Bernt Högsdal
 
"
Wo ist die Oma jetzt?"

Eine Familie auf der Suche nach dem Woher und Wohin des Lebens


1 "Wo ist die Oma jetzt?"

1.1 Der Tod der Oma

1.1.1 Die Todesnachricht
Hans stand am Fenster seines Arbeitszimmers und beobachtete den Sonnenuntergang, der heute besonders stimmungsvoll war. Als er die dritte Zigarette innerhalb einer Stunde ausdrückte, klingelte das Telefon. Was er seit Tagen befürchtet hatte, war eingetroffen.

Seine Schwester Inge teilte ihm in kurzen Worten mit, dass seine Mutter soeben verstorben war. Die Krankenschwester auf der Intensivstation war nur für zehn Minuten aus dem Raum gegangen, und bei ihrer Rückkehr stellte sie fest, dass Frau Becker plötzlich gestorben war.

Selbst der Chefarzt war überrascht über den plötzlichen Tod und hatte sofort alle denkbaren Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet - vergebens. Hans verabredete sich mit seiner Schwester für den nächsten Tag, um die Beerdigung und die Auflösung der Wohnung der Mutter zu planen.

Obwohl Hans gewusst hatte, dass wenig Aussicht auf Besserung oder gar Heilung seiner Mutter bestand, hatte er gehofft, dass sie ihr Krebsleiden überstehen würde. Den Gedanken, dass seine Mutter sterben würde, hatte er immer verdrängt und er merkte, wie unvorbereitet und hilflos er dieser Situation gegenüberstand. Er hatte heimlich in den letzten Wochen begonnen, für seine Mutter zu beten, aber entweder war es damit zu spät oder seine Gebete wurden nicht gehört.

Die Sonne verschwand endgültig hinter dem Hügel am Ortsrand und Hans spürte, wie er selber körperlich und seelisch langsam in einem dunklen Etwas versank. Tausend Gedanken zum 'Mysterium und Sinn des Todes' gingen ihm durch den Kopf, aber keiner der Gedanken schien ihm etwas Aufklärendes zu enthalten.

Er ging ins Wohnzimmer und versuchte gefasst, seiner Frau Vera und den Kindern Lisa und Dirk die Nachricht seiner Schwester mitzuteilen. Niemand sagte etwas. Schließlich nahm Vera Hans in den Arm und sagte: "Oma ist jetzt von ihren Schmerzen erlöst und ich bin dankbar, dass sie nicht länger leiden muss." Lisa ging weinend mit einem Bild von der Oma in der Hand Richtung Kinderzimmer und Dirk versuchte vergeblich, seine Tränen zurückzuhalten.

Am nächsten Vormittag meldeten sich mehrere Beerdigungsinstitute mit der Bitte um Besuchstermine. Während der Gespräche mit den Vertretern der Institute wurde Hans bewusst, dass die Regelung eines Todesfalles ein normales 'Geschäft' für sie war. Prospekte, Leistungskataloge, Kosten und Termine standen im Vordergrund.

Zunächst wurde die Todesanzeige gestaltet. Es war nicht einfach, die passenden Texte aus der Datenbank des Vertreters auszuwählen.

Wenn die Kraft zu Ende geht, ist der Erlöser nah. Frau Gerda Becker geb. Schneider * 04.06.1921 † 12.04.2001 Hans, Vera, Lisa und Dirk Becker Inge und Peter Fischer Die Trauerfeier mit anschließender Urnenbeisetzung findet am 18.04.2001 um 10:00 Uhr auf dem Friedhof statt.

Abends kam der Pastor, um der Familie Trost zu spenden und um einige Daten aus dem Leben der Oma für die Ansprache in der Kirche zu bekommen. Der Pastor war erst seit einem Jahr in der Gemeinde und bedauerte, dass er Frau Becker nicht persönlich kennen gelernt hatte.

Hans erzählte, dass seine Mutter nach der Schule eine Lehre als Textilverkäuferin absolviert hatte. Während des zweiten Weltkriegs musste sie im Krankenhaus arbeiten. 1948 heiratete sie mit 27 Jahren ihren Verlobten Heinz, der von Beruf Maurer war. Er, Hans, wurde 1957 geboren, vier Jahre nach seiner Schwester Inge.

Als Hans erwähnte, dass sein Vater 1967 vom Gerüst gefallen und sofort tot gewesen war, kamen ihm wieder die Erinnerungen an den damaligen Schock und es fiel ihm schwer, weiterzusprechen. Er verlor damals nicht nur seinen Vater, sondern auch eine gesicherte Zukunft. Sie mussten zu dritt in eine kleine Wohnung umziehen und seine Mutter war gezwungen, eine Arbeit anzunehmen.

Von der Unfallversicherung des Vaters blieb gerade so viel, dass seine Mutter die Wohnung kaufen konnte. Mit 63 Jahren hörte seine Mutter auf zu arbeiten und war danach eine gern gesehene Babysitterin bei der Familie Becker. Vor zwei Jahren wurde bei ihr Krebs festgestellt, und seither war sie in ständiger ärztlicher Behandlung.

Der Pastor blieb zum Abendessen und bat darum, dass jedes Familienmitglied etwas über sich, seinen Werdegang und seine Interessen erzählte; er wollte sie alle etwas näher kennenlernen.

Vera begann: "Ich heiße Vera Becker und bin 1959 geboren. Ich arbeite halbtags als Arzthelferin, bin seit 1983 mit Hans verheiratet. Ich bin katholisch, wir haben auch katholisch geheiratet und die Kinder sind ebenfalls katholisch. In meiner Freizeit beschäftige ich mich mit Literatur zu philosophischen Themen, mit alternativer Medizin, Musik, Wandern, Kochen und dem Wohlergehen meiner Familie."

"Mein Name ist Hans Becker, Jahrgang 1957. Ich bin Wirtschaftsingenieur und arbeite als Abteilungsleiter im Montagebereich bei der Maschinenbau AG. Das Unternehmen ist - wie Sie wissen - der größte Arbeitgeber hier am Ort. Ich bin evangelisch.

Aufgrund der wirtschaftlich angespannten Situation der letzten Jahre muss ich 10-12 Stunden am Tag arbeiten und habe dadurch leider keine Zeit für die Kirche gehabt. Meine Hobbies sind Heimwerken, technische Literatur, Managementthemen und Wandern."

"Ich bin der Dirk, bin 16 Jahre alt und gehe in die 11. Klasse. Ich interessiere mich für den Buddhismus. In unserer Clique diskutieren wir oft darüber. Meine Hobbies sind Fernsehen und mein Mofa. Außerdem ist mir die Zeit mit meiner Freundin sehr wichtig. Ich habe einen kleinen Job im Baumarkt, weil das bisschen Taschengeld von meinen Eltern hinten und vorne nicht reicht."

Jetzt war Lisa an der Reihe. Sie bekam einen roten Kopf und starrte verlegen auf ihren Teller, da sie keine Übung darin hatte, sich bei Fremden vorzustellen. Bis jetzt hatte dies immer ihre Mutter für sie getan. Leise und mit zusammengekniffenem Mund, um die Zahnspange nicht zu zeigen, sagte sie: "Ich heiße Lisa und bin zwölf. Ich mag Mutter Maria und die Engel. Sonst sind meine Hobbies Fernsehen, Zeichnen und Bücher über Tiere."

Anschließend erzählte der Pastor über seinen Werdegang, bedankte sich für das Abendessen und wünschte "Auf Wiedersehen zur Beerdigung in drei Tagen".

1.1.2 Die Beerdigung
Etwa fünfzig Trauergäste waren zu der Beerdigung gekommen. Viele davon hatte Hans nie zuvor gesehen. Vielleicht alte Bekannte und Nachbarn? Hans hatte gefühlsmäßige Schwierigkeiten zu erfassen, dass seine Mutter in dem aufgebahrten Sarg lag. Es war irgendwie unwirklich und mit den Sinnen nicht greifbar.

Dennoch war es nüchterne Realität. An die Beerdigung seines Vaters hatte er keine Erinnerung mehr außer an das Gefühl eines bösen Traums. Jetzt, mit seiner Mutter, war es anders, und mit ihren fast achtundsiebzig Jahren schien es ihm auch etwas natürlicher.

Der Pastor war gut vorbereitet, und die Eingangsworte, die Lieder, die Lesung, das Gebet und die Predigt gaben der Beerdigung eine sehr feierliche und persönliche Note.

Nach der Beerdigung kam als Erste Tante Ulla zu Hans und seiner Schwester und sagte: "Mit dem Wetter hat Gerda aber Glück gehabt und dazu auch so eine schöne Grabstelle bekommen. Hoffentlich geht es mir selber eines Tages genauso."

Alle Trauergäste waren zu einem kleinen Imbiss im Restaurant auf der anderen Straßenseite eingeladen. Einige der Verwandten und sonstigen Gäste verabschiedeten sich aber vorher eilig mit dem Hinweis auf andere Verpflichtungen.

Im Restaurant war Hans überrascht über die Fröhlichkeit und die gute Laune unter den verbliebenen Gästen. Viele hatten einander seit Jahren nicht gesehen und tauschten Neues, Altes und Belangloses aus. Über seine Mutter wurde zu seinem Erstaunen eigentlich überhaupt nicht gesprochen.

Ein älterer Herr verabschiedete sich von Hans mit den Worten: "Mein Name ist Kurt Maier. Ich bin ein Nachbar ihrer Mutter gewesen. Durch ihre besondere Art war sie so etwas wie die gute Seele unseres Hauses. Wir werden sie alle sehr vermissen. Wie Sie wahrscheinlich wissen, war sie auf ihre 'letzte Reise' gut vorbereitet."

Diese Aussage traf Hans wie ein Schlag. Seine Mutter hatte in den letzten Jahren immer wieder das Thema des Sterbens angesprochen, aber er war ihr jedesmal ausgewichen. Er hatte immer ein wenig unbeholfen geantwortet: "Mutter, du mit deiner Gesundheit wirst uns alle überleben." Im Nachhinein wusste er selber nicht, warum er unfähig gewesen war, mit ihr offen darüber zu sprechen.

1.1.3 Die Heimfahrt
Auf der Heimfahrt war jeder in seine Gedanken versunken. Plötzlich sagte Lisa: "Wo ist die Oma jetzt? Was macht sie wohl gerade?"

Vera sagte spontan: "Lisa, die Oma liegt auf dem Friedhof und muss sich der Läuterung im Fegefeuer unterwerfen. Aber sie wird am Jüngsten Tag - wie wir alle - wieder lebendig auferstehen."

Hans erwiderte: "Vera, die Oma war evangelisch. Daher ruht sie ohne ein Fegefeuer bis zum Jüngsten Tag. Dann wird sie auferweckt und anschließend ewig leben. Erzähl dem Kind bitte keinen Unsinn!"

Dirk konnte es nicht lassen und sagte selbstbewusst: "Die Oma ist jetzt schon im Jenseits, ruht sich aus und wird sich irgendwann auf ihre nächste Inkarnation auf der Erde vorbereiten. Vielleicht lässt sie sich als Tochter oder Sohn von Lisa in einigen Jahren inkarnieren. Wer weiß? Außerdem glaube ich, dass sie bei der Beerdigung anwesend war und zugeschaut hat, wie alles so ablief."

Hans und Vera waren beide entsetzt über Dirks Aussage. Sie wollten spontan verbieten, dass er sich mit solchen unchristlichen Themen beschäftigte. Vera sagte: "Dirk, du bist katholisch. Und denk bitte daran, was du bei deiner Firmung versprochen hast."

Lisa wurde das alles langsam zuviel und sie sagte nur: "Ihr könnt behaupten, was ihr wollt. Ich glaube und ich fühle, dass die Oma jetzt bei den Engeln im Himmel ist und sich ausruht. Der Pastor sagte ja auch in seiner Predigt, dass die Seele von Oma jetzt bei Gott im Himmel ist. Und der Pastor wird es wohl wissen, oder?

Außerdem hat er gesagt, dass es der Oma beim himmlischen Vater sehr gut gehe und sie keinen Schmerz mehr leide, keine Tränen, dass es nur Freude und Zufriedenheit zusammen mit Gott gebe. Und so lieb, wie die Oma immer war, wird sie bald selber ein Engel sein und mit dem Opa im Himmel zusammenleben."

Hans war verwirrt und verwundert über die Aussagen seiner Familie. Aber was ihn noch mehr beunruhigte, war seine Unfähigkeit, die klare und einfache Frage von Lisa zu beantworten. Um Zeit zu gewinnen, sagte er einfach, dass man die Frage in den nächsten Tagen zu Hause ja in Ruhe diskutieren könne.

 

1.1.4 Die Hinterlassenschaft
Zwei Tage nach der Beerdigung traf sich Hans mit seiner Schwester in der Wohnung der Mutter, um die Hinterlassenschaft aufzuteilen. Beide wollten sie die Wohnung so schnell wie möglich verkaufen. Es gab kein Testament, dafür aber jeweils einen Briefumschlag für ihn und seine Schwester.

Hans öffnete seinen Umschlag, fand darin ein Sparbuch der Mutter und einen Brief, der vor vier Wochen geschrieben worden war. Er fing sofort an zu lesen.

Lieber Hans, ich weiß, dass ich nicht mehr lange leben werde. Was mir seit der Krankheit Kraft zum Leben gegeben hat, war nicht die Hoffnung gesund zu werden, sondern mein Glaube und das Wissen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Daher habe ich keine Angst vor dem Sterben. In den letzten Jahren habe ich einiges darüber gelesen und auch mit Herrn Maier in der Wohnung gegenüber diskutiert.

Oft hatte ich gehofft, mit Dir über den Sinn des Lebens und das Sterben sprechen zu können, aber Du warst dafür nicht zugänglich. Ich habe Dich, Vera und die Kinder über alles geliebt und wünsche mir jetzt, dass Ihr Euch etwas Zeit nehmt, um über den Sinn des Lebens nachzudenken. Vor lauter Arbeit und Tagesproblemen kamt Ihr bisher nicht dazu, über wirklich Wichtiges im Leben nachzudenken. Das ist zumindest mein Eindruck gewesen.

Ich habe daher einen dringenden Wunsch an Euch. Er liegt mit sehr am Herzen und ich meine diese Bitte sehr ernst und sie ist gut gemeint: Kauft Euch von meinem Sparbuchgeld einige Bücher über die spirituelle Seite des Lebens und arbeitet sie gemeinsam durch. Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als Du Dir vorstellen kannst. Wir Menschen sind nicht zufällig hier und jeder Mensch hat eine Aufgabe zu erfüllen. Es gibt viele Bücher mit Botschaften und Offenbarungen von "Drüben", die das alles beschreiben. Ihr könnt sogar herausfinden, wo ich jetzt hingehen werde und wie es dort ist.

Lebe wohl, mein Sohn, und sei ein Vorbild für Deine Familie.
 
In Liebe, Deine Mutter

PS. Lies bitte auch die Kopie auf der Rückseite.

Auf der Rückseite des Briefes war der folgende Text eingeklebt:

Wenn wir Menschen eine Reise in ein unbekanntes Land planen, werden wir sicher Erkundigungen bis in die kleinsten Details einholen, um zu einer guten Übersicht über die Beschaffenheit dieses Landes zu gelangen. Wir werden alles daransetzen, uns dann so auszustatten, daß wir dort in keiner Weise Schaden nehmen, sondern unseren Aufenthalt so angenehm wie möglich gestalten.

Genauso sollte es für die Reise geschehen, die jedem von uns, früher oder später, gewiß ist und die in unsere Geistige Heimat führt, wo wir lange Zeit, ja eine Ewigkeit verbringen werden. Für diese Reise lohnt es sich wie für keine andere, Erkundigungen einzuholen und Vorbereitungen zu treffen, um sich in diesem noch unbekannten Land ein angenehmes und glückliches Leben zu sichern! (1)

Beim Aufräumen fanden Hans und Inge Spendenquittungen einiger wohltätiger Institutionen. Seine Mutter hatte immer mit sehr wenig Geld auskommen müssen, aber Hans konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals über irgendetwas geklagt hätte. Er musste feststellen, dass er viele Seiten seiner Mutter nicht gekannt hatte und dass die Ursache wohl bei ihm lag.

    (1) Siehe Emanuel(Kontr.) 4, Seite 9, aufgeführt im Quellenverzeichnis am Ende des Buches

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rodiehr Oktober 2005


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