Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XVII. Erweckungsbewegung und Hysterie.         (S. 176)

Nun ist es ja aber gerade ein Merkmal der 'Hysterie', daß sie eine große Kraft und Eigenart des Charakters nicht ausschließt, dagegen eine Zerklüftung und Gegeneinanderschaltung seelischer Energien annimmt, die wohl abnorme Zustände und Abläufe inmitten von Macht und Gewaltsamkeit der Anlage und Leistungen erzeugen mag.

Die 'Mär vom hysterischen Charakter' hat längst ihre allgemeine Geltung eingebüßt. Daß alle Hysterischen gemütsseicht, lieblos, undankbar, eigensinnig, lügenhaft, boshaft, ränkevoll, herrschsüchtig, eitel, unstet, launenhaft, anmaßend seien, [3] bestreiten jetzt viele der besten Beobachter. [4]

Das Gegenteil solcher Eigenschaften werde bei ihnen ebensogut angetroffen, und 'wo sie vorkämen, deuteten sie vielmehr' auf eine der Hysterie beigeordnete psychopathische Belastung. Mehr noch: Neurologen von Rang sind der Meinung, daß nicht nur unter Hysterischen hervorragende Leistungen nicht ausgeschlossen seien, sondern die Hysterie in manchen Fällen beinahe die Vorbedingung solcher Leistungen sei, - ein Urteil, das wir mit der Zeit noch besser verstehen werden.

Das pathologische Problem der mystischen Inhalte stellt sich also erst recht in ganzer Schärfe, wenn es auf das Gebiet der hysteriologischen Begriffe hinübergespielt wird; ja auf keinem andern Gebiet ist der Frage nach dem Wesen jener Inhalte mystischen Erlebens so entschlossen

[3] z.B. nach Huchard, Lehrb. der Neurosen. S. Beispiele bei Binswanger 341 ff.
[4] A. Binet spottet über die 'literarischen Theorien' der Hysterie. Vgl. auch ZH VI 129ff. und Jung, Dementia 86f.


Kap XVII. Erweckungsbewegung und Hysterie.         (S. 177)

nachgegangen worden, als eben auf diesem. Ich beabsichtige demnach, die Erscheinungsformen der geistlichen Entwicklung zu betrachten, soweit sie sich dem Bilde hysterischer Zustände einzuordnen scheinen, um auf diesem Wege der Inhaltserforschung der mystisch-hysterischen Komplexe und ihrer etwaigen Auswirkung an der Oberfläche religiösen Erlebens näherzutreten.

Dabei gehe ich in größter Kürze über die Anfangsstufen des religiösen Weges hinweg, die ja unter einem ähnlichen Gesichtspunkt bereits besprochen wurden, die aber häufig auch Symptome darbieten, welche an die klassischen Schilderungen der 'großen Hysterie' erinnern.

Ich verweise z.B. auf die Krampfvorgänge, die in erregten Erweckungsversammlungen oft als wahre Massenerscheinungen aufgetreten sind. [1] Die schlagende Ähnlichkeit einzelner dieser Symptome mit klinisch beobachtbaren stützt ihre Deutung als mindestens 'hysteroider' Erscheinungen.

Die eigentümlichen Krampferscheinungen, der 'Kreisbogen', die zeitweilige erstaunliche Kraftentwicklung, das unglaublich schnelle Werfen und Bewegen des Kopfes und einzelner Glieder, die Lähmungen, Katalepsien, vorübergehenden Anästhesien, das Heulen, Bellen, Miauen, die Sprachlosigkeit, die Erstickungsempfindungen – dies 'alles' sind dem Hysteriologen wohlbekannte Dinge. [2]

Die übliche Deutung der Pathologen besagt denn auch, daß die Subjekte, die solche Erscheinungen der 'Erweckung' darbieten, entweder von Haus aus Hysterische seien, oder durch die Erregung des Augenblicks - z T. auf der vorbereitenden Grundlage allgemeiner zersetzender Einflüsse: wirtschaftlicher Notlage, politischen Druckes, körperlicher Unterernährung - gleichsam in einen vorübergehenden hysterischen Zustand versetzt würden.

Für eine solche von Gesichtspunkten des 'geistlichen' Lebens ganz absehende Deutung spricht ferner, daß die Erregung des revival nicht bloß die seelische Umgebung einmaliger 'Bekehrungen' abgibt, sondern einen weit über die Erde verbreiteten Gewohnheitskult rauschartiger Zustände mit automatenhaften Bewegungserscheinungen nachbildet.

Der Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen höherer Art erscheint etwa schon in den Sekten des 'wilderen' Rußland als ein beinahe zufälliger. Die 'radenije' der Chlysten z.B. [3] mit ihren Tänzen - selbst kaum des Gehens Fähige erklimmen durch den 'Geist' ein rasendes

[1] Schluchzen, Seufzen, Ohnmachten, Durcheinanderstürzen (Finney, Autobiogr. 134-42; Bois 229-31; Gibson 82), Echopraxie und Echolalie, Zuckungen, Krämpfe, Springen, Tanzen (Perty, M. E. II 344f. über Wesleys Versamml.), Lachen, 'Bellen', 'Rucken', 'Rollen', Kreisbogenschlagen usw. Vgl. noch Preger III 124f.; Zöckler 624; Riley 260ff.; Cutten 181.185; Grass 272ff.; Dyer 50; M'Nemar 61.62 (rasend schnelle Kopfdrehungen); Drews in der 'ChristI. Welt' 1908 Nr. 11; Yandell 345 (Epid. convuls.); Nordhoff 243; Davenport 80; Grégoire, Hist. des sectes rel. (Par. 1828) IV 480ff.; Th. Schröder in Imago III 198.
[2] Richer 204 u. sonst; Esquirol bei King I 221; Einzelporträts s. JMS VI 172; üb. d. Rolle der Nachahmung: Yandell 344. 348; Kremer 84f.; über örtliche 'Moden': Granger 106 u. sonst. Experiment. Nachweis von Labilität und Suggestibilität: Dr. Beard in Journ. of Science III (Lond. 1881) 87ff.
[3] Grass 272ff.; vgl. 266ff.


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Kap XVII. Erweckungsbewegung und Hysterie.         (S. 178)

Zeitmaß -, mit ihren Krämpfen, Zittern, Schäumen, Hinstürzen, Weinen und Lachen gibt sich als religiös eben nur, weil die Rauschfreude und übermenschliche Muskelleistung naiv genug der Vereinigung der Seele mit Gott zugeschrieben wird.

Aber ähnliche orgiastische Kulte finden sich ja noch heute fast in jedem Erdteil in annähernd gleichen Formen in gewohnheitsmäßiger Übung. [1] Bei den Erregungserscheinungen der Erweckungsversammlungen spielt denn auch psychische Ansteckung von innerlich Unbeteiligten nachweislich eine sehr große Rolle. [2]

Die 'religiösen Bewegungen' erscheinen also in dieser Beleuchtung z.T. durchaus als Parallelerscheinungen nicht nur der orgiastischen Kulte, sondern auch jener zahllosen 'hysterischen' Epidemien ohne jeden, oder mit sehr nebensächlichem, religiösen Einschlag, die, wie wir wissen, seit altersher tiefstehende, gedrückt oder einsam lebende, schlecht ernährte, erregbare Volksschichten und Rassen zeitweilig heimgesucht haben. [3]

Das religiöse Element, soweit ein solches vorhanden, wäre dann durchaus als 'zufällige' Beimengung und reiner Schein bei den Einen, als bloße Nachahmung bei den Andern aufzufassen.

Das orgiastische Element aber, soweit ein solches vorhanden, entspränge der Verlockung zum Rausch, die ja zumal für den leidenden und labilen Menschen von jeher bestanden hat, der Verlockung zur Entfesselung des Automatischen, des Menschlichurtümlichen, selbst des Tierischen; zum Versinken in jenem Chaotischen, zu dessen Zügelung und Überwindung die harte Schule des kulturellen Aufstiegs ihn gezwungen.

Daß sich gewisse dieser wilden Massenbewegungen vor andern durch entschieden versittlichende Wirkungen auf die Allgemeinheit auszeichnen, [4] braucht nicht irgendwelche religiöse Bedeutsamkeit auch der Krampfzustände zu beweisen.

Vielmehr läßt sich manches dafür anführen, daß diese letzteren mehr den 'Außenseitern' und Mitläufern der Bewegung zugehören; wie denn - soweit die Berichte ein Eingehen auf individuelle Unterschiede überhaupt zulassen - gerade die moralisch durchschaubaren unter den bedeutsameren Erfahrungen meist nicht über verhältnismäßig milde Erregungserscheinungen hinausgehen: Sichwinden in Sündenangst, Hinstürzen, Zähneknirschen, Zungennagen, Zittern, Schreien,

[1] Vgl. z.B. Brosselard, Les Khouans 26f.; Dr. Zambaco in PM XII (1884) 774f. (üb. d. Naxi-Bendis; Z. diagnostiziert 'Hysterie'); M. Busch, Wunderliche Heilige (Lpz. 1879) 44ff. 49ff. (tanz. Derwische), 98ff. (Shakertanz).
[2] Das Zugeständnis völliger Unbekehrtheit nach Darbietung solcher Symptome z.B. bei Gibson 353. 363ff. 289 (Rev. A. Caldwell); Cutten 194. 'Ansteckung' völlig Unbeteiligter und religiös Unberührter: Velthausen in AZP XIX 275ff. und (besonders merkwürdig) B.O. Flower, Whittier Prophet, Seer and Man 60. Angestecktwerden von Ungläubigen und Spöttern: Davenport 79f.; Yandell 347f.; Gibson 136; Riley 266; Nordboff 209. Ausbleiben der erregten Symptome infolge Gegensuggestionen: Gibson 265f. 337; Davenport 34. 149. 153. 157; Yandell 349.
[3] S., außer Hecker, z.B. Horsts ZauberbibI. I 222ff.; Dr. Leuch (ref.) in ZH IV 391f. Gegen Übertreibung des 'hysterischen' Elements: Helipach 85ff. 89ff..
[4] Wretholm 125; Stoll 266 (tanzende Derwische).


Kap XVII. Erweckungsbewegung und Hysterie.         (S. 179)

Hinfälligkeit, allenfalls Ohnmachten. [1] Sollte sich aber irgendwo ein Zusammengehen noch heftigerer Symptome mit wirklicher 'Bekehrung' nachweisen lassen, so bliebe uns immer noch der Hinweis darauf, daß ja die 'religiöse Krise, gerade als Umlagerung des Ichzentrums, sehr wohl einen vorübergehenden Zustand der inneren Anarchie herbeiführen könne';

die tumultuösen Äußerungen des Erweckten wären dann etwa der motorischen Erregung mancher Subjekte unter Betäubungsmitteln [2] oder den Krämpfen erstmalig Hypnotisierter [3] zu vergleichen, oder noch besser den Zuckungen und Krämpfen, die wir in Augenblicken vor dem Eintritt eines ausgebildeten Automatismus oder einer 'zweiten' Persönlichkeit beobachten [4] und die offenbar auch den anarchischen Zustand zwischen der normalen Wach- und der 'anderen' Phase bezeichnen.

Entwickelt sich die 'Ataxie", die in den Krampfzufällen sich augenscheinlich ausspricht, zur Aufhebung zureichender Innervation überhaupt, soz. zu einem Leerzustand zwischen zwei Kontrollen des 'Körpers’, so erhalten wir, wie es scheint, jene Schwächezustände und schließlich völligen Synkopen, die wiederum sowohl bei der Bekehrungskrise als auch bei allen Vertretern seelischer Gespaltenheit - Hysterischen, Somnambulen, Alternierenden, Medien - gelegentlich zu beobachten sind.

Bekehrungskandidaten fallen häufig 'wie vom Schuß getroffen' und liegen stundenlang ohnmächtig, jedenfalls unfähig, sich zu rühren. Selbst zu sitzen oder zu knien ist ihnen nicht möglich. [5]

Endlich wollen wir nicht übersehen, daß auch die von Haus aus orgiastischen Kulte häufig (und vielleicht ursprünglich immer) den Zweck verfolgen, Zustände der Besessenheit, d.h. einen seelischen Phasenwechsel herbeizuführen.

Sie kehren das Zeit- und Ursachenverhältnis von motorischer Erregung und innerem Umschlag zwar um, belassen ihnen aber ihre Zusammengehörigkeit, und die wichtigere Frage würde sich auch hier nicht auf das äußere Beiwerk, sondern auf die etwaige Bedeutung des seelischen Ergebnisses richten. Unsere Untersuchung dieser Bedeutung aber steht erst in ihren Anfängen. [6]

[1] S. Finney, Autob. 164f. 219f. 25If.; Gibson 79.
[2] Silk 74; Clarke 190. Echopraxie und -lalie der Hypnotischen: Janet, Aut. 18; W. Preyer, Entdeckung des Hypnotismus 95.
[3] Deutung durch Zirkulationsstörungen bei Döllken in ZH IV i06.
[4] z.B. Richer 303f. Beim Übertritt aus einer Ich-Phase in die andere: Dr. Theyskens bei Verreest in Bull. de l' Acad. Royale de MM. de Belgique, 3e sér. XVI 540; Schröder v. d. Kolks Fall bei du Prel, Ph. d. M. 338f. Entsprechend natürlich bei Transmedien: s. z.B. Lodge in Pr VI 444; Pr XIII 292; vgl. Janet, Aut. 362; Flournoy, Des Indes 69; Prof. Acevedo in PS XXVII 69; Dr. v. Krasnicki in PS XXIV 413f. 'Religiöse' Analogien: Elie Marion, der Cevennois, bei Kreyher I 62.
[5] McIlwaine 190; Davenport 77. Mehrstündige oder -tägige Reg- und Sprachlosigkeit: Finney, Autob. 52f.; Gibson 96; McIlwaine 186f.; M'Nemar 32. Synkope und Lethargie als Durchgangserscheinung zwischen zwei Phasen: Janet, Aut. 45 f.; mediumistisch: Acevedo in PS XXVII 69; Flournoy, Des Indes 65; vgl. 87f. über Synkopen als Äquivalent des hyster. Anfalls: Richer 169ff.
[6] Daß die erwähnten Vorgänge auch bei echten Bekehrungen nur mögliche, nicht aber notwendige Begleiterscheinungen seien (abhängig von Anlagen des Einzelnen oder der Rasse), versteht sich von selbst. Vgl. hierzu etwa Gibson 42. 50. 221; Velthausen. aaO. 287; JMS VI 173.


Kap XVII. Erweckungsbewegung und Hysterie.         (S. 180)

Durch alle solche Überlegungen verlieren die hysteroiden Erscheinungen der 'epidemischen' Bekehrungen entschieden viel von ihrer Wichtigkeit. Sie sind 'zweideutig'; und selbst wo sie eindeutig sind, stellen sie Vorgänge zweiter Hand dar.

Ihre Einordnung seitens ärztlicher Beurteiler unter den berüchtigt dunkeln (und ebendaher 'besonders nützlichen') Begriff der Hysterie stellt am Ende wenig mehr als eine Übereilung dar. Eine Hysterie, die vor der Erweckung nicht bestand und nach ihr alsbald verschwindet, fordert augenscheinlich eine psychologische Sonderableitung weit dringender, als eine bloße Etikettierung nach äußerlichen Ähnlichkeiten.

Um so lieber werden wir unsere Problemstellung nunmehr auf die Betrachtung jener dauernden Hysterien hinüberschieben, die mit sehr viel besseren Gründen dem typischen Heiligenleben zugeschrieben wird.  

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