Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XIX. Der Komplex des Mystikers: 1. Kindlichkeit?         (S. 183)

Suchen wir uns der Deutung jenes Komplexes gleichsam in konzentrischen Kreisen zu nähern, indem wir auf Grund der neueren Neurosenlehre zunächst die weniger aussichtsreichen, aber doch noch verlockenden Gedanken erwägen und so dem eigentlichen Mittelpunkt dieser Lehre allmählich näher rücken.

Die Untersuchung wird dabei freilich über die engere Fragestellung vielfach hinausdrängen: neben der Natur des hysterischen Komplexes im Einzelheiligen also die im stark religiösen Menschen überhaupt wirksamen Triebkräfte berühren.

Auch sofern ich aber im Folgenden von der Deutung religiöser Hysterie abzuschweifen scheine, behandle ich tatsächlich seelische Gegebenheiten, die hysteriebildend wirken können: denn sie alle, wie sich zeigen wird, sind Erbgut von großer innewohnender Spannkraft, die bei gegebener Anlage die Fugen des seelischen Baues zum Klaffen bringen können.

Unter diesen ich-geschichtlichen Komplexen, die für eine Deutung in Betracht zu kommen scheinen möchten, ist zunächst einer, der nicht nur in der religiösen Lebensbeschreibung hier und da eine auffallende Rolle spielt und überdies seinem Wesen nach keinem Lebenden fehlt, sondern auch unabhängig davon in der Neurosenforschung als ein Teilgrund seelischer Zersetzung erkannt worden ist.

Ich meine den Komplex der Kindheit. Unsere Psychanalytiker suchen, wie gezeigt, im Unterbewußtsein neben dem Sexual-Triebhaften vor allem das Kindhafte in mannigfachen Schattierungen und schreiben dem Neurotiker, der Welt gegenüber Anpassungsunfähigen und -unwilligen in vielen Fällen die Flucht ins


Kap XIX. Der Komplex des Mystikers: 1. Kindlichkeit?         (S. 184)

Paradies der Kindheit als Zweck und Sinn seiner 'Introversion' zu. [1] Nach Silberer, einem Freudschüler, ist Introversion sogar stets mit Regression verbunden, d.h. mit dem Zurückgreifen auf primitivere seelische Arbeitsweisen, mit dem Zurückstreben in die Kindheit und ihre Lustbetätigungen. [2]

Allgemein gefaßt muß demnach für unsern Zusammenhang die augenblickliche Frage die Form annehmen, ob es denkbarerweise das 'Kind' im Menschen sei, dessen Zur-Macht-kommen den Kernvorgang seiner religiösen Entwicklung ausmache; enger gefaßt: ob der Gegensatz des Kindheitskomplexes zum Ich der Weltanpassung den Erscheinungen der religiösen Hysterie zugrunde liege.

Die Bejahung dieser Frage würde unter anderem voraussetzen, daß 'das Kind' im Menschen über die Zeit der eigentlichen Kindheit des Einzelnen hinaus sich erhalte als eine fortbestehende mögliche Einstellung typischer Art, deren häufiges Einbrechen in den überdeckenden, nachentwickelten Zustand eben durch ihre verdrängte Lage verständlich werde.

Diese Voraussetzung wird gestützt, z.B., durch gewisse Ähnlichkeiten des kindlichen und der somnambulen Zustände, auf die schon seitens der älteren Magnetiseure gelegentlich hingewiesen wurde. [3]

'Nichts ist merkwürdiger,' so faßt Janet seine eigenen Beobachtungen zusammen, 'als wenn man sieht, wie 30jährige Frauen, die im Wachen ernst und kühl-verschlossen sind, sobald sie in Somnambulismus geraten, das Benehmen von kleinen Kindern entwickeln, ununterbrochen spielen, bei jedem Anlaß lachen, lispelnd sprechen, kindliche Sprechfehler und Kindernamen annehmen usw. [4]

Man darf vielleicht in diesem Zusammenhang auch auf Ähnlichkeiten in den Phantasieleistungen des Kindes und des Somnambulen hinweisen, die beide in jede ihnen nahegelegte Rolle mit überraschender Lebendigkeit sich zu finden wissen; das Kind bekanntlich, indem es nicht nur selber mimt und nachahmt, sondern auch alles Umgebende beseelt und mit Romanen umflicht.

Mit Recht hat man die Bereitschaft der Somnambulen, zu halluzinieren oder sich halluzinatorisch-symbolisierende Personifikationen ihrer vorherrschenden Seelentriebe zu schaffen, auf die kindhafte Artung der somnambulen Phase zurückgeführt. [5]

Die oft unzweifelhaft bestehende Verwandtschaft von Somnambulismus und mediumistischem Trans gibt mir schließlich noch Anlaß, an das häufige Auftreten von kindlichen 'Kontrollen', d.h. in diesem Falle: zweiter Persönlichkeiten zu erinnern, wovon Beispiele zu geben nachgerade überflüssig ist. [6]

[1] Vgl. Seif in JPN XIX 290; Freud, Sex. 37; Janet, Obs. I 391ff.; Jung, Zur Psychol. Pathol. sog. okkulter Phän. (Lpz. 1902) über Ableitung von Ichspaltungen aus Tendenzen der infantilen Persönlichkeit.
[2] Silberer 156.
[3] S. z.B. JM 1854 59 (]anet, Aut. 198); Fontan u. Ségard, Médecine suggestive 55; vgl. das sehr häufige und schwerlich 'gezüchtete' Duzen der Somn., z.B. Reichenbach II 550. 684f. 691.
[4] Janet, Aut. 198; auch ders., Actes 259.
[5] Ich erinnere an die gesehenen und gehörten 'Führer-'Gestalten. Vgl. Flournoy, Des Indes 255 üb. couches infantiles encore douées de plasticité et de mobilité; das. 415; Silberer 155f.; Pratt 212. 214f.
[6] S. z.B. Dr. Freudenberg üb. mediumist. Typen: PS XXXIV 464; Aksakow, Démat. 192. Vgl. das Vorkommen von Spiegelschrift bei automatisch Schreibenden und bei Kindern (Prof. G. T. W. Patrick in PR V 578),


Kap XIX. Der Komplex des Mystikers: 1. Kindlichkeit?         (S. 185)

Die Zusammenhänge, durch welche diese Andeutungen für uns Interesse gewinnen, sind dem Leser wohl schon bewußt geworden. Der Erweckungskomplex, der ja auch der neurotische Komplex des hysterischen Heiligen sein müßte, ruht in den Tiefen, die durch den Eintritt in Somnambulismus mehr oder minder bloßgelegt werden; somnambule und ekstatische Einstellungen sind ebenso psychologische Geschwister, wie Ekstase und Bekehrung wurzelverwandt sind.

Soweit also die somnambule Phase sich als eine kindliche darstellt, begründet sich die Vermutung, daß auch der erweckliche Komplex an diesem Charakter teilhabe; zumal er so häufig hysteriebildend auftritt und Regression in die Kindheit, wie wir erfuhren, ein Wesensmerkmal der Hysterischen überhaupt ist.

Tatsächlich nun spielen kindliche Phasen zuweilen eine auffallende Rolle im Innenleben auch der Heiligen.

S. Hildegard z.B. sagt von sich selbst, daß sie bei ihren häufigen Zuständen des Schauens 'mehr das Wesen eines Kindes, als des reifen Alters an sich habe', [1] und eine späte Nachtreterin in ihren besonderen Wegen, die Anna Katharina Emmerich in Dülmen, welcher Ähnliches während ihres fast ununterbrochenen Schauens geschah, erhielt von ihrem 'Schutzengel' auf ihre Frage die Antwort:

'Wärest du nicht in Wirklichkeit ein Kind, so könnte dies nicht geschehen.' [2] Andere Religiöse durchleben in soz. normalem Zustande Perioden, in denen sie selbst sich wieder Kind geworden dünken und den entsprechenden Eindruck auf Andere machen. Mme. Guyon trat 1683, vielleicht im Zusammenhang mit einem Fieber (sie litt damals an Nasengeschwüren), in den 'Stand der heiligen Kindheit Jesu' ein, wie sie es bezeichnet.

Ihr Gebaren - bald weinte, bald schäkerte sie - war dabei anscheinend das eines Kindes, und selbst ihr Gesichtsausdruck soll Andern als ein kindlicher erschienen sein. - Auch Marie de l'Incarnation erhielt die 'Gnade der Kindheit' während einer Verzückung, die beinahe drei Tage anhielt, wonach sie die Sanftheit und Anmut eines 6- oder 7jährigen Kindes hatte; und von der Schwester Marguerite werden die kindlichsten Handlungen berichtet, die sie während einer drei Monate fast ununterbrochen anhaltenden convulsion d'en!ance verrichtet habe. [3]

Immerhin ist die Beobachtung solcher kindlicher Phasen innerhalb des Heiligenlebens eine zu seltene, als daß sie weitreichenden Schlußfolgerungen zur Stütze dienen könnte. Es ist auch nicht ersichtlich, daß diese Phasen stets oder jemals Steigerungen des heiligen Lebens bedeutet hätten (was sie doch müßten, wenn sie sein inneres Wesen andeuteten), ja daß sie auch nur stets 'religiöse' Inhalte, sei es des Schauens, sei es des HandeIns dargeboten hätten.

Nichts hindert, soweit ich sehen kann, diese Vorgänge als persönliche Besonderheiten der hysterischen Äußerung einzelner Heiliger zu betrachten, wesensverwandt den kindlichen Phasen profaner Hysterischer der Klinik.

[1] Acta S. Hild., ed. Migne, p. 14 (bei Schmöger. - Emmerich II 11).
[2] Emmerich II 4.
[3] Calmeil II 39I (nach Montgeron),


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Kap XIX. Der Komplex des Mystikers: 1. Kindlichkeit?         (S. 186)

Dessen ungeachtet könnte man versucht sein, unserer ersten Vermutung eine etwas genauere und dabei allgemeiner anwendbare Fassung zu geben.

Es ist unbestreitbar, daß die Kindheit oder aber Jugend im Leben vieler Menschen diejenige Zeit ist, in der die religiösen Vorstellungen, von Zweifeln unberührt, am stärksten in der Seele Wurzel fassen können; ist doch nach psychanalytischer Anschauung die religiöse Haltung ohnehin nur ein Abgeleitetes der inneren Einstellung des Kindes gegenüber der elterlichen Allwissenheit, AIlmacht und AIlgüte. [1]

Diese MachtsteIlung büßen die religiösen VorsteIlungen später häufig ein. Ernst Moritz Arndts 'Ich betete als Knabe mit Inbrunst, lachte und spottete als Jüngling mit Frechheit' - wie viele nicht können es auf sich selber anwenden! [2]

Aber die Gedanken und Überzeugungen des Kindes sterben nicht notwendig ab; sie glimmen häufig genug unter der Asche fort und überdauern so die Stürme der geistigen Entwicklung. Die 'Welt' schiebt sie in den Hintergrund, aber wenn sie wieder auftauchen, kehrt man zur Kirche zurück, d.i. zur Kindheit: man bekehrt sich; [3] mit andern Worten: ein kindlicher Komplex rückt wiederum in den Mittelpunkt des seelischen Kräftespiels. -

Oder, wo ein verstandesmäßiger Bruch mit den Überzeugungen der Kindheit nicht erfolgte, da mag doch ihr Gefühlston mit der Zeit geschwunden sein; dessen Wiederkehr wäre nicht minder eine Rückkehr zur Kindheit.

Es ist ja ein typischer, vielfach belegbarer Verlauf des HeiIigenlebens, daß nach einer äußerst frommen Kindheit eine zweite Periode der 'Erkaltung" und dann erst die endgültige Wendung zur Religiosität folgt, welche somit gleichzeitig eine Rückwendung zur Art der Kindheit ist.

Auch lesen wir nachgerade genug von 'Bekehrungen', also jedenfaIls gefühlsstarken religiösen Erlebnissen sogar in früher Kindheit, - wie sehr auch die große Nachahmungsfähigkeit des Kindes einen Zweifel an der Eindeutigkeit solcher Vorkommnisse begründen mag. [4]

Von diesen, bei den Fassungen der fraglichen Hypothese, ist augenscheinlich die zweite, das Gefühls- und WiIIensleben in den Vordergrund steIlende, für uns die wichtigere: denn nicht in einer verstandesmäßigen Behebung von Zweifeln oder Begründung von Glauben besteht ja die Bekehrung;

die sonst auch nicht zu deuten wäre in Zeiten oder inmitten von Kulturgemeinschaften, denen jeder Zweifel an religiösen Lehren völlig fern lag - abgesehen davon, daß die vorstelIungsmäßige Wiederbelebung der kindlichen Religion gar nicht die Gotteserfahrungen des Mystikers, sondern wohl meist den 'heidnischen', phantastischen, grotesken 'Aberglauben' des Kindesalters wieder hervorkehren müßte. [5]

[1] Vgl. z.B. P. Bovet, Le sent. rel., in Rev. de Théol. et de Philos. Nr. 32, und ders., Le sent. filial et la religion, das. Nr. 36, ref. in Imago VII (1921) 201f.
[2] Vgl. Kanne II 270ff., bes. 290 (über sich selbst).
[3] Dies Fursacs Deutung der Revival-Bekehrungen: Fursac 73.
[4] Beispiele bei Edwards, Narrative 109ff.; Gibson 271ff.; M'Nemar 20; Cutten 267f.
[5] Vgl. hierzu Thomsen in AR IX (1906) 415. Über eigenartige kindl. Religionsvorstellungen s. z.B. Pratt 201 ff.; Cutten 271 ff. (Lit. bei beiden.)


Kap XIX. Der Komplex des Mystikers: 1. Kindlichkeit?         (S. 187)

Aber auch der mehr gefühlsmäßigen Religiosität des Kindes gegenüber erhebt sich die Frage, ob sie und ob das kindliche Wesen überhaupt mit dem typischen Erwerb einer Erweckung im tieferen Sinne verglichen werden könne. Die Beobachtungen kindlichen Gemütslebens, aus denen die Beantwortung dieser Frage zu schöpfen hätte, bieten in Wahrheit eine Mannigfaltigkeit dar, die vor übereilten Verähnlichungen durchaus warnen muß.

Es ist richtig, daß Kinder, auch Knaben, schon in sehr zartem Alter oft einen Reichtum an Liebe und Zärtlichkeit zeigen, der sich später unter den umkrustenden und unterdrückenden Einflüssen des Lebens fast völlig von der Oberfläche zurückzieht, also wohl das Material zu einer unterirdischen Reifung mit dem Ziele späteren Durchbruches geben könnte.

Aber sicherlich lassen sich solchen Beobachtungen andere gegenüberstellen, die in dem Kinde den ganzen rücksichtslosen Egoismus seines wesentlich schmarotzerischen Daseins finden; eine Grausamkeit, der nicht nur jedes Gefühl für fremdes Wehe fehlt, sondern die im Wehtun eine reiche Quelle eigener Lust entdeckt; [1] dazu eine Eitelkeit, die sich mit bewundernswerter Berechnung in Szene zu setzen weiß, kurz: eine Verkapselung in dem kleinen und engen Selbst, die das Gegenteil des erwecklichen Selbstverlustes darstellt.

Auch das Kind vermag zu lieben, und zwar im Durchschnitt mit einer Frühreife, die man mit Unrecht nur gewissen genialen Naturen hat zuschreiben wollen. Selbst während der frühesten Jahre [2] trägt die Liebe zwischen Kind und Kind sehr häufig alle Kennzeichen der Leidenschaft des späteren Lebens, mit alleiniger Ausnahme der geschlechtlichen Betätigung':

die kleinen Verliebten suchen die Gegenwart des Andern mit der gleichen Heftigkeit und Unermüdlichkeit; sie umarmen, küssen, liebkosen einander; sie opfern für den Geliebten ohne Zögern ihre kostbarsten Besitztümer, übernehmen für ihn jede Gefahr, haben dieselben tausenderlei Aufmerksamkeiten für einander; sie werden bei einer Trennung mit dem gleichen leidenschaftlichen Schmerz geschlagen, der bis zu Krankheit und Selbstmordversuchen führen kann.

Aber diese Liebe ist eben, wie man sieht, kein Sonderbesitz der Kinder; sie unterscheidet sich vom religiösen Liebesleben nicht weniger, als dieses vom leidenschaftlichen Liebesleben des unerweckten Erwachsenen überhaupt, sie hat dieselbe bedenkenlose Beimischung von Selbstsucht, und sie verträgt sich mit allen Zügen allgemeiner Selbstsucht, die in dem erwachsenen leidenschaftlich Liebenden außerhalb des leidenschaftlichen Einzelverhältnisses in ungehinderter Blüte stehen können.

Das Urteil, das in dem Worte 'So ihr nicht werdet wie die Kinder.. .' gleichwohl eine bedeutsame Wahrheit wittert, dürfte sich denn auch in der Tat auf andere Züge des kindlichen Seelenlebens beziehen, als gerade

[1] Über Grausamkeit 'aller Kleinen' s. Sadger (Üb. d. sado-masochist. Komplex) in JPPF V bes. 163f.
[2] d.i. während der 'ersten' Periode (3.-8.J.): S. Bell, A prelim. study of the emotion of love betw. the sexes, in AJP XIII (1902) 325ff. (1700 Fälle).


Kap XIX. Der Komplex des Mystikers: 1. Kindlichkeit?         (S. 188)

seine Heiligkeit im Sinne selbstvergessener Liebe und Gottversunkenheit. Die unbefangene Inbrunst und unüberlegende Stärke des kindlichen Gefühls, die Unmittelbarkeit und Hingegebenheit der Welt gegenüber, die blütenhafte, hilflos-unfragende 'Abhängigkeit' von ihr und Unterwerfung unter die lebentragenden Mächte, das Schwimmen auf den Tiefen, die sich gegen die Ursprünge hin erstrecken, -

alle diese Züge, die der heranwachsende, auf sich selbst aufmerksam werdende, lernende, enttäuschte und kämpfende Mensch nur zu früh verliert, die er nur in der kindlichen Phase des Traumlebens gelegentlich wiedererlangt, haben in der Tat eine wesentliche Verwandtschaft mit Zügen, die auch der machtvoll zu religiösem Leben Durchdringende zurückgewinnt.

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