnlich E. Haeckel, NatürI. Schöpfungsgesch. 196; Bloch 100; Ellis, Man and woman.
[2] S. z.B. Stekel, Dichtung u. Neurose.
[3] Vgl. o. Kap. XXIII. S. 207 f.
[4] Platons Gastmahl, Übs. Von  R. Kassner (Lpz. 1903) 60.
[5] Nach Freimark, aaO. 39.


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 238)

auch 'die höchsten Kräfte des Geistes' in sich bemerkte: es bedürfe nur 'einer gewaltigen Anstrengung zur Umkehrung der Richtung'. [1]

Aber gerade diese Kronzeugen der Lehre führen uns ohne weiteres auf den Gedanken, welcher gestattet, das eigentlich Selbstverständliche an ihr von dem Sinnlosen zu scheiden.

Es sei denn, man könne den Inhalt z.B. einer Newton’schen 'Erfindung' oder seine 'Konzeption' eines kosmischen Gesetzes als Maskierung oder 'Verfeinerung' [2] eines geschlechtlichen Sondertriebes deuten - und daran zu denken wäre Wahnsinn -, so verbleibt uns lediglich die Einsicht, daß eine Ersparnis an Nervenspannung, wie der Enthaltsame sie vornimmt, auch den nervösen 'Denkapparat' in jene erhöhte Spannung versetze, die ihm allein ermögliche, höheren Gedankensynthesen zu genügen.

Gerade die moderne Neurosenlehre benutzt, wie wir sahen, den Begriff einer gegebenen Menge nervöser Spannung, die in ihrer Verwendung soz. verschiebbar ist, die der einen Leistung entzogen werden kann, um eine andere - im Falle des Kranken durchaus unerwünschte - aufzubringen.

Daß also, wer geschlechtliche Spannung vergeudet, damit nervöse Spannung überhaupt vergeudet und sich somit zu jeder Leistung weniger fähig macht, zu der nervöse Spannkraft erfordert wird, das ist nicht nur eine alte und triviale Erfahrung, sondern auch eine klare Folgerung aus Grundbegriffen der Neurosenlehre.

Daraus aber zu schließen, daß jede dieser durch Ausschweifung verminderten Leistungen im Grunde nur eine Maskierung des Geschlechtstriebes sei, wäre ebenso sinnlos, als zu schließen, daß ein beliebiges Erzeugnis der feineren Industrie eine Maskierung von Kohle sei, weil seine Herstellung aufhört, wenn in der Triebmaschine die Kohle und damit der Dampf versiegt.

Die Maschine, die jenes Erzeugnis herstellt, ist selbst ein von der Kohle als Kraftquelle durchaus unabhängiges Organ, genauso unabhängig, wie denkbarerweise ein 'Organ' des Denkens von dem Organ der Fortpflanzung; und wenn in der Entwicklungsgeschichte der Organismen auch selbstverständlich Zusammenhänge bestehen zwischen der Entstehung der einen und der anderen Art von Organen - wie schließlich zwischen allem, was zu einem lebenden Organismus gehört -,

so haben uns doch die Biologie, die Psychologie, die Soziologie, jede in ihrer Art, längst mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß die Erzeugnisse einer 'Entwicklung' gegenüber anscheinenden Vorstufen, unbeschadet des stetigen geschichtlichen Zusammenhanges, etwas qualitativ, ja wesentlich Neues und Selbständiges enthalten können.

Mag nun aber so viel auch zugestanden werden, so verbleibt doch die für uns entscheidende Frage, ob auch die Erscheinungen der 'höheren' Liebe von denen des offenen Geschlechtstriebes inhaltlich so weit abliegen,

[1] VgI. Bloch 100. 496. 743. Nietzsche bei Bernouilli. N.u. Overbeck 264.
[2] Dieser Terminus bei Silberer 163 (auch: 'auf ein höheres Niveau bringen').


  nach oben 

Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 239)

daß ihre Bezeichnung als bloßer 'Verfeinerungen' dieses Triebes sinnlos wird, dagegen ihre Auffassung als selbständiger Neuerwerbungen der Entwicklung sich aufdrängt, - Neuerwerbungen, die mit den Spannungen des nackten Triebes eben nur auf Grund jener 'dynamischen Funktionalität' zusammenhängen, welche zugestandenermaßen alle Erscheinungen des lebenden Organismus miteinander verknüpft.

Es ist dabei für unsere Zwecke beinahe gleichgültig, ob wir den Tatbestand Religion oder den Tatbestand Liebe zum Ausgangspunkt der Untersuchung wählen: denn in der Art von Religion, die hier am jenseitigen Menschen erforscht wird, ist Liebe - die sublimierte, verinnerlichte, verjenseitigte Art von Liebe - eine beherrschende Erscheinung.

Mystische oder Gottesliebe aber ist selbst nur, wie wir sahen, das Korrelat jener erweiterten Wesenliebe, die ein Hauptunterscheidungsmerkmal des Erweckten bildet. Durchschauen wir diesen offenbar mehrschichtigen Tatbestand in irgendwelcher Ausdehnung, so wird uns sein Wesen und seine Entwicklung auch in weiteren Gliedern seines Reihenbestandes durchschaubar werden.

Es ist daher ebenso unbedenklich wie förderlich, wenn wir den Blick vor allem auf jene Strecke der Tatsachenreihe richten, die jedem mehr oder minder aus eigener Erfahrung vertraut ist.

Hier ist nun zunächst darauf hinzuweisen, daß die Sublimierung der Geschlechtlichkeit in Liebe keineswegs mit einer bloßen 'Verhirnung' des Triebes gleichzusetzen ist. Die Beobachtung lehrt unzweideutig, daß der Trieb sich völlig von den Geschlechtsteilen und ihren Leistungen soz. ins 'Bewußtsein' zurückziehen kann, ohne doch seinen offen-sexualen Inhalt im mindesten einzubüßen.

Bei greisenhaften oder halbseitig-gelähmten Personen z.B. überlebt eine rein gehirnige, 'zerebrale'  Begehrlichkeit den Verlust oder die Schwächung des örtlichen Geschlechtstriebes und führt etwa zu Exhibitionismus: lüsterne Vorstellungen verbinden sich also mit 'spinaler' Zeugungsunfähigkeit. Dabei mag die vollständige Zeugungsunfähigkeit wohl auch von völliger Unempfindlichkeit der Teile vertreten werden.

Ein anderes Bild rein hirniger Geschlechtlichkeit liefern uns Kastraten, männliche wie weibliche, bei denen der leidenschaftliche Drang zum andern Geschlecht nicht immer entwurzelt ist. Fälle dieser Art, die Möbius anführt, lassen über die offen-sexuale Natur dieses Triebes keine Zweifel: sie berichten von Überfällen, geraubten Küssen und nicht andeutbaren Handlungen, und Möbius erblickt in ihnen den Beweis für einen 'zerebralen Geschlechtstrieb'. [1]

Nicht minder lehrt die raffinierte Geschlechtsbetätigung Überkultivierter, der Entartung nahestehender Wüstlinge, daß Vergeistigung des

[1] Möbius, Üb. d. Wirkungen der Castration (Halle 1906) 97. S. auch Aletrius in ZPMP V  6ff.; über eine Frau ohne Ovarium u. Uterus, aber stark libidinös, masturbierend und kohabitierend: AJI LI .82 und Brit. Med. Journ. 1899 975.


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 240)

Triebes durchaus nicht gleichbedeutend ist mit jener Sublimierung, die es zu begreifen gilt. Die eigentümlichen seelischen Verfeinerungen und Bereicherungen des rein Sinnlichen, die Ausschweifungen der Phantasie, die wir an Künstlern vom Schlage der Baudelaire, Barbey-d'Aurevilly, Verlaine, Maupassant u.a. beobachten, [1] zeigen die Wollust zwar wesentlich als im Gehirne wohnend, aber doch immer als offene Wollust.

Die Tatsache der inhaltlichen Ungleichheit der beiden zu verbindenden Größen ist schließlich dasjenige, womit sich die Lehre von der Sublimierung vor allem auseinandersetzen muß. Geschlechtsdrang und Liebe sind inhaltlich gesonderte Dinge, Leistungen unvergleichlicher 'Organe', die in der Erfahrung der Liebenden ebensooft gegeneinander als in der gleichen Richtung arbeiten.

Tief Erlebende haben sie mitunter geradezu als Todfeinde empfunden, [2] und zwei so verschieden gefügte Denker wie Mantegazza und Weininger mußten beide die Beobachtung verzeichnen, daß Liebe häufig an sinnlicher Berührung hinsterbe. [3] Nur das unendlich häufige friedliche Zusammengehen von geschlechtlicher und Liebesneigung erklärt, daß ihre inhaltliche Sonderung so leicht übersehen wird;

und gerade die verfeinerten Naturen, die sich mit psychologischen Zergliederungen abgeben, mögen vielleicht wirklich kaum noch je die nackte Geschlechtlichkeit ohne das Mitanklingen von Liebesregungen erleben. Und doch muß der Geschlechtstrieb in seiner Nacktheit sauber herauspräpariert werden, soll ein klärender Vergleich gelingen.

Liebe unterscheidet sich von Begierde vor allem in der größeren seelischen Umfänglichkeit, wenn das Wort erlaubt ist. Auch Begierde zwar erfordert im normalen Falle zu ihrer Befriedigung die Teilnahme eines Andern und ist insofern ein 'sozialer' Trieb; aber als reine Begierde beschränkt sie die Rolle ihres Gegenstandes auf die kurze Zeitspanne des Ablaufs von Begier zu Befriedigung.

Das populäre Urteil erblickt darum mit Recht in dem reinen Lüstling einen Egoisten, ohne Gewicht darauf zu legen, daß er auch Andern lustvolle Empfindungen verschafft; als natürlich betrachtet es die häufige Verbindung gewohnheitsmäßiger Ausschweifung mit Kälte des 'Herzens', d. i. Gleichgültigkeit gegen den 'Nächsten'. 

Die Stellung des Liebenden, selbst im banalsten Gebrauch des Wortes, zum Gegenstande seines Gefühls ist eine durchaus andere. Zunächst erregt weit mehr als die Leiblichkeit des Geliebten sein Interesse. Diese Tatsache wird freilich anerkannt auch in der Lehre, daß die 'tertiären (geistigen) Geschlechtscharaktere' als Reizerhöher selbst der Begier und

[1] s. Bloch 525f. ('Der elementare Geschlechtstrieb widersteht jeder Zergliederung und Sublimierung.')
[2] S. z.B. Grillparzers Aufzeichnung bei W. Stekel, Dichtung u. Neurose 17f.
[3] Vgl. Mantegazza, D. Ekstasen d. Menschen (deutsch, Jena 1888) 152; Weininger, Geschl. u. Char., 3. Aufl. 317ff.; H. Finck, Romant. Liebe (deutsch, Breslau 1890) S . XV. 155.


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 241)

Wollust dienen können. Bewunderung von Geist, Talent, Kühnheit, Erfolg, Charakter mag z.B. ein Weib zur physischen Eroberung eines Mannes reizen und den rein sinnlichen Genuß des eroberten erhöhen. Aber die hier verkoppelten Erscheinungen bestehen auch gesondert.

Und schon das Verhältnis passiver und aktiver Sympathie zwischen Liebendem und Geliebtem geht tatsächlich über das geschlechtliche Interesse weit hinaus, d.h. das unwillkürliche Miterleben der inneren Erlebnisse des Geliebten und das Bedürfnis, für die eigenen Gefühle in der Seele des Andern den Widerklang zu wecken, so daß jedes eigene Gefühl alsbald zu Nähe, Mitteilung und Austausch treibt und das Alleinfühlen zur Qual wird.

Ist dies eigene Mitschwingen noch durchaus mit Egoismus verträglich (denn es kann die eigene angenehme Miterregung rein als solche genießen und der unangenehmen auf mannigfache Weise sich entziehen); liegt auch in aktiver Sympathie, der drängenden, strömenden Einfühlung in den Andern etwas Egoistisches (denn sie kann die Selbstbefriedigung der Gefühlsverstärkung auf Kosten des Andern suchen, der nicht immer imstande ist, mit jedem Gefühl zu sympathisieren), so tritt in eigentlicher Liebe stets noch jener Bestandteil hinzu, der mit gutem Grunde altruistisch genannt wird: der Liebende sucht das Beste des Andern mit Hintansetzung des eigenen zu fördern.

Hierzu ist Sympathie, indem sie die Einfühlung ermöglicht, offenbar bloße Vorbedingung; denn auf Grund gelungener Einfühlung entstehen nun erst aus der Liebe Handlungen, für die das fremde Fühlen und Bedürfen die gleiche Rolle spielen wie für die 'egoistischen' das eigene, für welche also die fremde Befriedigung vollkommen an die Stelle der eigenen tritt. Das Wohl des Andern wird Selbstzweck.

Will man daraus, daß jene fremde Befriedigung nun doch mitgefühlt, ja genossen wird, die Folgerung ziehen, daß auch ein solcher Altruismus nur durch Einfühlen komplizierter Egoismus sei, so ist gegen ein solches Spiel mit Worten nichts einzuwenden. Der Unterschied zwischen Handlungen, deren beherrschender Zweck die Förderung des Ich oder aber die des Andern ist, wird dadurch nicht geringer.

Man hat guten Grund, dieses Bestandstück der Liebe für ein 'primäres', aus andern nicht ableitbares anzusehen. [1] Alle Versuche, die altruistischen Triebe aus dem egoistischen Bedürfnis abzuleiten, das sich eine Lustquelle zu erwerben und zu erhalten strebe, scheitern an der Beobachtung, daß die altruistischen Triebe in ihren Leistungen weit über den Wert  und die Zeitdauer solcher Lust hinausgehen, wie denn z.B. die Mutterliebe zum Opfer des Lebens bereit sein kann zu einer Zeit, wo das Kind  ihr längst keine Lustquelle mehr ist (durch den viel besprochenen

[1] Für diese Primarität: McDougall, Sutherland, Ribot u, a. S. auch A. Bain, The study of character (Lond. 1861) 236ff.; Wundt, Ethik, 2. Aufl. 199.453; Simmel, Einl. i.d. Moralw. I 28.


  nach oben 

Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 242)

Wollustreiz des Säugens). [1] Man könnte allenfalls versuchen, den altruistischen Trieb als nachträgliche Wucherung von Nebenerzeugnissen egoistischer Regungen zu deuten, doch übersieht man auch dann, daß der Selbsterhaltungs- und Selbsterhöhungsdrang des Gattungs- und Gesamtlebens eine nicht minder ursprüngliche und massive Tatsache ist als der des Einzelwesens, ja daß der heutigen Anschauung unter den 'Zwecken' der Natur die Erhaltung der Art und des Lebensganzen über derjenigen des Einzelnen steht.

Opfert aber die Natur den Einzelnen dem Ganzen, wie sollte nicht die Fähigkeit des Sichopferns eine ursprüngliche und unableitbare Anlage eben des Einzelnen sein?

McDougall nun, der den wichtigen Gedanken in die Ethik eingeführt hat, daß jede Gemütserregung (emotion) die gefühlsmäßige Erscheinungsform eines entsprechenden Instinktes sei, sucht diesen Satz in unserem Falle durch die ziemlich überzeugende Ableitung des altruistischen Gefühls aus dem Instinkt des Nachkommenschutzes zu erhärten. [2]

Dieser Schutzinstinkt auf seiten der Eltern tritt im Laufe der Stammesentwicklung allmählich an die Stelle einer Massenerzeugung von Keimen, die das Überleben der Brut dem Zufall überlassen durfte. Mit der Einschränkung ihrer Zahl wird ihre Behütung durch die Eltern notwendig.

Sutherland insonderheit hat mit reichlichen Tatsachen den Nachweis geführt, daß mit der Kleinheit der Familie und der Dauer der Schutzbedürftigkeit der Nachkommen auch die Stärke und der seelische Reichtum der elterlichen Schutzinstinkte und -gefühle wachse. [3]

Die Aufgabe, aus den frühen und einfachen Formen dieser Instinkte und Gefühle die Reichtümer hochentwickelter Liebe abzuleiten, wäre hoffnungslos, wenn nicht eine starke inhaltliche Ähnlichkeit selbst der äußersten Endpunkte dieser Entwicklung sogleich ersichtlich wäre.

Dieses Gemeinsame besteht in dem instinktiven Drang, eigenen Überfluß – an Kraft zunächst, sodann an mancherlei Besitz und Können - einem Andern, Bedürftigen zugute kommen zu lassen. Etwas von dem Verhältnis der Eltern zum Kinde, des Reifen und Starken zum Werdenden und Schwachen, mit dem Ziel der Erhaltung und Förderung des Lebens, bleibt aller Liebe für alle Zeit eigen.

Der Liebende hat (oder empfindet doch) immer irgendwelchen Überfluß, von dem er einem Andern abzugeben sich gedrungen fühlt. Dabei ist es von höchster Wichtigkeit zu bemerken, daß dieses Abgeben nicht bloß auf wahllose Steigerung von 'Lust' im Geliebten sich richtet, sondern im besten Falle auf eine Steigerung aller Werte in ihm, zu deren Erkenntnis der Liebende befähigt ist. Liebe ist ja auch im Liebenden der werteweckende und wertesteigemde

[1] So z.B. Horwicz, Psychol. Anal. 365 (der auch die Erinnerung an den Geschlechtsverkehr mit dem Vater sich im Kinde verkörpern läßt).
[2] W. Mc Dougall, An Introduction to Social Psychology (Lond. 1908) 29.
[3] A. Sutherland, The origin and growth of the moral instinct, 2 vols. (Lond. 1898).


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 243)

Zustand kat'exochên: gleich dem manischen Zustande, mit dem sie teilweise verwandt ist, steigert Liebe nicht nur die Mitteilsamkeit und das Ausdehnungsbedürfnis, sondern auch die Fähigkeiten. Wie sie sich am tiefsten an den Werten des Andern, an Bewunderung und Achtung entzündet, so ruft sie auch die höchsten eigenen Anstrengungen auf, alle empfundenen Ideale zur Verkörperung zu bringen. Sie weckt den geistigsten Ehrgeiz gleichzeitig mit dem Drang des Schenkens. [1]

Liegt schon hier eine unendliche Entwicklungsfähigkeit der Erscheinung Liebe in den Grenzen des liebenden Subjektes angedeutet, so eröffnen sich andere Möglichkeiten der Entfaltung auch nach der Seite des Gegenstandes der Liebe; wobei diese Entwicklung des Gegenstandes notwendig zugleich eine Entwicklung des Subjektes voraussetzt.

Denn es ist nicht zuletzt die mit der steigenden Kultur des Seelenlebens ins Unendliche wachsende Fülle der Beziehungen zur Außenwelt, der erweiterte Blick, der größere Reichtum des Wissens und Verstehens, was jene außerordentliche Ausdehnung des ursprünglich so eng umgrenzten Instinktes der Lebensförderung ermöglicht.

Die psychologische Zergliederung dieser Ausdehnung des Gefühls, dieser Einbeziehung immer neuer Gegenstände in seinen Geltungsbereich kann als minder wichtig hier sogar beiseite bleiben. Assoziationen der Berührung und Ähnlichkeit, Vorgänge der Begriffsentwicklung, das Eingreifen des Abstrakten überhaupt und manches andere mögen bei diesem Übergleiten und Umsichgreifen des Gefühls und Instinkts eine Rolle spielen. [2]

Dagegen wäre eine rein beschreibende Geschichte des Gegenstandes der Liebe von größter Wichtigkeit. Sie hätte zu verfolgen, wie aus der hilfreichen Teilnahme am Schicksal der Allernächsten von eigenem Fleisch und Blut ein aggressives Mitgefühl hier für die untermenschliche Lebewelt, dort für die blutsfremden Mitmenschen entsteht.

An die Seite der nächsten Blutsverwandten, oft an ihre Stelle, tritt der Freund, der gleichstrebende Mensch, bis schließlich bei Vielen alles, was Menschenantlitz trägt, was nur dem Begriff des Mitmenschen sich unterordnet, zum Gegenstand eines Triebes wird, der fördern und mitteilen will: der Philanthrop, dessen Gefühlsstärke nicht immer im umgekehrten Verhältnis zur Umfänglichkeit des Gegenstandes seiner Gefühle stehen muß, arbeitet für Wesen, die er kaum noch zu Gesicht bekommt.

Und auf den höheren Stufen auch dieser fortschreitenden Verallgemeinerung wird sichtbar, wie sehr diese Entwicklung des Gegenstandes eine solche des Subjekts der Liebe voraussetzt. Der Philanthrop z. B. wird nicht mehr bloß durch den Anblick einfachster Bedürfnisse zum

[1] Der echte Begriff der 'platonischen' Liebe. Vgl. die seit altersübliche Beziehung der Liebe auf das Vergnügen an 'Vollkommenheiten' (noch z.B. bei Leibniz. Opp. (ed. Gebhardt) VI 605f.) Shelley wäre in diesem Zusammenhang zu betrachten (Hymn to intellectual beauty, Epipscdion etc.).
[2] Vgl. allg. Mc Dougall. aaO. 73ff. ; Tb. Elsenhans in ZPPS XXIV 194ff.; Th. Ribot, L 'abstraction des émot. in AP III (1897).


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 244)

Eingreifen angeregt, sondern ebenso oft durch ein Ideal der menschlichen Entwicklung oder gesellschaftlicher Einrichtungen, das er selbsttätig in sich erzeugt hat. Er sucht Werte zu schaffen und zu fördern, die er als höchste Errungenschaften seiner Persönlichkeit erkennt.

Liebe offenbart sich in ihrer höheren Artung somit als Ursprung und Form des Schaffensdranges überhaupt, der jedem Höherstehenden innewohnt; als jene Kraft, die Ideale aufstellt und an ihrer Verwirklichung arbeitet, in diesen Schwung aber vor allem auch Andre hineinzuziehen sucht, die den Kern von Mensch und Natur zur Blüte zu treiben sucht.

Deshalb mag man wohl in den Helden der Wahrheitserforschung, der Kunstentfaltung, des menschlichen Aufstiegs in Staat und Sitte - Liebende von besonderer und hoher Art erblicken: eine Gattung freilich, die selten ist, wie die Fähigkeit zu selbstlos-idealer Tätigkeit. 'Offenbare mir', schrieb einer der Stärksten des autonomen Dranges, 'offenbare mir, was du wahrhaft liebst, was du mit deinem ganzen Sehnen suchest und anstrebest, wenn du den wahren Genuß deiner Selbst zu finden hoffest - und du hast mir dadurch dein Leben gedeutet. Was du liebest, das lebest du.' [1] -

Aber selbst in dieser weitesten Ausgestaltung und Verästelung des expansiven, altruistischen Dranges läßt sich der Rückweis auf die früheste Quelle, den Schutztrieb des Elternpaares, noch aufspüren. Ichvergessene Arbeit am Werdenden, Wachsenden, Zukünftigen: auf diese Formel läßt sich sowohl die Sorge der tierischen Mutter wie die selbsthingebende Anspannung des hochgearteten Gelehrten, Künstlers, Staatsmannes, Reformators, Philanthropen zurückführen.

Und noch im Verhältnis des höchsten Schaffenden zu seinem Werke klingt der Ton jener aufopfernden elterlichen Pflege an, in deren Dienst die ältere Generation so häufig Lust, Kraft und Leben opfert, um Fortbestand und Wachstum von Lust, Kraft und Leben zu sichern. -

In dieser so einheitlich umrissenen Entwicklung, und zwar auf ihren niedersten wie höchsten Stufen, verbirgt sich nun aber doch noch eine Zweiheit der Formen. Schon die Tatsache, daß der Nachkommenschutzinstinkt an zwei geschlechtsverschiedene Wesen geknüpft ist, macht auf sie aufmerksam.

Denn diese Tatsache läßt erwarten, daß der Instinkt sich auch vielfach in verschiedener Formung betätigen werde. Beim Männchen wird die nach außen hin kämpferische Veranlagung sich auch in den Dienst der hilflosen Nachkommen stellen; beim Weibchen dürfte eine andere Haltung überwiegen: die der Einhüllung, der Hingabe des Körpers im Akt des Säugens u. dgl. m.: die Schutzhandlung der Mutter macht diese selbst nach außen hin schutzlos. -

Diese Andeutungen banal-primitiver Verhaltungsarten dürften bedeutsamer sein, als auf den ersten Blick ersichtlich ist: wir finden im Dienste der Liebe schon auf früher Stufe zwei

[1] J. G. Fichte, WW. V 403.


  nach oben 

Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 245)

entgegengesetzte Haltungen, Einstellungen, oder wie man es sonst nennen will: eine gespannte und eine entspannende; die erstere in Bewegungen des Angriffs sich entladend, die andere in Bewegungen, welche die Angreifbarkeit erhöhen, und diese Zweiheit der Haltungen - des männlichen Angriffs und der weiblichen Hingabe - beherrscht nicht nur das wahrnehmbare Gebiet der Körperlichkeit, sondern verpflanzt sich, vielleicht auf dem Wege über Bewegungsneigungen ('naszente' Bewegungen, motorische 'Tendenzen'), in das innere, seelische Gebiet der Stimmungen und Gefühle.

Ja man kann vielleicht sagen, daß der Gegensatz, auf den wir hier stoßen, den gesamten Bereich des Trieb-, Affekt- und Gefühlslebens beherrscht. Alle primären Affekte und Instinkte ordnen sich am Ende in solche, die der aggressiven Selbstdurchsetzung dienen, und andere, die ein verteidigendes Zurückweichen oder ein selbsthingebendes Fördern Anderer zum Inhalt haben.

Unter den ersteren Gesichtspunkt fielen vor allem [1] die Affekte des Ekels, des Zornes und Übermuts, unter den zweiten vor allem die der Furcht, der Unterordnung, der Zärtlichkeit und des Herdengefühls. Suchen wir nach elementaren Scheidungsmerkmalen dieser Reihen, so versagen zunächst die bei den Affekten so wichtigen inneren physiologischen Bestimmungen der Atmung, der Blutgefäßfüllung, der Herztätigkeit: denn die Scheidung in solche, die mit örtlicher Blutfülle und beschleunigtem Puls und Atmung einhergehen, und in solche mit entgegengesetzten Merkmalen kreuzt sich offenbar mit der obigen Unterscheidung.

Und dasselbe gilt von einer Charakteristik der Affekte nach allgemeinsten Eigenschaften der in sie eingehenden Gefühle, falls man sich etwa der Wundt’schen Unterscheidung von Lust - Unlust, Erregung - Beruhigung und Spannung - Lösung anschließt. [2]

Dagegen läßt die motorische Auswirkung der selbstbetonenden und der selbsthingebenden Affekte und Instinkte einen durchgehenden Unterschied erkennen. So haben wir, um die obige Liste beizubehalten, im Falle des Ekels (abgesehen vom mimischen Ausdruck) hauptsächlich Abwehrbewegungen, die den widerwärtigen Gegenstand zu entfernen dienen, im Falle des Zornes Bewegungen, die den Gegner vernichten sollen, im Falle des Übermuts (elation) jene allgemein erhöhte Muskelspannung, die sich zumal vor Zuschauern 'in Positur setzt' und sich 'produziert'.

Auf der andern Seite äußert sich die Furcht in Fluchtbewegungen oder dem Streben, sich zu verkleinern oder verstecken, der Affekt der Unterordnung in schleichenden, niedergeschlagenen, spannungslosen Bewegungen, das Herdengefühl in dem Drang, sich der Masse einzureihen und ihren Bewegungen sich anzupassen, die Zärtlichkeit (tender emotion) endlich in Umarmungen, Liebkosungen sowie Schutzbewegungen. -

Im großen und ganzen gehören also augenscheinlich die Affekte der ersten Reihe der männlichen, die der anderen Reihe der

[1] Ich folge McDougalls Einteilung, aaO. ch. III.
[2] Wundt III 2lSff.


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 246)

weiblichen Form des Nachkommenschutzinstinktes an; d.h. auch durch die Reihe der Affekte im allgemeinen zieht sich die Scheidungslinie, auf deren einer Seite die straffe, zugreifende, aggressive, eindringende Haltung, auf deren anderer die sich lösende, hingebende, abgebende Haltung vorherrscht.

Das für uns Wichtige nun ist, daß diese bei den 'Haltungen' in alle Stufen tätiger Liebe eingehen: jede tätige Liebe - zum Kinde, zum Schutzlosen, zum Nächsten, zum Bewunderten, zum Volke, zur Menschheit, zum Werke - enthält oder kann wenigstens enthalten -

ein Element der Entspannung und Hingabe, und ein Element der Spannung, nämlich der Aneignung und Eroberung, der Schaffenslust, der Formbegier, allgemein gesprochen: ein Element weiblichen und ein Element männlichen Verhaltens, deren jedes sich ausdrückt in dem Vorherrschen verschiedenartiger Bewegungstypen sowie verschiedenartiger mehr 'innerlicher' Neigungen zu solchen, also in verschiedenartigen Spannungs- und Richtungszuständlichkeiten des seelischen Zentralorgans.

Dabei erweist sich das männliche Element vornehmlich in den positiven Leistungen, zu denen die Liebesgesinnung anregt, das weibliche dagegen in der GrundeinsteIlung des Wesens, das jene Leistungen eben als Leistungen für Andere inspiriert - sofern jene Einstellung eben nicht als bloße Gesinnung ohne Frucht verharrt.

Diese weibliche Seite erscheint am reichsten an Formen, die ihre innere Verwandtschaft durch den allen gemeinsamen 'inneren' Drang zur schmelzenden Entspannung offenbaren, zur Hingabe, zum Abgeben, zur Selbstausdehnung und gefühlsmäßigen Umfassung und Überflutung des Andern. Ich erwähne z.B. als bedeutsame Verwandtschaften der Liebe: die Demut, die Rührung, die Dankbarkeit, das Vertrauen, die Geduld, das Verzeihen, die Reue, das Mitleid.

Bei allen diesen wird ihre Verwandtschaft mit dem weiblichen Liebeselement auch durch ihre charakteristischen Bewegungsneigungen bestätigt. Nicht nur der Demütige, sondern auch der Liebende, wie Mantegazza bemerkt, [1] wirft sich nieder, verkleinert sich, um ganz hingenommen zu werden;

der Vertrauende entspannt jede Gebärde der Verteidigung u. dgl. m., der Mitleidige schmilzt recht eigentlich in allen Spannungen seiner Selbstheit hin, er verkörpert den schmelzenden Affekt kat'exochên, in welchem das Ich dem Nicht-Ich, der Welt und Menschheit sich schutzlos, aber gebefreudig öffnet, wie die Mutter dem Kinde, dessen Kleinheit und Schutzlosigkeit sie 'rührt'.

Hier springt die Verwandtschaft aller Liebesregungen mit dem Elternschutzinstinkt wiederum in die Augen. Wir wissen, wie sehr sich Liebe auch unter Erwachsenen vom Mitleid, vom Hilfs- und Schutzbedürfnis des Andern nähren kann, [2] auch daß das Kleine an sich, selbst das leblose Winzige, wenigstens Rührung, die Schwester der Liebe, erregen kann. [3] Aber als Grundlage sittlichen Ver-

[1] aaO. I79f. Vgl. Cahagnet, Heil. 27f.
[2] Vgl. den Fall bei Aletrius, in ZPMP V 101.
[3] McDougall, aaO. 74.


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 247)

haltens zur Umwelt aufgefaßt, führen alle diese Regungen, wie oft gezeigt, zu einer Vereinseitigung weiblichen Schlages. Mitleidliebe vermag keine lebensstarke Sittlichkeit zu begründen: männliche Grundzüge wie Überlegung, Erkenntnis, Pflicht, Willenszucht müssen die Persönlichkeit zum Ausdruck jener 'allmächtigen Liebe' emporheben, die (nach den Worten des Pater Profundus) nicht nur 'alles hegt', sondern auch 'alles bildet'.

Die enthusiastische Hingabe der Liebe an Welt und Menschheit erfordert, um fruchtbar zu werden, die Gestaltung und Klärung durch männlichschöpferische 'Ideen' - mit Goethe zu reden -, und selbst jenes 'Streben, sich einem Höhern, Reinen, Unbekannten aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben', worin sich die Haltung der religiösen Andacht mit der Stimmung des bewundernden und wertenden Liebenden trifft und Gottes- und Liebesfrieden ineinanderfließen, bleibt ergebnislos ohne die männliche Ergänzung einer Abkehr von Gott und Rückkehr zur Welt, um - Gott im Rücken - aus der erlebten Stimmung die Inspiration zu Neugestaltungen zu gewinnen.

Hier nun aber springt uns aus der Zergliederung der Erscheinung Liebe ein Gedanke entgegen, der die geahnten und behaupteten Zusammenhänge von Liebe und Geschlechtlichkeit ihrem wahren Sinne nach durchleuchten dürfte.

Es fällt nämlich auf, daß die beiden 'Haltungen' und 'Einstellungen', in denen das Wesen selbst noch der höchsten 'schaffenden' Liebe nach seiner männlichen und weiblichen Seite sich auswirkt, eine unverkennbare Ähnlichkeit besitzen mit dem Verhalten der Geschlechter bei der Begattung, zumal der höheren Ordnungen. Vom Weibe fordern schon die Vorstadien des Aktes ein Aufhören der Selbstabschließung und -sicherung, eine leibliche und seelische Haltung, die der Sprachgebrauch vollkommen treffend als Sichhingeben bezeichnet.

Umgekehrt gleichen beim Manne zum mindesten die einleitenden Haltungen und Handlungen einem Angriff, einer Besitzergreifung des Andern, und führen - unmittelbar und mittelbar - zur Gestaltung. Erst auf dem Höhepunkt des Genusses begegnen sich beide Geschlechter in einer Auslöschung des Ich, die jede Abwehrstellung dem Nicht- Ich gegenüber aufhebt.

Diese Haltungen oder Einstellungen finden durch alle Erscheinungsformen der Liebe hin ihre Analogie. Den einen Endpunkt ihres Geltungsbereiches können wir augenscheinlich ins Gebiet der mystischen Liebe verlegen. Bringt doch der geschlechtliche Orgasmus vorübergehend jene Entichung zustande, die der mystische Orgasmus mehr und mehr zum Dauerzustand macht,

und ist doch besonders beim Weibe und werdenden Manne die ganze seelische Einstellung - der Hingabe, der Sehnsucht nach Verschmelzung - verwandt mit jener geistigen Asketik des Religiösen,  jener Versenkung in die Tiefen des Lebens, die bei so Vielen in den Orgasmus des Gottergriffenseins mündet. - Aber die Analogie trifft nicht minder auf

[1] Vgl. Chamberlain, Goethe 107 ('Maximen u. Reflexionen' Nr. 711).


  nach oben 

Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 248)

typische Verhältnisse und Zustände des höheren 'menschlichen' Liebeslebens zu. In jeder vollerblühten Liebe besteht nicht nur ein starkes Bedürfnis nach geistiger Annäherung, nach gegenseitiger Anähnlichung in jenen persönlichen Werten, die bei geistigeren Wesen als Geschlechtsreize wirken können und an welche die wertsteigernde Leistung der Liebe anknüpft; sondern man beobachtet auch häufig das reibungslose Nebeneinander seelischer und körperlicher Hingabe und Verschmelzung.

Die Selbsthingabe des Ehebettes fördert und versinnbildlicht zugleich die völlige Schranken- und Hüllenlosigkeit des seelischen Vertrauens, die geschlechtliche Leidenschaft für einen Andern erschließt alle Quellen der zartesten Einfühlung; oder umgekehrt: die Seligkeit der geistigen Gemeinschaft übersetzt sich mühelos in die Wonnen der Liebesnacht; eine Regung des Mitleids, der Bewunderung, des Vertrauens, der zärtlichen Hilfsbereitschaft, des gemeinsamen Kunstgenusses usw.  leitet in geschlechtliche Gefühle und Handlungen über.

Gleichwohl wäre es völlig verfehlt, in diesen offenbar natürlichen Zusammenhängen einen Beweis der sexualistischen Lehre zu suchen, die in der ausgelösten 'höheren' Leistung lediglich eine Nachahmung der 'niederen' gleichsam in anderem Material, eine Übersetzung von dieser und eben soweit ein bloßes Ab- und Anhängsel erblickt, oder eine weitläufige Vorbereitung des im Grunde angestrebten oder einen Ersatz des verhinderten Geschlechtsaktes.

Die wahre Deutung dieser Zusammenhänge scheint mir eine ganz andere zu sein. Unter jeder Voraussetzung sind nur wenige Grundhaltungen gegeben, die ein lebendes Wesen unter seinesgleichen und der Welt gegenüber einnehmen kann, und sie müssen auf jedem Gebiete - in jeder 'Höhenlage', wenn man so will - wiederkehren.

Selbst angenommen, daß die Gebiete ohne jeden entwicklungsgeschichtlichen und inhaltlichen Zusammenhang sind, so müßte eine bestimmte Einstellung auf dem einen eine analoge Einstellung auf dem andern begünstigen, und die so vermittelte Weckung könnte uns als wesentlicher Zusammenhang oder wohl gar als wurzelhafte Gleichheit erscheinen.

Schon dieser Gedanke könnte verständlich machen, daß geschlechtliche Begier, als ein Zustand der 'Einstellung' und 'naszenten' Bewegung, auch auf seelischem Gebiet jene Mischhaltung von Hingabe und Gestaltung erzeugte, die wir als wertsteigernde 'platonische' Liebe oder als geistigen Verschmelzungsdrang der Liebenden kennen.

Denn der menschliche Organismus ist keine Anhäufung funktionell gegeneinander abgesperrter Organe, sondern ein in allen Stücken zusammenhängendes, in allen Teilen widertönendes Einheitsgebilde. Und dies gilt natürlich in womöglich noch gesteigertem Maße von jenem höchstzusammengesetzten psychophysischen Organ, dessen Allgegenwart, verbunden mit äußerster Leitungsfähigkeit, die Einheit, des Organismus vor allem herstellt: dem Nervensystem, jenem einheitlichen Boden, in welchem alle Instinkte in engster funktioneller Nachbarschaft eingewurzelt sind.


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 249)

Es ist daher ohne weiteres wahrscheinlich, daß jede Erregung - Miterregungen besonders 'haltungsverwandter' Triebe bedingen werde, selbst wenn dieser Verwandtschaft der Einstellung keine Verwandtschaft des Inhalts entspricht.

Vollends einleuchtend aber wird diese Wahrscheinlichkeit, wenn wir bedenken, daß die einzelnen, noch so inhaltsverschiedenen Triebe durch eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte miteinander verkoppelt sind, wie z.B. die rein geschlechtlichen Triebe menschliche Verhältnisse begründen, die dann das natürliche Betätigungsfeld auch der höheren Liebestriebe bilden.

Selbst die wesensverschiedensten Triebe, wenn sie auf gleichzeitiges Sichausleben angewiesen sind, können nicht umhin, in ein Verhältnis gegenseitiger Auslösbarkeit und Abhängigkeit zu geraten.

Auf dem Boden dieser völlig klaren Anschauung wird es uns nunmehr leicht fallen, die Gedanken, mit denen der Begriff der Sublimierung bezüglich der höheren Verstandesleistungen in seine natürlichen Schranken verwiesen wurde, auch auf die angebliche Sublimierung des Geschlechtstriebes zu höheren Liebesregungen anzuwenden.

Wir dürfen auch hier die Geschlechtlichkeit höchstens als Ursprungsquelle von Spannungen auffassen, als die Erzeugerin jenes 'Dampfes', welcher 'Maschinen' oder Organe auch von ganz andersartiger Herkunft, Leistung und Zielstrebigkeit in Gang versetzt. [1]

So finden wir denn auch keine Schwierigkeit mehr in der Behauptung oder dem Nachweise, daß die inneren Absonderungen der Geschlechtsdrüsen in der Entwicklung wie im Lebensverlauf des Einzelwesens eine Bedingung der Ausbildung und der Funktion auch jener vorausgesetzten 'Organe' der höheren Liebesbetätigung bilden.

Welche der zahlreichen zur Wahl stehenden Theorien und Hypothesen über Vererbung und Wachstum wir uns auch aneignen: immer wird der Keimdrüse die Rolle eines allen Endergebnissen des Wachstums gegenüber gleichmäßig wirksamen Reizes zufallen, so daß aus der örtlichen Nachbarschaft dieser Reizquelle mit den im engsten Sinne geschlechtlichen Leistungen in keiner Weise auf eine inhaltliche Verwandtschaft jener Endergebnisse mit den geschlechtlichen Vorgängen, also auf eine bloße Sublimierung dieser letzteren geschlossen werden darf.

Die heute viel besprochenen Beobachtungen Steinachs können dies verdeutlichen. Daß die durch ihn bezweckte Ersparnis innerer Sekretionen die Leistungen der Atmungs-, Kreislauf- und Verdauungsorgane nicht minder als die des Nervensystems belebt, stempelt natürlich jene Leistungen nicht zu geschlechtsverwandten oder zu Sublimierungen der Geschlechtlichkeit.

Und dasselbe gilt offenbar von den inhaltlich durchaus eigenartigen Leistungen der Liebesbefähigung, ganz gleichgültig, wo und wie wir sie 'lokalisiert' denken. Wie notwendig diese Unterscheidung von

[1] Vgl. Brown-Séquards Empfehlung sex. Selbsterregung (aber ohne Entladung) zum Zwecke besond. geistiger Leistungen. Vgl. Pillai 40 über die Suklasthambana der Inder.


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 250)

Reizquelle und Sonderorgan tatsächlich ist, beweist uns die Fülle der Typen, in denen sich uns die gegenseitigen Maßverhältnisse von Geschlechtlichkeit und Sonderbefähigung darstellen: neben dem Menschen von starker Geschlechtlichkeit und gleichzeitiger starker Geistigkeit und Liebesfähigkeit, oder dem, der beider völlig ermangelt, finden wir den Geistes- und Liebesarmen von mächtiger Sexualität, aber auch den Geistes- und Liebesgewaltigen ohne jede Begierde.

Die gleiche Spannkraft kann sich eben bald dem einen, bald dem andern 'Organe' vorzugsweise zuwenden. Und das der Geschlechtlichkeit ist selbst nur eines unter vielen, nicht aber das erste und eigentlich maßgebende.

Die gleichen Schlußfolgerungen sind endlich auch aus der Psychologie des Kastraten zu ziehen, so dunkel und strittig dies Gebiet einstweilen noch sein mag.

Daß viele von den minderwertigen Eigenschaften, die das Volksurteil den Verschnittenen nachsagt - Feigheit, Bosheit, Neugierde, Eitelkeit, Hinterlist u. dgl. m., - erst sekundäre Erzeugnisse ihrer Lage und der Verachtung seien, die ihr Zustand [1] mit sich bringt, ist ein mindestens naheliegender Gedanke. [1]

Sichere Grundlagen des Urteils könnten natürlich nur individual-biographische Beobachtungen bieten; die großen Kastraten der Geschichte scheiden aber für unsern Zusammenhang meist schon darum aus, weil die Operation an ihnen in reiferen Jahren ausgeführt wurde [3], oder weil - wie bei Ongenes - Ihr Umfang überhaupt nicht feststeht.

Nur bei einigen berühmten Sängern aus der Zeit des Belcanto sind alle Bedingungen bündiger Schlußfolgerung erfüllt, und die Betrachtung ihrer Biographien führt Möbius zu dem Schlusse, daß auch Frühkastrierte 'klug, gut und energisch' sein können. [2]

Die verbleibenden Einschränkungen scheinen sich schließlich auf den sog. physischen - Möbius sagt: natürlichen - Mut, d.h. die Lust an Kampf und Gefahr, auf Leidenschaftlichkeit überhaupt und den starken Kunsttrieb zu beziehen, von rein geschlechtlichen Trieben abgesehen, die in 'zerebraler' Form fortbestehen können. 'Alles Begehren wird weniger heftig sein’, faßt Möbius zusammen, ’der Mensch geduldiger und fügsamer werden. Jede Tätigkeit, zu der man Geduld und Ruhe braucht, wird leichter werden, jede, die einen Elan fordert, schwerer.'

'Bei Weibern, denen die Eierstöcke fehlen oder von vornherein verkümmert sind, scheint in der Regel nicht nur der Körper alle sekundären Geschlechtsmerkmale des Weibes zu tragen, sondern auch ein weibliches Empfinden vorhanden zu sein.' [3] Auch Hirschfeld, auf persönliche Beobachtungen sich gründend, fand die rein intellektuellen Fähigkeiten kaum beeinflußt.

Nur glaubte er z.B. bei rumänischen Lipowanen 'großen Mangel an Individualität zu bemerken. Sie zeigen untereinander im Aussehen und Wesen eine viel größere Ähnlichkeit, als sie sonst Männer und Frauen unter sich erkennen lassen. .. Ihrem Charakter nach sind die Eunuchen und Skopzen meist liebenswürdige, zuvorkommende, anhängliche und dankbare Menschen. Fast alle geben viel auf ihr Äußeres,... tragen gern Schmuck, sind fromm, gehen viel in Kirchen und Moscheen, lieben Tiere, besonders Pferde. .. und Kinder.’ [4]

[1] Möbius, Wirk. d. Castr.2S.
[2] aaO.96.
[3] aaO. 99f. 104.
[4] Hirschfeld 170f. Entsprechendes gilt von den ohne Geschlechtsdrüsen Geborenen. Vgl. Angiolellas Fall in JMS XLIX 175. Für völlige Unschädlichkeit der Kastration bezügl. der psych. Eigenschaften argumentiert energisch Dr. C. Rieger: Die CastratioIi in rechtI., sozial. u. vitaler Hinsicht (Jena 1900), bes. 81-101.


Kap XXVI. Psychologie der Liebe.          (S. 251)

Sehen wir also davon ab, daß mit der Kastration die gegengeschlechtigen Eigenschaften gewissermaßen freie Bahn zur Entwicklung zu erlangen scheinen, so lassen sich diese Beobachtungen wohl in dem Satz zusammenfassen, daß die verschiedenen geistigen Anlagen im allgemeinen erhalten bleiben, die durchgehende 'Spannung' der Persönlichkeit, ihr aggressiver 'Dampf' aber eine Verminderung erfährt, ein Satz, der mit der oben allgemein abgeleiteten Anschauung übereinstimmt.

Die Meinung, auf welche alle diese Gedanken und Nachweise hindrängen, besteht offenbar in der Unterordnung des Geschlechtstriebes als Art unter die Gattung eines allgemeineren Triebes, den man beliebig als Lebenstrieb, Wachstumstrieb, Schaffenstrieb oder wie immer bezeichnen mag, wobei unter solchen Namen natürlich keine metaphysischen Mächte behauptet, vielmehr nur Vorgänge zusammengefaßt werden sollen.

Dieser Lebenstrieb aber hat sich - im Wachstum! - betätigt, ehe es in der Natur eine Scheidung der Geschlechter gab und aus dieser die Geschlechtsliebe hatte entstehen können. Wo immer etwas wächst, sich differenziert, sich gefördert findet, auch wo um des Wachstums willen geopfert wird, da mögen wir ihn mit den Augen des Mythikers am Werke sehen.

Solange er nicht Geschöpfe hervorbringt, die körperlich dauern, solange er mithin auf immerwährende Erneuerung der Generationen angewiesen ist, so lange wird der Trieb, der die Geschlechter zueinander treibt, der wichtigste, weil allem andern Schaffen und Wachsen die Daseinsmöglichkeit sichernde Ableger jenes allgemeinen Triebes sein.

Und wie die Sprache des Volkes auch dieses Liebe nennt, so mögen wir wohl den Namen, der für die Meisten die mächtigste erlebte Form des Lebensdranges deckt, auch sonst mit Freigebigkeit verleihen, und in Entstehen und Leben, in jeder fördernden und gestaltenden Erregung, in allem fruchtbaren und aufwärtsführenden Tun, in jeder 'ernsten', 'gläubigen' Stimmung, in jeder Glut, die nährt und treibt, die 'Liebe' am Werke sehen.   

  nach oben                  nächstes Kapitel 


Sie befinden sich auf der Website: 

Hier geht es zur Homepage!